»Die verlorene Ehre der Katharina Blum« (1974)

Rezension

Zum 90. Geburtstag Heinrich Bölls wurden einige seiner Werke noch einmal genau analysiert und kontextualisiert. "Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Oder: wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann" thematisiert die Macht der Informationen und deren Missbrauch durch die Mediensprache.

Cover von 1974: "Die verlorene Ehre der Katharina Blum"

1974 erschien Heinrich Bölls wohl bekannteste Erzählung: Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Oder: wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann – eine Abrechnung mit der Informationspraxis der Springer-Presse, darüber hinaus aber auch ein Text über die Macht der Information und die durch den Missbrauch der Mediensprache entstehende Gewalt. »Wohin sie führen kann« zeigt sich, als Katharina am Schluss den tödlichen Schuss auf den Journalisten Tötges abgibt.

Dass Böll mit der Erzählung insbesondere auf die Springer-Presse abzielte, markierte bereits der Vorspruch: »Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit der ›Bild‹-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.« Die Erzählung ist somit ein zeitgeschichtliches Stück der Auseinandersetzung mit der beispielgebenden journalistischen Praxis der Bild-Zeitung und setzt die Kritik fort, die spätestens mit der ›68er-Bewegung‹ gegen das einflussreichste Massenblatt der Bundesrepublik und seinen Verleger ins Feld geführt wurde. Hinzu kommen noch andere Ereignisse, die Böll zur Abfassung des literarischen Streitstücks provozierten – Vorkommnisse, die den Entstehungsanlass des Textes in einen unmittelbar biographischen Kontext versetzen. Zu diesen Ereignissen zählen Vorgänge im Zusammenhang mit den Terrorismusfahndungen Mitte der 1970er Jahre, in die Bölls Sohn Raimund und dessen Frau Lila involviert waren. Am 8. Januar 1974 besuchte die im Zusammenhang mit terroristischen Gewalttaten gesuchte Margit Schiller – zu diesem Zeitpunkt schon unter Beobachtung der Polizei –die beiden in ihrer Kölner Wohnung, um sie als mögliche Unterstützer für die RAF zu gewinnen. Raimund und Lila lehnten dies jedoch entschieden ab. Als am 4. Februar 1974 in Hamburg eine sogenannte »konspirative« Wohnung entdeckt und bei deren Durchsuchung neben Waffen zahlreiche Ausweispapiere gefunden wurden, unter denen sich auch der Wehrpass von Raimund Böll und abgelaufene Pässe seiner Frau Lila befanden, war die nächste Stufe erreicht.

Am 7. Februar 1974 erschien in der zum Springer-Konzern gehörenden BZ (Berliner Zeitung) unter dem Titel »Haussuchung beim Sohn des Nobelpreisträgers Heinrich Böll« ein Artikel, in dem es u.a. hieß, dass »unter größter Geheimhaltung […] Beamte des Staatsschutzes gestern vormittag in die Wohnung des 26-jährigen Raimund Böll in der Bonner Straße in Köln« eingedrungen seien und eine Durchsuchung der Räume vorgenommen hätten. Tatsache jedoch war, dass bei Erscheinen der Zeitung die Hausdurchsuchung bei Bölls Sohn und Schwiegertochter noch gar nicht stattgefunden hatte, sondern erst am Nachmittag des 7. Februar erfolgte, also Stunden nach Erscheinen des Blattes. Über diese Hausdurchsuchung berichtete Böll später seinem Rechtsanwalt:

»Ein ›Ereignis‹ [...] möchte ich erwähnen, um die Stimmung und auch die Stimmungsmache [...] zu beleuchten. In einer Hamburger konspirativen Wohnung waren Ausweispapiere meines Sohnes und meiner damaligen Schwiegertochter gefunden worden, und es war ohne Zweifel durchaus gerechtfertigt, dass dieser Fakt (es handelte sich um insgesamt 150 Pässe, Ausweise etc.) aufgeklärt werden musste. ›Wie‹ er aufgeklärt wurde? Mein Sohn und meine Schwiegertochter, die ahnungslos nach einem längeren Irlandaufenthalt zurückgekommen waren, erfuhren es – wie wir – durch eine mit riesigen Schlagzeilen auf dem Titelblatt (das gesamte Titelblatt war damit ausgefüllt) aus einer Berliner Springerzeitung, die eine Haussuchung bei meinem Sohn ankündigte, ›bevor‹ diese stattgefunden hatte; es gab ein erregtes Hin- und Hertelefonieren zwischen unserem Sohn und uns, Berliner Bekannten, die uns auf diese Schlagzeilen aufmerksam machten – natürlich erfuhr die Kölner Presse davon, und so kam es zu einem lebensgefährlichen Auflauf an einer der verkehrsreichsten Straßen Kölns, als die Polizei mit Hunden, Scharfschützen etc. ›wirklich‹ – etwa 7–8 Stunden nach der in Berlin als bereits erfolgt gemeldeten Haussuchung eintraf. Ich erspare Ihnen Details über unsere Stimmung, unsere Schwierigkeiten, möchte nur darauf hinweisen, daß das notwendige Ermittlungsverfahren gegen meinen Sohn und meine Schwiegertochter, die ihren Hausschlüssel monatelang nur vage bekannten Freunden überlassen hatten, kurz darauf eingestellt wurde [...], und daß es eine Zusammenarbeit von Springer-Presse und Polizei, was meine Familie betraf, mindestens in diesem Fall ›nachweislich‹ gegeben hatte.«

Aufgeklärt wurden die Umstände des Informationsflusses zwischen Polizei und Springer-Presse nie. Die Kampagne wurde jedoch fortgesetzt. So veröffentlichte die Bild-Zeitung am 12. Februar 1974 unter der Überschrift »Böll Junior läßt in Köln Puppen köpfen« einen Artikel, in dem Raimund Böll, der als Bildhauer in Köln lebte, diffamierend als »brotloser« Künstler dargestellt wurde, der Maschinen baue, »in denen Menschen geköpft und erschlagen« würden – eine weitere die Gewaltbereitschaft »dokumentierende« Geschichte über die Familie Böll also. Die Fortsetzung wurde dann jedoch durch ein Ereignis in Moskau gestoppt, das weltweit Empörung hervorrief und ebenfalls die Schlagzeilen der Springerpresse beherrschte: Die Verhaftung des Schriftstellers und Regimekritikers Alexander Solschenizyn am 12. Februar 1974. Bereits am Tag darauf, dem 13. Februar 1974, wurde Solschenizyn ausgebürgert. Da er den Wunsch geäußert hatte, zunächst Heinrich Böll besuchen zu wollen, wurde Solschenizyn in die Bundesrepublik ausgeflogen und war zwei Tage Gast in Heinrich Bölls Landhaus in Langenbroich vor seiner Weiterfahrt nach Zürich.

Noch unter dem Eindruck der auf Raimund Böll konzentrierten Presse-Kampagne nahm Böll unmittelbar nach der Abreise Solschenizyns die Arbeit an der Geschichte einer "unbedeutenden Hausgehilfin, ›Katharina Blum", auf.
Die siebenundzwanzigjährige Katharina Blum lernt am 20. Februar 1974, am Vorabend von Weiberfastnacht, auf einer Party einen jungen Mann kennen: Ludwig Götten, einen Bundeswehrdeserteur, der den Regimentssafe ausgeraubt hat und zu diesem Zeitpunkt schon von der Polizei observiert wird. Er wird verdächtigt, einen Mord und einen Bankraub begangen zu haben, wurde aber noch nicht verhaftet, da die Polizei vermutet, dass er mit Anarchisten in Verbindung steht – Verdächtigungen, die sich im Verlaufe der Erzählung als unbegründet erweisen. Katharina und Ludwig verlieben sich spontan ineinander und verbringen die Nacht in Katharinas Wohnung, die am nächsten Morgen von der Polizei gestürmt wird. Ludwig hat sich aber längst unbemerkt mit der Hilfe Katharinas durch das Belüftungssystem des Gebäudes entfernt und versteckt sich in einem abgelegen Haus. Katharina wird zum Verhör abgeführt und gerät von da an in die Schlagzeilen der ZEITUNG und der SONNTAGSZEITUNG, die sich des Falles »annehmen«.

Die Kampagne der ZEITUNG gegen Katharina erreicht ihren Höhepunkt, als ihre Mutter, die nach einer Operation auf der Intensivstation eines Krankenhauses liegt, stirbt. Von der ZEITUNG wird die Schuld daran Katharina »zugeschrieben«, weil die Kranke angeblich »den Schock über die Aktivitäten der Tochter nicht überlebte«. Da einer der Reporter, Werner Tötges, behauptet, bei Katharinas Mutter gewesen zu sein und Katharina diesen Besuch als Ursache für den Tod ansieht, bestellt sie Tötges zu einem Exklusiv-Interview zu sich und erschießt ihn – und stellt so, für sich, ihre Ehre wieder her.

Da Heinrich Böll seiner Erzählung den oben zitierten Vorspruch gab, spielt die ›Vorgeschichte‹ für die Kritiker, die sich – je nach politischer Couleur – fasziniert zustimmend bis schroff ablehnend äußerten, eine entscheidende Rolle: Grundsätzlich vermutet wurde, Böll habe sich an Springer wegen der 1972er Kampagne, d.h. nach der Pressehetze gegen Böll infolge seines Spiegel-Artikels »Soviel Liebe auf einmal. Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit?« ›rächen‹ wollen.

Am 8. August 1974 schrieb Böll an den Herausgeber des Spiegel, Rudolf Augstein, als Reaktion auf Leserbriefe, die im Hamburger Magazin abgedruckt worden waren: »›Rache‹ ist bei ›Katharina B.‹ nach meiner bescheidenen und möglicherweise falschen Schätzung nur zu 5-6% im Spiel, und diese Rache beruht wiederum nicht auf ›Kränkungen‹ meiner Person, sondern auf Einbeziehung meiner Familie bzw. deren Benutzung als Vehikel gegen mich. […] In ›Bild‹ vom 12.2.74 stand ein hundsgemeiner Artikel über die Kinder – als Schlußsatz, daß Raimunds Wohnung nur 600 Meter Luftli-nie vom BDI-Gebäude entfernt liegt (in dem eine Bombe hochging). Diese Zeile erforderte Rache!«

Böll hat die Interpretation der Katharina Blum als »Terroristen«-Erzählung zurückgewiesen. In der Tat steht die Auseinandersetzung mit den manipulativen Techniken der Information, vor allem aber Reflexionen darüber, was Böll die »Moral der Sprache« nannte, im Vordergrund. Und mit der »Moral der Sprache« war nicht nur der Ausdrucks- und damit Auskunftswert öffentlicher Verlautbarungen gemeint, ihre Instrumentalisierung, sondern ihre Differenzierungsqualität für die im Sprechen aufeinander bezogenen Individuen. Pointiert wird dies in einer dem Verhör Katharina Blums gewidmeten Textpassage zum Ausdruck gebracht. »Es kam zu regelrechten Definitionskontroversen zwischen ihr und den Staatsanwälten, ihr und Beizmenne, weil Katharina behauptete, Zärtlichkeit sei eben eine beiderseitige und Zudringlichkeit eine einseitige Handlung, und um letztere habe es sich immer gehandelt. Als die Herren fanden, das sei doch alles nicht so wichtig und sie sei schuld, wenn die Vernehmung länger dauere, als üblich sei, sagte sie, sie würde kein Protokoll unterschreiben, in dem statt Zudringlichkeiten Zärtlichkeiten stehe. Der Unterschied sei für sie von entscheidender Bedeutung […]. Ähnliche Kontroversen hatte es um das ›gütig‹, auf das Ehepaar Blorna angewandt, gegeben. Im Protokoll stand ›nett zu mir‹, die Blum bestand auf dem Wort gütig, und als ihr statt dessen gar das Wort gutmütig vorgeschlagen wurde, weil gütig so altmodisch klinge, war sie empört und behauptete, Nettigkeit und Gutmütigkeit hätten mit Güte nichts zu tun […].«

Böll erkannte in der Sprache nicht lediglich das Mittel, über individuelle Differenzen hinweg das Verstehen einer für alle gleiche Bedeutung zu gewährleisten. Böll setzte auf die Feinheit des Verstehens. Der Prozess sprachlicher Differenzierung galt ihm als Notwendigkeit humaner Selbstfindung wie als Moment gegenseitiger Anerkennung. Denn, so Böll in seinen Frankfurter Vorlesungen zum Verhältnis von Sprache und Individuum: »Ich gehe von der Voraussetzung aus, daß Sprache […] den Menschen zum Menschen mach[t], daß sie den Menschen zu sich selbst […] in Beziehung setz(t).«