Vor 20 Jahren kam der kontrovers diskutierte Film in die deutschen Kinos

Experte: "Passion Christi" theologisch einseitig und rückwärtsgewandt

Veröffentlicht am 18.03.2024 um 00:01 Uhr – Von Matthias Altmann – Lesedauer: 

Bonn ‐ Er ist der erfolgreichste religiöse Film aller Zeiten – und einer der umstrittensten: "Die Passion Christi" kam am 18. März 2004 in die deutschen Kinos. 20 Jahre später wirft der Theologe und Filmexperte Martin Ostermann im katholisch.de-Interview einen erneuten Blick auf den Film und seine Folgen.

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Der Hype war groß, ebenso die Diskussionen: Am 18. März 2004 kam "Die Passion Christi" wenige Wochen nach US-Start auch in Deutschland in die Kinos. Der von Hollywood-Star Mel Gibson produzierte Film handelt von der Verhaftung, Verurteilung und Kreuzigung Jesu und stieß auf – gelinde gesagt – gemischte Reaktionen bei Kritikern und Öffentlichkeit. Im Zentrum der Debatte standen von Anfang an die expliziten Gewaltdarstellungen und der Vorwurf des Antisemitismus an die Macher. Der Theologe und Filmexperte Martin Ostermann hat sich schon bei seinem Erscheinen intensiv mit dem Film auseinandergesetzt. Im Interview blickt er nach 20 Jahren erneut darauf und erklärt, warum er ihn weder von der Machart her noch theologisch gut findet. Dennoch hatte der Film laut Ostermann entscheidende Auswirkungen auf die Branche.

Frage: Herr Ostermann, der Film "Die Passion Christi" erhitzte bei seiner Veröffentlichung die Gemüter – und tut das bis heute. Kann man von einem Skandalfilm sprechen?

Ostermann: Ich finde es immer schwierig, den Film selbst mit diesem Etikett zu belegen. Aber er hat schon einen gewissen Skandal ausgelöst. Die Gegensätzlichkeit der Beurteilungen war riesengroß: Es gab diejenigen, die ihn für ein unglaublich innovatives und tolles Werk hielten, was die christliche Botschaft neu erschließe. Und es gab eben diejenigen, die sagten: Er ist nicht nur antisemitisch und gewaltverherrlichend, sondern überhaupt ein schlechter Film.

Frage: Auf welcher Seite stehen Sie in diesem Spektrum?

Ostermann: Als Film mag ich ihn nicht besonders, ich halte ihn auch nicht für besonders gut. Er ist handwerklich zwar gut gemacht, dramaturgisch hat er aber Schwächen, und auch die Bildsetzung ist eher langweilig. Auch theologisch bin ich mit dem Film unzufrieden. Aber als Medienpädagoge bin ich sehr dankbar für diesen Film.

Frage: Inwiefern?

Ostermann: Er funktioniert bis heute unglaublich gut. Er reizt oder nötigt sogar die Leute dazu, Stellung zu beziehen, weil er ganz radikal ist. Das ist einer seiner Vorteile: Man kann den Film nicht sehen, ohne eine Haltung dazu zu entwickeln. Ich habe damals bei seiner Veröffentlichung relativ viele Veranstaltungen als Referent moderiert und muss sagen: Seither habe ich selten so hochtheologisch mit Menschen im Kino diskutiert wie damals.

Martin Ostermann
Bild: ©Tobias Hase

Martin Ostermann ist Theologie, Medienpädagoge und Filmdozent. Er ist Mitglied der Katholischen Filmkommission für Deutschland.

Frage: Sie haben bereits ein paar Aspekte genannt. Beginnen wir bei der Gewalt, die der Film zeigt. Die Macher um Mel Gibson hatten den Anspruch, eine besonders getreue Darstellung des Passionsgeschehens zu vermitteln. Wurde das in irgendeiner Form eingelöst?

Ostermann: Theologisch gesehen schrillen alle Alarmglocken, wenn jemand aufgrund von biblischen Aussagen meint, festhalten zu können, dass etwas genau so gewesen ist. Historisch gibt es durchaus Fakten, über die wir sprechen können, aber alles andere ist Ausgestaltung. Mel Gibson hat seinen eigenen Anspruch – oder eher das, was immer an den Film herangetragen wurde – nie in Reinform umgesetzt. Der Film ist eindeutig überhöht. Die Bilder orientieren sich an den Malereien von Caravaggio, die Szenen an der christlichen Kreuzweg-Tradition – Stichwort Schweißtuch der Veronika. Dazu wurden ins Drehbuch ganz offensichtlich die Visionen der Anna Katharina Emmerick eingearbeitet, die in einer gewissen mystischen Tradition stehen. Mit dem Film sind ganz klare theologische Deutungsmuster verbunden.

Frage: Warum mögen Sie den Film von seiner Machart her nicht besonders?

Ostermann: Er verwendet zu viel Zeitlupe. Ein gutes Beispiel sind die Szenen, in denen Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung unter dem Kreuz zusammenbricht. Deswegen hat der Journalist Andreas Kilb seine Filmkritik damals mit "Stirb langsam" überschrieben. Aber das Entscheidende ist: Er ist den Klischees des Horrorfilms verhaftet. Wenn man einen Drehbuch-Workshop gemacht hat, findet man alle Marksteine in dem Film wieder: zum Beispiel der Held, der immer weiter drangsaliert wird, oder die Satansgestalt als Antagonist.

Frage: Was ist mit der Theologie, die der Film transportiert? Manche Kritiker gehen sogar so weit zu sagen, in dem Film spiele Theologie kaum eine Rolle.

Ostermann: Damit würde man dem Film doch Unrecht tun. Er beginnt bereits mit einem Zitat aus dem Buch Jesaja. aus den Gottesknechts-Liedern: "Für unsere Sünden ist er durchbohrt worden" (Jes 53,5). Es ist ganz klar, dass die Opfer-Sühnetheologie die Hauptlinie der Handlung ist. Jesus hat sich hingegeben beziehungsweise ist hingegeben worden für die Sünden der Menschen: Darin steckt viel von Anselm von Canterburys Theologie, und sogar noch stärker Martin Luthers Gedanke vom stellvertretenden Strafleiden. Das hängt stark mit der persönlichen Sichtweise von Mel Gibson zusammen, der aus einer fast schon fundamentalistisch-katholischen Ecke kommt, wo das Thema der Erlösung durch Leiden und die Sündhaftigkeit des Menschen eine besondere Rolle spielen. Mit der filmischen Darstellung sollte gezeigt werden, dass die sündhaften Menschen nur deswegen auf Erlösung hoffen können, weil der Mensch gewordene Gott eben dieses Leiden und diese Tortur auf sich genommen hat. Ob das gut ist oder nicht, ist eine andere Frage.

„Wenn man sich eindeutig auf eine Position bezieht, ist es schon fast nah dran, falsch zu sein. Die alte Opfertheologie wird völlig überhöht und mit den Darstellungsmitteln der Gewalt schon fast ad absurdum geführt.“

—  Zitat: Martin Ostermann zur Theologie in "Die Passion Christi"

Frage: Was kritisieren Sie konkret an der theologischen Botschaft des Films?

Ostermann: Sie ist sehr einseitig. Die Deutungsmodelle, die ich gerade genannt habe, sind historisch zwar von großer Bedeutung. Aber "Die Passion Christi" setzt sich überhaupt nicht mit der solidarischen Stellvertretung auseinander, wie sie heute in der Christologie thematisiert wird. Der Film ist sehr stark vergangenen theologischen Mustern verhaftet. Er ist eigentlich nie im 20. Jahrhundert angekommen, geschweige denn im 21. Jahrhundert. Wenn man sich eindeutig auf eine Position bezieht, ist es schon fast nah dran, falsch zu sein. Die alte Opfertheologie wird völlig überhöht und mit den Darstellungsmitteln der Gewalt schon fast ad absurdum geführt. Ein Beispiel ist die Geißelungs-Szene, die in den Evangelien nur kurz erwähnt wird: Die Gewalt wird bis zum Exzess gesteigert. Ich denke, das wird den Menschen und der Theologie heute definitiv nicht gerecht.

Frage: Gibt es denn Passionsfilme, die diese Thematik besser darstellen?

Ostermann: Mel Gibson ist ja auch nicht ohne Vorbilder ausgekommen. Er orientiert sich unter anderem an der Verfilmung des Matthäus-Evangeliums von Pier Paolo Pasolini aus dem Jahr 1964 und inszeniert seinen Film am gleichen Ort in Italien. Pasolini stellt Jesus dabei besonders als Sozialrevolutionär dar und gibt der Passionsgeschichte einen starken politischen Einschlag. Das wird seiner Zeit und ihren Menschen, die versuchen, die Botschaft Jesu zu verstehen, eher gerecht als die völlig rückwärtsgewandte Weise der "Passion Christi". Wenn ich als Mensch des 21. Jahrhunderts diesen Film sehe, habe das Gefühl, dass ich in einer Zeitschleife gefangen bin. Pasolinis Film ist jetzt 60 Jahre alt – und ich kann ihn mit dem Wissen über die Situation von 1964 immer noch schauen.

Frage: "Die Passion Christi" begleitet seit Beginn ein starker Antisemitismus-Verdacht. Muss man dieses Thema mit Blick auf den wachsenden Antisemitismus in der Gesellschaft nochmal neu oder anders aufwerfen?

Ostermann: Der Film ist, wie Sie richtigerweise sagen, ein schönes Beispiel dafür, dass die Frage immer schon virulent war. Jetzt ist sie das durch den Gaza-Krieg vielleicht nochmal ganz besonders. Aber es war schon immer die Frage, inwieweit man Aussagen unreflektiert aufnimmt und weiterträgt. Bei "Die Passion Christi" war die Diskussion: Hat Mel Gibson bewusst diese antisemitische Wirkung in Kauf genommen oder war es eine Art "Betriebsunfall"? Hat er zum Beispiel die Aussage "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder (Mt 27,25)" einfach übernommen, weil es so in der Bibel steht? Dann kann man ihm höchstens vorwerfen, das völlig unreflektiert eingeflochten zu haben. Aber da würde ich dagegenhalten: Ein guter Regisseur hat eigentlich jede Sekunde, die im Film ist, irgendwann reflektiert. Es macht einen guten Film aus, dass im Film nichts, aber auch rein gar nichts zufällig ist. Bei so einer großen Produktion, die weltweit vermarktet wird, würde ich erstmal davon ausgehen, dass da gut gearbeitet worden ist. Insofern muss man schon unterstellen, dass er ganz bewusst diese Aussagen in den Film eingearbeitet hat.

Bild: ©picture alliance / AP Photo / Jordan Strauss (Archivbild)

Hat Mel Gibson die antisemitische Wirkung von "Die Passion Christi" bewusst in Kauf genommen? "Es macht einen guten Film aus, dass im Film nichts, aber auch rein gar nichts zufällig ist. Bei so einer großen Produktion, die weltweit vermarktet wird, würde ich erstmal davon ausgehen, dass da gut gearbeitet worden ist", sagt Martin Ostermann.

Frage: Inwiefern wurde der Film in der akademischen Theologie rezipiert?

Ostermann: Nur vereinzelt von Theologen, die sich ohnehin mit dem Thema Film näher beschäftigen. Ich würde eher sagen: In dem großen Hype, als der Film ins Kino kam, wurden Theologinnen und Theologen wieder einmal verstärkt zu Stellungnahmen herausgefordert. Das ist dann aber auch wieder abgeebbt, weil man ihn irgendwann eingeordnet hatte. Am ehesten war er für die Theologie ein Anstoß, nochmal neu über das Thema Erlösung von den Sünden nachzudenken. Das war aber keine unmittelbare Wirkung des Films.

Frage: Auf der anderen Seite steht die kommerzielle Bilanz: "Die Passion Christi" gilt mit einem weltweiten Einspielergebnis von über 600 Millionen Dollar als religiös erfolgreichster Film aller Zeiten. Hatte das Auswirkungen auf die Filmbranche?

Ostermann: Da lässt sich tatsächlich eine spannende Entwicklung feststellen. Mel Gibson musste "Die Passion Christi" selbst und mit eigenem Vermögen produzieren, weil er keine Geldgeber gefunden hat. Der Erfolg hat dann alle Lügen gestraft und die großen Studios haben gesehen, dass man mit dieser Art Film Geld verdienen kann. Es ging also gar nicht so sehr um Inhalte, sondern um das Geschäftsmodell. Daraufhin haben die großen Produktionsfirmen kleine Unterabteilungen gegründet, die nichts anderes machen, als solche religiös konnotierten Filme zu produzieren. So kam in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten das Phänomen der "faith based movies" auf. Diese Filme haben auch fast alle ihren finanziellen Schnitt gemacht. Auch eine Serie wie "The Chosen" kann man in diese Reihe stellen. Sie wäre wahrscheinlich ohne die "Passion Christi" gar nicht möglich gewesen. Das muss man dem Film zugutehalten: Rein ökonomisch hat er einen Bann gebrochen, der nach der Zeit der monumentalen Bibel-Filme in den 1950er und -60er Jahren über diesem Genre gelegen hatte. Plötzlich hat Mel Gibson ein Fanal gesetzt und seitdem gibt es wieder vermehrt diese Art von Filmen. Zu unserer Freude – oder auch nicht.

Frage: Mel Gibson hat schon vor Jahren ein Sequel angekündigt, das die Auferstehung Jesu thematisieren soll. Vergangenes Jahr war zu hören, dass die Dreharbeiten begonnen hätten. Ob der Film tatsächlich jemals erscheint, ist ungewiss. Falls doch: Sehen Sie dem mit Spannung oder eher mit Grauen entgegen?

Ostermann: Theologisch zählt die letzte Szene in der "Passion Christi", in der man den Auferstandenen aus dem Grab laufen sieht, mit zum Schlimmsten, was ich in einem Film jemals gesehen habe. Es ist eine theologische Grundregel, dass der Auferstandene im Grab nicht dargestellt wird, da das direkte Geschehen der Auferstehung letzten Endes ein Glaubensgeheimnis ist, bei dem es gerade darum geht, dass die Botschaft das Wesentliche ist. Das ist eine der filmischen Todsünden von Mel Gibson. Wenn er bei den Erscheinungserzählungen ansetzt, also Jesu Auftreten nach Tod und Auferstehung, und sozusagen die frühen Christen zeigt, hätte ich kein Problem mit dem Film. Wenn er aber genau da weiter macht, wo er den ersten Teil beendet hat, habe ich jetzt schon Bauchschmerzen.

Von Matthias Altmann