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Film Wettbewerbsfilm „Anselm“

Wim Wenders überwältigt Cannes

Filmredakteur
Beherrsche den Raum: „Anselm“ von Wim Wenders Beherrsche den Raum: „Anselm“ von Wim Wenders
Beherrsche den Raum: „Anselm“ von Wim Wenders
Quelle: © Les Films du Losange
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30 Jahre hat es gedauert, bis der Film von Wim Wenders über den Künstler Anselm Kiefer zustande kam. Nun ist „Anselm“ in Cannes endlich zu sehen – und er ist ein Triumph. Das verdankt er auch einem technischen Trick.

Zwei Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam im Luftschutzkeller eines Krankenhauses in Donaueschingen der Sohn des Kunstpädagogen und Wehrmachtsoffiziers Albert Kiefer zur Welt, genannt Anselm. Drei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam in einem Düsseldorfer Krankenhaus der Sohn des Chirurgen Heinrich Wenders zur Welt, genannt Wilhelm.

Mit 20 hätten die beiden sich zum ersten Mal in Freiburg treffen können, als Kiefer dort Jura studierte und Wenders Philosophie. Doch ihre Wege kreuzten sich nicht. Die beiden hätten auch den Philosophen Martin Heidegger in seiner Hütte im nahegelegenen Todtnau besuchen können, wie Hannah Arendt und Paul Celan. Auch dies geschah nicht. Und dann wurden beide unabhängig voneinander berühmt, weltberühmt, Anselm Kiefer als Maler und Bildhauer und Wim Wenders als Filmemacher.

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Es gibt seit den Nullerjahren eine Menge Filme über deutsche Maler, nicht zuletzt, weil diese Malerfürsten in den Auktionshäusern der Welt zu den teuersten Künstlern überhaupt zählen und nicht nur ihre Werke sich international gut verkaufen lassen, sondern auch Dokumentationen über sie. Die Filme heißen dann „Der Maler“ (über Albert Oehlen), „Georg Baselitz – der Film“ oder „Gerhard Richter – Painting“; Richters Leben war auch die Vorlage für den Spielfilm „Werk ohne Autor“.

Tafeln im „Exil“

Die Regel ist, dass ein gestandener Dokumentarist sich an den Künstler wendet und einen Film vorschlägt. Dies war bei „Anselm“ anders. Wenders und Kiefer hatten sich 1991 schließlich doch kennengelernt, im Vorfeld der großen Kiefer-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Die beiden tafelten fast jeden Abend im „Exil“, dem legendären Künstlerlokal am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer; „wir rauchten, tranken und redeten viel“, erinnert sich Wenders. Sie schmiedeten Filmpläne, aus denen nichts wurde, weil beide mit eigenen Projekten beschäftigt waren.

Zum Glück, weil Wenders in seiner Palette noch das Element fehlte, das „Anselm“ jetzt so sensationell macht: die 3D-Technik. Mit seinem Pina-Bausch-Porträt „Pina“ war Wenders vor zwölf Jahren ein Pionier in der Verwendung der Dreidimensionalität für ein Künstlerporträt, er hat seitdem in Kurzfilmen weiter an der Technik gearbeitet, und die Früchte erntet er nun.

Ode in Grau: Anselm Kiefers Atelierlandschaften
Ode in Grau: Anselm Kiefers Atelierlandschaften
Quelle: Anselm © 2023, Road Movies/photograph by Wim Wenders

„Anselm“ ist der Film eines Freundes und Bewunderers. Wenders erzählt keine Biografie, sondern von einem Werk, anhand einer Reise durch die Ateliers, die Kiefer in den vergangenen fünf Jahrzehnten benutzt hat. Kiefers Werk hat sich tief in die Geschichte hineingearbeitet, hat sich von ihrem Schrecken und ihrem Mythos faszinieren lassen, direkt, gigantesk, physisch vereinnahmend. Er war darin das Gegenteil von Wenders, dessen Werk eher eine Flucht vor der deutschen Geschichte ist, zur Musik der Jukeboxen, in die französische Kinemathek, in das Hollywood seiner Träume und die Kultur Japans; letzterer setzt er in seinem zweiten Cannes-Film „Perfect Day“ ein Denkmal, der in der kommenden Woche gezeigt wird.

Der Raum als Untertan

In „Anselm“ geht er es frontal an – weil der Künstler es frontal angeht. Als Kiefer auf der Szene erschien, hatte die Abstraktion ein halbes Jahrhundert die Kunst beherrscht. Anselm Kiefer ging den Weg ins Figurative zurück (oder vorwärts) und seine Gebilde sind ein Traum für jeden 3D-Kameramann. Franz Lustig, dessen Zusammenarbeit mit Wenders fast zwei Jahrzehnte zurückreicht, umkreist Kiefers Gebilde unentwegt, als wolle er in ihre Seelen schauen.

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Ständig ist seine Kamera in Bewegung und dazu gibt es oft eine zweite Bewegung im Bild, wenn Kiefer mit dem Rad seine riesigen Atelierhallen durchmisst oder mit dem Flammenwerfer ein Gemälde flambiert oder mit der Hebebühne in luftige Höhen fährt. Stroh, Sonnenblumen, Sand, Blei, Holz, Äste, Erde – Kiefer hat seinen Werken alle möglichen Materialien einverleibt, und Wenders’ Kamera tut nichts Anderes, sie versucht, sich in die Kieferschen Räume regelrecht hineinzufressen. Das gleiche macht er mit Zitaten, wie aus Celans „Todesfuge“, deren Schrift unausweichlich aus dem zweidimensionalen Filmraum herausragt.

In diesem Ehrgeiz, sich den Raum Untertan zu machen, treffen sich Kiefers Werk und Wenders’ 3D. Es geht ja bei weitem nicht nur um Riesengemälde. Kiefers Schaffen umfasst Pavillons, unterirdische Gewölbe, bizarre Türme, ein überdachtes Amphitheater: alles im Grunde Einladungen, dort einen Film zu drehen.

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Wir wissen noch nicht besonderes viel über diese Sprache namens 3D; das Kino hat sie – mit Ausnahme von Wenders und James Cameron – mehr oder minder aufgegeben; die Schockeffekte, für die manche Actionfilme sie benutzen, sind nicht viel mehr als Grunzlaute einer Sprache im frühen Stadium ihrer Entwicklung. Wenders hat die Sprache gegenüber „Pina“ weiterentwickelt, was wir sehen, spricht andere Bereiche unseres Gehirns an als das flache Bild normaler Filme.

Wenders ist offensichtlich überwältigt von dem, was Kiefer geschaffen hat, und er nutzt die 3D-Technik, um diese seine Überwältigung an uns Zuschauer weiterzugeben. Es geht um Vermittlung, es geht um Verstehen, es geht nicht um eine kunstgeschichtlich kritische Sicht auf Kiefers Werk. Wenders ist so affirmativ gegenüber Kiefer wie des Künstlers Haltung gegenüber deutscher Vergangenheit lange als affirmativ kritisiert wurde. Anselm Kiefer ist in letzter Zeit etwas aus der Mode gekommen, weil er überwältigen und nicht bewältigen wollte, weil er deutsche Geschichte nicht einem klaren Urteil, sondern dem Zweifel unterwarf. Der Zweifel, er ist grau, und Grau ist die dominierende Farbe von Wenders’ Film.

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