Persönlicher Nachruf von Martin Theben zum Tod von Martin Marquard | kobinet-nachrichten
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Persönlicher Nachruf von Martin Theben zum Tod von Martin Marquard

Bild von Martin Marquard
Bild von Martin Marquard
Foto: AmŽlie Losier - www.amelielosier.com

Berlin (kobinet) Heute wird der am 14. März 2024 gestorbene Martin Marquard auf dem St. Matthäus-Kirchof in Berlin beigesetzt. Der Aktivist, langjährige Landesbehindertenbeauftragte von Berlin und liebenswerte Mensch hat viele Spuren hinterlassen und viele Menschen bewegt. So auch Dr. Martin Theben, der den kobinet-nachrichten folgenden Beitrag zur heutigen Beisetzung von Martin Marquard zugesandt hat und ihm einfach DANKE sagt.

Persönlicher Nachruf von Martin Theben auf Martin Marquard

Zu Beginn des Jahres 1987 erhielten die Nutzer des Sonderfahrdienst Telebus im damaligen Westberlin die Mitteilung, ihr Fahrtenkontingent würde ab dem 1. Februar von 50 auf monatlich 24 Fahrten reduziert werden; das bedeutete faktisch: Während der 750 Jahrfeiern Berlins hatten die Nutzer Gelegenheit, 12 Hin- und Rück-Fahrten durchführen zu können. Die Nachricht, die so viel politische Sprengkraft in sich barg, kam relativ unspektakulär daher. Zunächst führte das zweiseitige Telebus-Telegramm vom Januar 1987 aus, der Telebus sei „für viele Mitbürger unserer Stadt zu einer unverzichtbaren Einrichtung geworden“. 7.700 Nutzer, das dreifache gegenüber 1982, könnten den Fahrdienst nutzen. Das Fahrtenaufkommen habe sich 1986 innerhalb der letzten vier Jahre verdoppelt. Das Abgeordnetenhaus habe zudem für das Jahr 1987 zusätzlich 1 Million DM bewilligt. All dies, so heißt es dann weiter im Telebus-Telegramm, erfordere „sinnvolle, vom Senat zustimmend zur Kenntnis genommene Korrekturen, über die wir Sie umfassend informieren wollen, auch wenn Sie von ihnen nicht betroffen sein sollten.“

Schließlich folgte dann der Hauptanlass für die folgenden Proteste: „Die bisherigen Erfahrungen lassen es sinnvoll erscheinen, das monatliche Kontingent auf 24 Fahrten für jeden Telebusberechtigten festzulegen.“ Darüber hinausgehende Fahrten mussten beim zuständigen Landesamt für Soziales in Form einer Ausnahmeregelung beantragt und genehmigt werden; von dieser Kürzung des Fahrtenkontingents seien 5 % der Nutzer betroffen. Letztendlich kündigte dieses Telebus-Telegramm die Verschärfung der Berechtigungskriterien, die Reduzierung des Nutzerkreises mit Verweis auf den zum damaligen Zeitpunkt nicht behindertengerechten Personennahverkehr und die Kürzung des ursprünglichen Fahrten-Kontingents um mehr als die Hälfte an.

Als Reaktion auf diese Ankündigung erschien auch ein offener Brief der Rheuma-Börse e.V. an den Regierenden Bürgermeister von West-Berlin Eberhard Diepgen (CDU) und formulierte deutliche Kritik an den Aussagen des Telebus-Telegramms vom Januar. Bei der Aussage dort, nur 5 % der 7.700 Berechtigten seien von den Kürzungen betroffen, handle es sich um einen üblen statistischen Trick: „Tatsache ist, dass ca. 350 Behinderte bislang den Telebus bis zu 50 mal im Monat benutzt und dass weitere einige Hundert den Telebus bis zu etwa 25 mal im Monat beansprucht haben und damit die Fahrkapazität des Fahrdienstes bereits erschöpft ist. Das heißt aber, dass ca. 7000 Berechtigte den Telebus so gut wie überhaupt nicht nutzen.“ Demnach seien dann tatsächlich nicht 5 %, sondern 50 % der Nutzer von den Kürzungen betroffen. Unterschrieben war der Brief von Martin Marquard. Es handelte sich hier um eine seiner ersten ausführlichen, öffentlichen behindertenpolitischen Stellungnahmen.

Als es am 3. Dezember 1998 im Abgeordnetenhaus zu tumultartigen Szenen rund um die Anhörung im Ausschuss für Gesundheit und Soziales zum Landesgleichberechtigungsgesetz kam, weil Rollstuhlnutzer*innen aus baupolizeilichen Gründen der Zutritt verwehrt worden war, bezog auch Martin Marquard zu diesen ungeheuerlichen Vorgängen deutlich Stellung:

Martin Marquard, der damals für den Berliner Behindertenverband zu den Sachverständigen gehörte, und zwei Jahre später zum 1. Landesbehindertenbeauftragten nach dem Landesgleichberechtigungsgesetz berufen werden würde, erklärte nach dem Wortprotokoll von damals: „Ich kann nicht so ganz ohne Weiteres jetzt zur Tagesordnung übergehen. Ich muss einfach einmal die Frage stellen: Was denken Sie eigentlich wo unsere Schmerzgrenze liegt? Bei den Rangeleien unten am Eingang, die nicht wir zu vertreten haben, sondern die eine wirklich überzogene Hausaufsicht und ein Sicherheitsdienst dort herbeigeführt haben, ist ein Kollege von uns im Rollstuhl verhaftet und mit zur Wache genommen worden. Ich finde, dass ist ein unglaublicher Vorgang und ich möchte Frau Senatorin Hübner auffordern, sich umgehend zu kümmern, dass er wieder frei kommt. Wir sind dort unten in einer Atmosphäre empfangen worden, die an Kriminalisierung grenzt und das steht zu dem Anlass aus dem wir uns heute hier getroffen haben, in diametralen Gegensatz.“

Diese Beispiele sagen viel aus über die Aktivitäten und den Charakter Martin Marquards. An den bedeutenden behindertenpolitischen Ereignissen war er unmittelbar beteiligt. Er war Gründungsmitglied des Spontanzusammenschluss Mobilität für Behinderte, der sich noch im Januar 1987 aus Anlass der Kürzungen beim Telebus – eben spontan – gründete und in den folgenden Jahrzehnten zur bedeutenden behindertenpolitischen Kraft wurde.

Auch war er aktiv an der Entstehung des damals ersten bundesweiten Gesetzes beteiligt, welches die Rechte von Menschen mit Behinderungen stärken und ihre Benachteiligung verhindern sollte. Das Berliner Landesgleichberechtigungsgesetz erfüllte diese Aufgabe damals zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung am 29. April 1999 mehr schlecht als recht. Aber es brachte Martin Marquand in die Position des Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung – auf gesetzlicher Grundlage mit klarer Aufgabenzuschreibung. Er übte dieses Amt 10 Jahre aus.

Zwischenzeitlich gehörte er dem Vorstand des Berliner Behindertenverbandes an, der sich kurz nach der Wende gegründet hatte, und nahm einen Lehrauftrag an der Alice-Salomon Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik wahr.

In all diesen Ämtern und Funktion blieb er seinem Wesen immer treu: Verbindlich im Ton, aber hart in der Sache. Prinzipientreu, aber nicht dogmatisch. Kompromissbereit, aber nie beliebig. So lernte auch ich ihn kennen, als ich ihn 1988 bei den „Spontis“ traf, zum Teil verunsichert von der dortigen basisdemokratischen, deshalb aber oft auch lauten und zum Teil chaotischen Diskussionskultur. Hier war er dann der ruhende, zusammenführende und ausgleichende Pol.

Im Laufe der Jahre wurde er mir immer ein hoch geschätzter Wegbegleiter im gemeinsamen behindertenpolitischen Kampf. Besonders dankbar war ich ihm für seine tatkräftige Unterstützung meines Vorhabens, die Geschichte der (Berliner) Behindertenpolitik und ihrer Protagonist*innen chronologisch zu Papier zu bringen. Er versorgte mich nicht nur mit wichtigen Dokumenten, darunter dem eingangs zitierten Telebus-Telegramms vom Januar 1987, den Brief der Rheuma-Börse e.V. oder Info-Briefen der Spontis. Mit „strengem“ Blick, ganz der Lehrer der er ja von Hause aus war, redigierte er so manchen meiner Texte. Viele dieser Artikel sind bei den kobinet-nachrichten erschienen, was ohne seine Unterstützung so nicht möglich gewesen wäre.

Ich kann heute an der Trauerfeier nicht teilnehmen, da ich, ganz deinem Vorbild entsprechend, heute Studierende der Humboldt-Universität zu Berlin unterrichten darf. Ihnen werde ich von dir und unserem gemeinsamen Ringen für Gleichstellung und Teilhabe berichten. Auf diesem Wege sage ich Dir : DANKE FÜR ALLES!

Martin Theben

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Reinald Purmann
26.04.2024 20:14

Herzlichen Dank an Herrn Dr. Theben für sein kenntnisreiches und empathisches Memento für eine Persönlichkeit, die sich um Berlin und unser Gemeinwesen verdient gemacht hat !
Viele Menschen nahmen heute Abschied und zollten ihm Respekt, eine Würdigung der Verantwortlichen aus der Sozialverwaltung, in der er zehn Jahre wirkte, war nicht dabei.