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Frankreich und das Phänomen Didier Deschamps

Sein Instinkt sagte Deschamps, den wegen seiner Begabung wie seiner Allüren einzigartigen Superstar Mbappé als Kapitän einzubinden. Und der Instinkt trügt Frankreichs Trainer selten Sein Instinkt sagte Deschamps, den wegen seiner Begabung wie seiner Allüren einzigartigen Superstar Mbappé als Kapitän einzubinden. Und der Instinkt trügt Frankreichs Trainer selten
Der Trainer und sein Kapitän: Didier Deschamp mit Kylian Mbappé
Quelle: picture alliance/empics/Peter Byrne
Deutschlands Nationalmannschaft rast von Tiefpunkt zu Tiefpunkt. Nach der Entlassung von Hansi Flick geht es jetzt ausgerechnet gegen Frankreich. Beim WM-Zweiten ist zu bewundern, was einen guten Trainer ausmacht.

Gelungene Trainerarbeit zeigt sich oft an Details, die mit dem Fußball an sich wenig zu tun haben. Pressekonferenzen zum Beispiel. Üblicherweise wird am Tag vor einem Pflichtspiel dort der Kapitän hingesetzt, und bei den Franzosen ist das Superstar Kylian Mbappé. Doch der hat durch seine ewigen Vertragscapricen und Wechseldrohungen bei Paris St. Germain mal wieder einen turbulenten Sommer hinter sich.

Didier Deschamps schickte diese Woche also kurzerhand lieber den Vize Antoine Griezmann vorbei. „Es gibt ja keine Pflicht, den Kapitän zu bringen“, erklärte er den Journalisten später und fügte diebisch hinzu: „Ich hoffe, dass es mit Antoine gut gelaufen ist.“

Das ist es jedenfalls aus Deschamps’ Sicht: keine neue Polemik, nur Fragen zum Spiel gegen Irland, in diesem dann ein komfortables 2:0. Nach fünf Siegen in fünf Partien ist die Qualifikation für die Europameisterschaft 2024 nur noch Formsache. Während der Reise zum Testspiel am Dienstag (21.00 Uhr, im Sport-Ticker der WELT) in Dortmund gegen den mittlerweile trainerlosen Turniergastgeber Deutschland kann sich Frankreichs Delegation schon mal entspannt nach Quartieren umschauen.

Die Sache mit den Kapitänen ist aber auch noch in anderer Hinsicht aufschlussreich. Griezmann hatte sich ursprünglich selbst als Nachfolger des nach der WM abgetretenen Hugo Lloris gesehen. Der 122-malige Auswahlspieler konnte neben Erfahrung und Klasse (zweimal Dritter bei den Weltfußballerwahlen, so weit vorn landete Mbappé noch nie) auch seine zentrale Bedeutung als Frankreichs Spielgestalter anbieten. Offen nannte er es „schwierig, sehr schwierig“, die Entscheidung für Mbappé zu akzeptieren: „Ich nahm mir ein, zwei Tage, um es zu verdauen.“ Aber Griezmann akzeptierte es und gibt jetzt klaglos den Hilfssheriff. Auch das spricht für die Autorität von Deschamps.

Deschamps‘ Instinktentscheidung in der Causa Mbappé

Der Nationaltrainer hat über die Jahre beobachtet, wie sich Mbappé, 23, als Überfigur des französischen Fußballs etablierte. Seine Seifenopern beim PSG wuchsen sich zu Staatsaffären unter Beteiligung von Präsident Emmanuel Macron aus, bei der Nationalelf führte er einen Spieleraufstand zur Mitsprache bei der Sponsorenwahl an. Aber auch auf dem Platz übernahm Mbappé zunehmend die Führungsrolle. Das katastrophal begonnene WM-Finale gegen Argentinien belebten Deschamps und er im Duett. Der Trainer nahm entgegen allem Branchenusus schon nach 40 Minuten einen Doppelwechsel vor und polterte in der Halbzeitpause: „Sie spielen ein verdammtes WM-Finale, und wir nicht!“ Derweil Mbappé ebenfalls die Mitspieler zusammenstauchte und dann mit drei Toren das (letztlich verlorene) Elfmeterschießen forcierte.

„Das ist kein Eiskunstlauf. Es geht um die Zweikämpfe“

Hansi Flick sei ein kompetenter Trainer, doch der Teamgeist habe gefehlt, sagt Reiner Calmund im WELT-Interview. Die Niederlage gegen Japan sei verdient gewesen.

Quelle: WELT

Nun sagte dem 54-jährigen Deschamps sein Instinkt, dass der Moment gekommen war, den wegen seiner Begabung wie seiner Allüren einzigartigen Mbappé als Kapitän einzubinden. Und der Instinkt trügt Deschamps selten.

Unter den gleichzeitig einfachen (wegen des einzigartigen Talentreservoirs) wie notorisch schwierigen (weil atmosphärisch oft belasteten) Rahmenbedingungen des französischen Fußballs verantwortet Deschamps eine einmalige Periode der Stabilität. Seit den 1950er-Jahren war kein Vorgänger so lange im Amt. Der Finaleinzug in Katar als amtierender Weltmeister demonstrierte seine Meriten eindrücklich. Die drei Vorgänger Italien, Spanien und Deutschland waren als Titelverteidiger jeweils schon in der Vorrunde gescheitert. Wie übrigens 2002 auch Frankreich.

1998 hatte „DD“ sein Land als Kapitän zum Triumph geführt, Frankreichs erster Weltmeisterschaft, 2000 zum EM-Titel. Der Spieler Deschamps war geborener Leader und Prototyp eines defensiven Mittelfeldmanns. Er patrouillierte über den Platz, eroberte Bälle, stopfte Lücken, korrigierte die Mitspieler. Mit Olympique Marseille gewann er 1993 als Kapitän den bis heute einzigen Champions-League-Titel eines französischen Klubs, mit Juventus Turin wiederholte er 1996 den Erfolg in der Königsklasse.

Deschamps nach dem EM-Triumph 2000, den Frankreich durch ein 2:1 gegen Italien feiern konnte
Deschamps nach dem EM-Triumph 2000, den Frankreich durch ein 2:1 gegen Italien feiern konnte
Quelle: picture alliance/dpa/Michele Limina

1998 lernte der Baske aus Bayonne auch viel von einem Mann, der ihn stark prägte. Weltmeistertrainer Aimé Jacquet, ein eher blasser, anfangs scharf kritisierter, aber letztlich erfolgreicher Pädagoge, der den Erfolg über die Ästhetik stellte und die Mannschaft über Individualisten wie den von ihm ausgebooteten Eric Cantona. Ob 1998 oder 2018: Jeweils triumphierte Frankreich mit robustem Effizienzfußball.

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Als er wie vorher nur Mario Zagallo und Franz Beckenbauer zum Weltmeister als Spieler wie Trainer avanciert war („Eine Ehre, die beiden waren technisch besser als ich“), formulierte Deschamps damals so etwas wie sein Manifest. „Das menschliche Gleichgewicht ist so zerbrechlich“, befand er, aber man habe „55 Tage ohne das geringste Problem“ miteinander verbracht. „Manchmal mag ich hart gewesen sein, aber das habe ich nicht aus Vergnügen getan, sondern für das Beste der Gruppe.“

Deschamps’ Frankreich strahlte in den vergangenen Jahren viel von dem aus, was Kritiker in Deutschland angesichts der Dauerkrise der Nationalmannschaften vermissen. Talent auf allen Positionen, variabler, aber immer erfolgs- und dabei notfalls zweckorientierter Fußball, seriöse Einstellung und die Mentalität, mit Rückschlägen wie bei der WM etlichen Verletzungsausfällen umzugehen.

Deschamps verkörpert Kontrolle über sein Team jenseits aller Probleme im Verband, wo sein Fürsprecher Noël Le Graët neben etlichen weiteren Skandalen auch deshalb als Präsident zurücktreten musste, weil er im Rahmen der jüngsten Vertragsverlängerung mit Deschamps (bis 2026) so weit ging, den Anwärter und Nationalhelden Zinédine Zidane zu verspotten.

Zidane muss sich immer weiter gedulden

Zidane, immerhin als Trainer dreimaliger Champions-League-Sieger, steht seit Jahren als Wachablösung bereit. Und muss sich immer weiter gedulden. Warum sollte Frankreich einen Weltmeistercoach austauschen, der außerdem jede K.o.-Endrunde erreichte, 2016 das EM-Finale und 2021 den Gewinn der Nations League?

Deschamps ist „sélectionneur“ seit 2012. Als er kam, galt die Nationalelf als unregierbar. Bei der WM 2010 hatten Profis um Nicolas Anelka und Franck Ribéry einen denkwürdigen Aufstand losgetreten, der Trainer Raymond Domenech zur Witzfigur degradierte. Doch auch eine renommierte Figur wie Laurent Blanc, Abwehrchef der 1998er-Weltmeister, wurde als Nachfolger nicht fertig mit der Bagage. Die EM 2012 endete in Pöbeleien von Hatem Ben Arfa und Samir Nasri. Die Feuilletons zürnten über die Bad Boys aus der Banlieue. „Black-blanc-beur“ („Schwarz-Weiß-Arabisch“), das vereinende Etikett der 1998er, erschien nun bloß mehr als ferne Utopie.

„Spaß beiseite“ – Rudi Völler sagt, was bei der Trainersuche wichtig ist

Sportdirektor und Interims-Coach Rudi Völler äußert sich nach der Entlassung von Trainer Hansi Flick, wie es bei der Nationalmannschaft weitergeht. Mit dabei ist auch der neue Mannschaftskapitän Ilkay Gündogan. Sehen Sie die Pressekonferenz in voller Länge hier im Video.

Quelle: WELT

Deschamps kam, sah und normalisierte. Er brach die Dinge soweit wie möglich auf ihren Kern herunter, den Fußball. Die Störenfriede sortierte er bei Gelegenheit aus, den Rest überzeugte er durch vorherige Trainererfolge wie einer Meisterschaft mit Marseille und einem Champions-League-Finale mit Monaco. Aber auch mit seiner sachlichen, manche finden: biederen, nach innen aber fairen und empathischen Art. Deschamps verstand als Spieler, wie Kabinen funktionieren; als Trainer tut er es erst recht. Trotz allen Ruhms bewahrt er sich immer die Uneitelkeit, das Naheliegende zu tun.

Überhöhungen und gesellschaftliche Komponenten, in Frankreich selten weit weg, wurden ihm allenfalls hereingetragen – allen voran durch die „Sextape-Affäre“, in deren Rahmen der damalige Star Karim Benzema vor der Heim-EM 2016 zur Erpressung seines Teamkollegen Mathieu Valbuena beigetragen hatte. Weder die interne Teamsituation noch öffentliche Meinung und Politik ließen Deschamps eine andere Wahl als jene, auf Benzema zu verzichten. Dennoch stellte ihn Kritiker Cantona als typisch französischen Provinzspießer hin, der aus xenophoben Motiven gehandelt habe. Benzema, Sohn algerischer Einwanderer, schlug in eine ähnliche Kerbe: Der Trainer habe sich „dem Druck des rassistischen Teils Frankreichs gebeugt“.

Zur Ära Deschamps gehört auch Fortüne im richtigen Moment

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Deschamps hat der Vorwurf persönlich tiefer getroffen als alles andere in seiner Karriere. Erst nach vielen Jahren begnadigte er den famosen Angreifer zur EM 2021, quasi aus Staatsräson heraus: „Die Nationalelf gehört nicht mir.“ Doch sein Instinkt von einst wurde im Nachhinein neu bestätigt. Mit Benzema geriet die Teamharmonie wieder durcheinander. Ein überhebliches Frankreich der Stars scheiterte im Achtelfinale an der Schweiz; das schwächste Turnierabschneiden der Ära Deschamps.

Zu dieser Ära gehört allerdings auch Fortüne im richtigen Moment. Wo vor der WM 2002 schon Abgesänge auf Deschamps formuliert wurden, die schwächelnden 2018er-Helden N’Golo Kanté und Paul Pogba passen mussten und sich im Vorfeld des Turniers auch Benzema verletzte, erblickte Deschamps darin eine Chance. Die Ausfälle öffneten ihm ein neues Feld. Mit frischen Spielern konnte er jetzt wieder an dem werkeln, worin er immer die Erfolgsbasis sah: eine harmonische Equipe, die für Zusammenhalt und Solidität auch mal auf Qualität, Glamour und Spektakel verzichtet.

Am Ende feierten die Fans ihr Team wieder, als wäre es 1998. „Les Bleus“ fungieren mehr denn je als Kitt einer durch Gelbwesten und Rentenreformstreiks, Polizeiwillkür und Vorstadtgewalt angespannten Nation. Fußball in Frankreich ist nie einfach. Auch wenn Didier Deschamps es so aussehen lassen kann.

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