„Die Farbe Lila“: Der Stoff, aus dem die Tränen des Leids und der Freu(n)de sind
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„Die Farbe Lila“: Der Stoff, aus dem die Tränen des Leids und der Freu(n)de sind

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Zwei Schwestern, in ihrem Leben mit lieblosen Männern konfrontiert: Phylicia Pearl Mpasi (l.) als junge Celie und Halle Bailey als junge Nettie.
Zwei Schwestern, in ihrem Leben mit lieblosen Männern konfrontiert: Phylicia Pearl Mpasi (l.) als junge Celie und Halle Bailey als junge Nettie. © dpa

Der magische Realismus von Blitz Bazuwules Musicalfilm übertrumpft sogar die Version von Steven Spielberg. Bei den Oscars ging das afroamerikanische Meisterwerk erneut leer aus.

Frankfurt – Manchmal wiederholen sich Ungerechtigkeiten – auch in Hollywood. Steven Spielbergs Verfilmung von „Die Farbe Lila“ (Originaltitel: „The Color Purple“), die auf dem gleichnamigen Briefroman der US-amerikanischen Autorin Alice Walker basiert, der 1982 erschien und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, erhielt bei den Oscars 1986 elf Nominierungen, ging aber komplett leer aus. Lange Gesichter gab es bei folgenden Kategorien: Bester Film (Steven Spielberg, Kathleen Kennedy, Frank Marshall und Quincy Jones), Beste Hauptdarstellerin (Whoopi Goldberg), Beste Nebendarstellerin (Margaret Avery und Oprah Winfrey), Bestes adaptiertes Drehbuch (Menno Meyjes), Beste Kamera (Allen Daviau), Beste Filmmusik (u. a. Quincy Jones), Bester Song (Quincy Jones, Rod Temperton und Lionel Richie für den Song „Miss Celie‘s Blues“), Bestes Szenenbild (J. Michael Riva, Bo Welch und Linda DeScenna), Bestes Kostümdesign (Aggie Guerard Rodgers) sowie Bestes Make-up (Ken Chase).

2024 ergatterte die mitreißende Mischung aus Drama und Musicalfilm von Blitz Bazawule lediglich eine Nominierung (Beste Nebendarstellerin: Danielle Brooks) – und am Ende auch keinen begehrten Goldjungen. Dabei ist diese Fassung noch besser als diejenige, die 2005 am Broadway begeisterte und ein Jahr später bei den Tony Awards bei elf Nominierungen nur eine Auszeichnung für LaChanzes in der Hauptrolle als Celie Harris gewann.

Das Melodram „Die Farbe Lila“ scheint einfach seiner Zeit voraus zu sein

Damals wie heute scheint das lebensumspannende Melodram, obwohl es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im ländlichen Georgia spielt und die damalige gesellschaftliche Stellung afroamerikanischer Frauen in den Südstaaten der USA thematisiert, einfach seiner Zeit voraus zu sein. Roman wie auch die Filme handeln von Inzest, patriarchaler Gewalt und lesbischer Liebe. Die vielschichtige Handlung lässt sich kaum in wenige Sätzen zusammenfassen. Hier ein Versuch: Bereits als Mädchen musste Celie Harris, Protagonistin und Ich-Erzählerin der Geschichte, die Briefe an Gott schreibt, da sie sonst niemanden hat, dem sie ihr Leid anvertrauen kann, erfahren, dass in den 1910er und 1920er Jahren ein Leben für eine Schwarze Frau in den Vereinigten Staaten gelinde gesagt nicht leicht ist. Ihr Vater, von der todkranken Mutter zurückgewiesen, zwängt das Mädchen in die Rolle der Ehefrau und vergewaltigt sie regelmäßig. Um ihre jüngere Schwester Nettie vor ähnlichen Übergriffen zu schützen, wehrt sie sich nicht dagegen und wird zweimal schwanger. Beide Male gibt ihr Vater die Kinder nach der Geburt weg und lässt Celie im Unklaren über ihr Schicksal. 

Nach dem Tod der Mutter heiratet der Vater erneut und drängt Celie in die Ehe mit einem völlig fremden, verwitweten Mann. Es ist der herrschsüchtige Albert Johnson, der darauf besteht, mit „Mister“ angeredet zu werden. Viele Jahre erträgt sie seine körperlichen und seelischen Misshandlungen. Nur wenn Celie mit der selbstbewussten Sofia, die Alberts Sohn Harpo den Laufpass gegeben hat, und der gefeierten Jazz-Sängerin Shug Avery zusammen ist, erlebt sie Freude und Liebe. Eines Tages entdeckt Celie unzählige Briefe von Nettie, die „Mr.“ vor ihr versteckt hatte, weil sie seinen Avancen einst widerstand und er sie deswegen aus seinem Haus jagte. Sie erfährt aus ihnen, dass ihre Schwester inzwischen mit Celies Kindern bei Missionaren in Afrika lebt. Dank ihrer zunehmenden Selbstachtung und Shugs Zuneigung bringt Celie schließlich den Mut auf, ihren Ehemann zu verlassen. Nach dem Tod ihres Vaters, der wie sich herausstelt, gar nicht ihr Erzeuger war, erben Celie und ihre Schwester das Elternhaus. Nettie kehrt mit den Kindern aus Afrika zurück, was der geläuterte Albert eingefädelt hat. Für Celie beginnt nun der glückliche Teil ihres Lebens.

„Die Farbe Lila“: Ein Stoff, aus dem die Tränen sind

Der 2019 im Alter von 100 Jahren verstorbene, legendäre jüdische Filmproduzent Artur Brauner wollte über Jahrzehnte einen Film über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich mit dem Titel „Wenn Steine weinen könnten“ machen, scheiterte aber an der Finanzierung. Auch wenn man sein nicht realisiertes Projekt, das auf Franz Werfels Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ (1933) fußte, natürlich nicht direkt mit dem Briefroman der heute 80-jährigen Alice Walker vergleichen kann, ist ihre darin geschilderte Erzählung auch ein Stoff, aus dem die Tränen sind. Am Anfang sind es Tränen über die Härte der Lebensbedingungen, der Schwarze Frauen ausgeliefert waren, am Ende Tränen der Rührung, ja, Freude, wenn es zu einem nicht mehr erwarteten Happy End kommt.

Obwohl die literarische Vorlage und auch die Adaptionen für die Bühne und die große Leinwand sehr erfolgreich waren, gab es immer wieder heftige Kontroversen. Vor allem männliche Schwarze warfen Spielberg Rassismus (!) vor, obwohl die Vorlage der Feministin Walker weitaus kompromissloser und direkter als der Film ist. Andere kritisierten, dass der in den Südstaaten der „Roaring Twenties“ spielende Film die Schwarzen zu wohlhabend aussehen lasse. Dabei hatte Walker persönlich die historisch korrekte Umsetzung überwacht. Man bemängelte ferner Spielbergs Ansatz, das Liebesverhältnis zwischen Shug und Celie gegenüber der Vorlage herunterzuspielen.

Diesen Vorwurf kann man Blitz Bazawule (eigentlich Samuel Bazawule, auch bekannt als Blitz the Ambassador) nicht machen. Der am 19. April 1982 in der ghanaischen Hauptstadt Accra geborene und im New Yorker Bezirk Brooklyn lebende Rapper, Singer-Songwriter, Plattenproduzent, Autor, Künstler und Filmemacher klammert auch die körperliche Zuneigung, die Celie und Shug, hier ebenso einfühlsam wie fulminant von R&B-Sängerin Fantasia Barrino und Schauspielerin Taraji P. Henson verkörpert, füreinander hegen, nicht aus. Die lateinische Redewendung „per aspera ad astra“ (wörtliche Übersetzung „Durch das Raue zu den Sternen“) kommt einem in den Sinn, wenn er über die psychologische Motivation seines Musicalfilms sagt: „Jeder, der Traumata und Missbrauch erlebt hat, versucht in seinem Kopf ständig, daraus herauszukommen.“

„Die Farbe Lila“-Adepten der ersten Stunde wirkten im Hintergrund mit

Kris Bowers fatastischer Soundtrack ist von dem gleichnamigen Broadway-Musical von Brenda Russell, Allee Willis und Stephen Bray inspiriert. Dieses basiert selbstredend auf der literarischen Vorlage und enthält Elemente von Jazz, Ragtime, Gospel, Blues und afrikanischen Rhythmen. Der Roman und das Musical wurden von Marcus Gardley adaptiert, während man die Broadway-Liedtexte von Pulitzer-Preisträgerin Marsha Norman übernahm. „Die Farbe Lila“-Adepten der ersten Stunde wirkten im Hintergrund mit: So gehört Steven Spielberg neben Quincy Jones, Scott Sanders und Talkmasterin Oprah Winfrey zum Produzenten-Team. Jones als Komponist und Winfrey als Schauspielerin waren bekanntlich 1985 auch kreativ involviert, genauso wie Whoopi Goldberg, die statt der Celie, nun eine Hebamme spielt.

Um den Film immer wieder aus der Tragödie zu holen, setzte Bazawule auch auf humorvolle Szenen, musikalische Einlagen und eine Vielzahl von Traumsequenzen. Diese als „magischer Realismus“ bezeichnete Erzählweise verwendete der Regisseur bereits bei seinem in Ghana spielenden Spielfilm „The Burial of Kojo“ (2018). Er wollte hierdurch Celies Gedankenwelt transparent für das Publikum erscheinen lassen. Dabei machte nicht alles der Mai neu: Drehbuchautor Gardley meint beispielsweise, das alles, was sie taten, um der Geschichte mehr Leichtigkeit zu verleihen, sei in Celies Welt bereits vorhanden gewesen. Und für Mitproduzent Sanders hat „Die Farbe Lila“ gar Züge einer „Schwarzen Shakespeare-Geschichte“. Nicht nur Danielle Brooks als erst aufmüpfige, dann durch einen Gefängnisaufenthalt gebrochene Sofia (sie hatte dem sie beleidigenden weißen Bürgermeister geohrfeigt), sondern auch Colman Domingo in der sehr komplexen Rolle des Schwarzen Machos Albert, der eine Kartharsis durchläuft, hätten den Oscar verdient gehabt. Es ist auch ein Film des Abschieds geworden. Soeben erreicht uns die traurige Nachricht, dass Louis Gossett Jr., der als erster Schwarzer Akteur 1983 mit dem Oscar als Bester Nebendarsteller für „Ein Offizier und Gentlemen“ ausgezeichnet wurde und hier Alberts Vater Old Mister Johnson als altersstarrsinnigen Mann anlegte, am 29. März mit 87 Jahren im kalifornischen Santa Monica gestorben ist.

Bewegt, aber auch optimistisch lässt „Die Farbe Lila“ am Ende das Publikum zurück

Die Gesangs- und Tanzeinlagen, die übrigens Grammy-Gewinnerin Barrino höchstpersönlich choreografierte, wirken immer natürlich und nie wie ein Mittel zum Zweck. Bazawules wundervoll ausgestatteter und fotografierter Film, der mit Erdtönen und sonnendurchfluteten Bildern operiert, verzichtet weder auf Vor- noch Abspann. Beide sind im Übrigen sehr kunstvoll gestaltet wie bei den Kinoepen der 1950er und 1960er Jahre. Bewegt, aber auch optimistisch lässt seine „Farbe Lila“ am Ende das Publikum zurück.

Nach der öffentlichen Vorstellung am 16. November 2023 im Samuel Goldwyn Theater in Beverly Hills, der Europa-Premiere am 20. November 2023 in London, dem US-Start am 25. Dezember 2023 und dem in Deutschland am 8. Februar 2024 zum 80. Geburtstag von Romanautorin Walker wird der Musicalfilm demnächst von Warner Bros. für den Home-Entertainment-Bereich ausgewertet. Aufgrund der guten Einspielergebnisse – allein zwei Tage nach seiner Veröffentlichung in Nordamerika konnte „Die Farbe Lila“ einen Umsatz von rund 25 Millionen US-Dollar an den Kinokassen erwirtschaften, während sich die weltweiten Einnahmen aus Kinovorführungen auf rund 66 Millionen US-Dollar belaufen –, können Macher und Mitstreiter sicherlich verschmerzen, dass sie bei den Oscars erneut übergangen wurden. (Marc Hairapetian)

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