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Geschichte „Hitler-Tagebücher“

Wenn das Papier nicht stimmt, dann stimmt die ganze Sache nicht

Anfang Mai 1983 arbeiteten Bundesarchiv, Bundeskriminalamt und Bundesanstalt für Materialprüfung mit Hochdruck an dem vermeintlichen Fund, den die Illustrierte „Stern“ gemacht hatte. Der Nachweis der Fälschung fiel enttäuschend leicht.
Leitender Redakteur Geschichte
Die gefälschten Hitler-Tagebücher, die der Stern 1983 veröffentlichte. Ausriss Die WELT Seite 1 vom 7.8. Mai 1983 gefälschte Hitler Tagebücher Die gefälschten Hitler-Tagebücher, die der Stern 1983 veröffentlichte. Ausriss Die WELT Seite 1 vom 7.8. Mai 1983 gefälschte Hitler Tagebücher
Die gefälschten Hitler-Tagebücher, die der "Stern" 1983 veröffentlichte – und die Meldung von WELT über die Fälschung
Quelle: Markus Scholz/picture alliance/dpa; Axel Springer Archiv
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Häme war gewiss dabei. „Bonn zu ,Hitler-Tagebüchern’: Eine schlechte Fälschung“ titelte WELT. War der Aufmacher noch nachrichtlich-sachlich gehalten, konnte sich Chefredakteur Wilfried Hertz-Eichenrode in seinem zweispaltigen Kommentar auf Seite 1 seine Befriedigung über die Pleite nicht ganz verkneifen: „Zwei Tage vor dem 38. Jahrestag der Kapitulation steht es fest: Die Geschichte Hitlers und des Dritten Reiches wird nicht umgeschrieben.“

Genau das hatte Peter Koch, als Co-Chef der Hamburger Illustrierten „Stern“ rein formal Hertz-Eichenrodes Kollege, wenige Tage zuvor in seinem Editorial zur Ausgabe Nr. 18 seines Blattes behauptet: „Die Geschichte des Dritten Reiches muss teilweise umgeschrieben werden.“ WELT war von Anfang an skeptisch gewesen: Schon am Tag der internationalen Pressekonferenz im „Stern“-Verlagshaus an der Außenalster am 25. April 1983 hatte diese Zeitung über „Zweifel an der Echtheit der Tagebücher Hitlers“ berichtet und ein ganzes Bündel an Argumenten aufgeführt.

15.09.2018, Hamburg: Die gefälschten Hitler-Tagebücher, die der Stern 1983 veröffentlichte, sind im Rahmen des „Tages des Journalismus“ im Hamburger Redaktionsgebäude zu sehen. Foto: Markus Scholz/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Hitler konnte spätestens seit 1943 nicht mehr mit Tinte schreiben – und verfasste ohnehin keine Tagebücher
Quelle: Markus Scholz/picture alliance/dpa

So hatte Hitler spätestens seit 1943 wegen seiner fortschreitenden Schüttellähmung nicht mehr mit Tinte schreiben können, sondern nur noch mit Bleistift. Auch Historiker wie der langjährige Chef des Instituts für Zeitgeschichte in München Helmut Krausnick oder (politisch durchaus fragwürdige) Zeitzeugen wie der Luftwaffen-Adjutant des Diktators, Nicolaus von Below, bestritten, dass Hitler Tagebuch geschrieben habe.

Gegen solche Einwände wehrte sich Koch in seinem Editorial: „Der ,Stern’ hat mit großer Sorgfalt die Tagebücher prüfen lassen – ein Aufwand, der in der Historikerzunft nicht immer üblich ist.“ Angeblich hätten „Schriftsachverständige und Zeitgeschichtler der Spitzenklasse“ – was immer das bedeuten sollte, da es anders als etwa im Profitennis nie eine „Weltrangliste“ für solche Tätigkeiten gab – die Tagebücher untersucht. Das Ergebnis fasst Koch zusammen: „Ihr Urteil ist so einstimmig wie eindeutig. Nach Menschenermessen kann kein Zweifel an der Echtheit bestehen.“

Das „Menschenermessen“ hielt gerade eine Woche. Am 25. April hatte der „Stern“ nach längeren Zögern endlich dem Bundesarchiv drei Kladden (angeblich von 1934, von 1943 sowie den „Sonderband“ zum Schottland-Flug Rudolf Heß’) zur Prüfung überlassen. Sie wurden zunächst nach West-Berlin geflogen, wo Experten der Bundesanstalt Materialproben für naturwissenschaftliche Prüfungen entnahmen. Anschließend kamen die Bände nach Wiesbaden zum Bundeskriminalamt (BKA), das eine Untersuchung mit kriminalistischen Methoden vornehmen sollte. Schließlich, am Wochenende 30. April und 1. Mai, machten sich die beiden Bundesarchivare Josef Henke und Klaus Oldenhage unabhängig voneinander an eine archivfachlich-textkritische Analyse.

Am Montagmorgen, dem 2. Mai, trafen die ersten Erkenntnisse aller drei Institutionen beim Präsidenten des Bundesarchivs Hans Booms ein. Die Materialprüfer kamen eindeutig zum selben Urteil wie die BKA-Forensiker und die beiden Archivare: Die drei vermeintlichen „Original“-Kladden von Hitlers „Tagebüchern“ waren allesamt miserable Fälschungen. Booms informierte umgehend seine vorgesetzte Behörde, das Bundesinnenministerium in Bonn.

Nicht aber die Öffentlichkeit. Vorher sprach der Archiv-Chef mit dem Anwalt des „Stern“-Verlages Gruner+Jahr. Nach Konsultationen bat die Illustrierte darum, noch weitere Tagebuch-Bände zu untersuchen, bevor das Ergebnis allgemein bekannt gegeben wurde. Damit wollten Koch und seine Mitverantwortlichen offenbar Zeit gewinnen.

Also untersuchten Henke und Oldenhage noch die Kladden für das zweite Halbjahr 1937, für August und für September 1939 sowie für den Sommer 1942. Am Abend des 4. Mai brachte ein „Stern“-Kurier die vier Bände nach Koblenz, damals der Hauptsitz des Archivs; sie hatten erst aus einem Safe in der Schweiz geholt werden müssen. Die textkritische Überprüfung durch nun sogar sechs Archivare des höheren Dienstes, durchweg wissenschaftlich ausgewiesene Historiker, kam zum identischen Ergebnis wie die vorherigen Untersuchungen: Der Nachweis der Fälschung fiel enttäuschend leicht.

Die Archivare Klaus Oldenhage, links, und Josef Henke vom Koblenzer Bundesarchiv, hier mit einer Stern-Ausgabe zur angeblichen Entdeckung der Hitler-Tagebücher, waren maßgeblich an der Entlarvung der Fälschung durch Konrad Kujau beteiligt. Koblenz, Rheinland-Pfalz, Deutschland, Europa
Die Bundesarchivare Klaus Oldenhage (li.) und Josef Henke mit der "Stern"-Ausgabe zur angeblichen Entdeckung der Hitler-Tagebücher
Quelle: picture alliance / imageBROKER

Der 6. Mai 1983 wurde zum Tag des Showdowns. Der Gruner+Jahr-Anwalt kam nach Koblenz und erhielt die Ergebnisse vorab mitgeteilt. Parallel erarbeitete das Bundesarchiv eine Pressemitteilung, die um 13.30 Uhr herausgegeben wurde; Fragen konnten bei einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz um 15 Uhr gestellt werden. Das war ziemlich knapp vor dem Redaktionsschluss für die Samstagsausgaben der großen Zeitungen, allerdings noch ausreichend früh für die Abendnachrichten des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

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WELT stützte sich im Bericht in der Wochenend-Ausgabe trotzdem stark auf die Pressekonferenz und zusätzlich auf eigene Recherchen: „Weder der Einband noch das verwendete Papier, weder die Heftfäden noch der Klebstoff existierten in jenen Jahren, als Adolf Hitler angeblich die ,Tagebücher’ schrieb“, hielt der erfahrene Redakteur Eberhard Nitschke fest. Der Inhalt zeige zudem, dass es sich bei dem Fälscher um einen „intellektuell und vom intellektuellen Interesse her recht beschränkten Menschen“ handeln musste.

Der Präsident des Bundesarchivs, Professor Hans Boom (r), und Louis Ferdinand Werner vom BKA mit Exemplaren der angeblichen Hitler-Tagebücher bei einer Pressekonfernez am 5.6.1983 in Koblenz. Die vom Hamburger Wochenmagazin "Stern" bereits zum Teil veröffentlichten Tagebücher Adolf Hitlers sind nach umfassender Prüfung amtlicher Experten Fälschungen. Dies ergaben Untersuchungen des Koblenzer Bundesarchivs, des Bundeskriminalamtes (BKA) und der Bundesanstalt für Materialprüfung. [dpabilderarchiv]
Der Präsident des Bundesarchivs, Hans Boom (re.), und Louis Ferdinand Werner vom BKA mit Kladden der angeblichen Hitler-Tagebücher
Quelle: picture-alliance / dpa

Im Einzelnen hatte sich gezeigt: Die Papiere der Kladden enthielten Weißtöner, die erst ab 1955 hergestellt wurden, weshalb der BKA-Vertreter bei der Pressekonferenz klar sagte: „Wenn das Papier nicht stimmt, dann stimmt die ganze Sache nicht.“ Weitere Indizien bestätigten diesen Befund: Die Einbände der Kladden erwiesen sich als Kunstleder, das es „erst nach 1945 gab“; die Heftung bestand aus Polyester-Fäden, die von einem britischen Unternehmen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Markt gebracht worden waren. Die auf zwei der Bände geklebten, angeblich von Rudolf Heß und Martin Bormann unterschriebenen „Echtheits-Bestätigungen“ (an sich schon verdächtig) waren mit derselben Schreibmaschine getippt worden, deren Typen sich trotz angeblich mehreren Jahren Zeit zwischen den Datierungen gar nicht abgenutzt hatten.

Neben diese forensischen Beweise traten inhaltliche Befunde. Laut Tagebuch sollte der letzte Reichspräsident Paul von Hindenburg am 9. Januar 1934 eine Begnadigung des zum Tode verurteilten Brandstifters des Reichstags Marinus van der Lubbe angeregt haben – doch tatsächlich hatte das Staatsoberhaupt bereits am 6. Januar das Gnadengesuch abgelehnt. Ein am 19. Januar 1934 vom angeblichen Hitler erwähntes Gesetz gab es nie. Im Band zu 1937 fehlen alle Einträge zur ersten Monatshälfte – genau wie in der offensichtlichen Vorlage des Fälschers, der Hitler-Chronik des Würzburger Studienrats Max Domarus, die 1962/63 erschienen war. Nur drei von Dutzenden inhaltlichen Indizien für eine Fälschung.

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Noch nicht verfügbar waren am 6. Mai die chemischen Untersuchungen der Tinte. Als sie kurz darauf vorlagen, bestätigten sie die bisherigen Befunde: Geschrieben worden war der Band zu 1934 um 1979, der Band zu 1941 etwa 1981 und der Band zu 1943 gerade einmal ein Jahr vor der chemischen Prüfung.

Nun war die größte Blamage der deutschen Mediengeschichte perfekt. Das Ansehen des „Sterns“ stürzte ins Bodenlose, beide Chefredakteure (neben Peter Koch noch Felix Schmidt) mussten gehen, ebenso verließ Herausgeber Henri Nannen das Blatt. Ein Prozess gegen den Fälscher Konrad Kujau und den „Stern“-Reporter Gerd Heidemann folgte. Der größte Teil des für die Fälschungen bezahlten Geldes blieb verschollen.

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In seinem Editorial zu Heft 18/1983 hatte Peter Koch abschließend angekündigt: Der ,Stern’ wird die Originale der Tagebücher nach Veröffentlichung seiner Serien dem Bundesarchiv übergeben.“ Dieses Versprechen von Ende April 1983 immerhin soll tatsächlich erfüllt werden. Allerdings mehr als vier Jahrzehnte später, nämlich „noch im Laufe des Jahres 2023“.

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