Der 1968 erschienene Roman »Deutschstunde« von Siegfried Lenz spielt auf zwei ineinander verwobenen Zeitebenen. In der Rahmenhandlung sitzt der Ich-Erzähler Siggi Jepsen 1954 in einer Jugendstrafanstalt bei Hamburg ein. Im Rückblick erzählt er die Ereignisse, die sich im (fiktiven) Dorf Rugbüll bei Glüserup im äußersten Norden Schleswig-Holsteins von 1943 bis in die ersten Nachkriegsjahre zugetragen haben.
Der junge Siggi Jepsen sitzt in einer Besserungsanstalt ein. In der Deutschstunde soll er einen Aufsatz zum Thema »Die Freuden der Pflicht« schreiben soll. Sofort kommt ihm sein Vater Jens Ole Jepsen in den Sinn. So viele Eindrücke und Erinnerungen stürmen auf Siggi ein, dass er keinen Anfang findet und ein leeres Heft abgibt. Er soll den Aufsatz deshalb in einer Einzelzelle nachschreiben, wo er wie besessen zu erzählen beginnt. Er schreibt Tag und Nacht und bittet mehrfach um eine Verlängerung der Strafe, die ihm auch gewährt wird. Die Niederschrift dauert mehrere Monate, und Siggi unterbricht sie nicht einmal, um seinen 21. Geburtstag zu feiern.
Siggis Erinnerungen beginnen mit einem Berufsverbot, das im April 1943 in Berlin gegen den Maler Max Ludwig Nansen auf Bleekenwarf verhängt wird. Sein Jugendfreund, der Polizist Jens Ole Jepsen, überbringt die Anordnung. Er will deren Einhaltung peinlich genau überwachen. Damit verändert sich die Beziehung der beiden. Siggi beschreibt seinen Vater als jemanden, dessen Existenz sich darauf gründet Befehle zu erhalten und auszuführen. Weil Siggi sich gern in Nansens Haus aufhält, verlangt der Polizist von seinem Sohn den Maler zu bespitzeln.
Am 3. Oktober 2019 startete »Deutschstunde« in den Kinos. 50 Jahre nach der Veröffentlichung des Romans von Siegfried Lenz gelang Christian Schwochow eine überzeugende Inszenierung des Stoffs. Authentische Filmaufnahmen entstanden an Drehorten in Norddeutschland und Dänemark. Der Weite der Landschaft stehen die bedrückende geistige Enge jener Zeit und die seelischen Qualen der Protagonisten gegenüber.
Das Drehbuch stammt von Heide Schwochow, der Mutter des Regisseurs. Der Film hält sich eng an die Buchvorlage und überzeugt mit außergewöhnlichen schauspielerischen Leistungen. In der Rolle des verfolgten Malers Nansen ist Tobias Moretti zu sehen, den Gegenpart des pflichtbesessenen Polizeipostens Jepsen übernahm Ulrich Noethen. Nachwuchstalent Levi Eisenblätter spielt den jungen Siggi, Tom Gronau verkörpert dessen ältere Version.
Eine Filmbesprechung findest du auf www.kinofreunde.de/filme/deutschstunde/.
Mitten in eine große Geburtstagsfeier auf Bleekenwarf platzt ein Eilbrief aus Berlin. Darin wird die Beschlagnahme aller Bilder der letzten zwei Jahre verfügt. Jens Ole Jepsen zieht sie sofort ein. Der Maler beschuldigt ihn, durch seinen unbedingten Gehorsam gegenüber der Obrigkeit eine Mitverantwortung zu haben.
Siggis Bruder Klaas Jepsen hat sich als Soldat selbst verstümmelt. Während des anschließenden Lazarettaufenthaltes desertiert er. Aus Angst vor Auslieferung durch seine Eltern geht er nicht nach Hause, sondern sucht Zuflucht beim Maler. Bei einem Abend im Glüseruper Heimatverein wird deutlich, dass Siggis Vater über das zweite Gesicht verfügt. Siggi fürchtet, er könne Klaas in seinem Versteck aufspüren. Aus Angst vor Entdeckung flüchtet Klaas ins Moor, wo er Opfer eines Tieffliegerangriffs wird. Seine Eltern liefern den Schwerverletzten aus.
Der Postbote Okko Brodersen wirft dem Polizeiposten bei der Überwachung von Nansens Malverbots Übereifer vor. Dieser dagegen spricht von »entarteter Kunst« und beruft sich auf seine Pflicht. Er beschlagnahmt sogar leeres Papier, von dem der Maler behauptet, es seien unsichtbare Bilder. Nansen malt trotz des Verbots. Als er dabei vom Jepsen ertappt wird und dieser unnachgiebig auf einer Anzeige besteht, zerreißt er das Bild vor dessen Augen. Siggi klebt die Schnipsel heimlich zusammen und versteckt das geflickte Bild.
Als der Maler vorübergehend verhaftet wird, vertraut er Siggi im letzten Moment ein Bild an, das dieser am Körper versteckt. Ein anderes Mal wird Siggi ungewollt zum Helfershelfer seines Vaters und verrät ihm ein Versteck von Bildern.
Selbst als die Engländer in Glüserup landen, haben für den Polizeiposten Pflichterfüllung und Gehorsam oberste Priorität. Am nächsten Tag verbrennt er sämtliche Akten, bevor er von einem englischen Kommando verhaftet wird.
Nach Kriegsende kehrt Klaas Jepsen apathisch zurück nach Rugbüll. Er geht jedoch nicht zu seinen Eltern, sondern zieht wieder in das Haus des Malers, wo er sich langsam erholt. Nach drei Monaten Internierung wird Jens Ole Jepsen wieder in sein Amt als Polizeiposten eingesetzt. Als erstes verbietet er seinem Sohn Klaas für immer das Haus.
Auch nach dem Krieg hält Jepsen an seiner vermeintlichen Pflicht fest, Nansens Bilder vernichten zu müssen. Aus einer Strandhütte des Malers entwendet er einen Bilderzyklus und verbrennt ihn. Siggi kommt zu spät und kann die Tat nicht verhindern. Als Siggis Versteck, eine alte Mühle, in der er seine Kostbarkeiten sammelt, abbrennt, verdächtigt er seinen Vater der Brandstiftung. In Nansens Atelier meint der verstörte Siggi später eine Flamme zu sehen, die sich auf ein gemaltes Bild zubewegt. Er bringt das Bild deshalb unter seiner Kleidung in Sicherheit.
Als Jepsens Pflichtversessenheit neue krankhafte Züge annimmt, fürchtet Siggi um die Bilder des Malers. Er steigert sich in die Vorstellung hinein, die Kunstwerke vor seinem Vater retten zu müssen. Er beginnt, Bilder aus Nansens Haus zu entwenden und zu verstecken. Er wird überführt und als Kunstdieb zu drei Jahren Haft verhaftet. So gelangt er in die Jugendstrafanstalt.
Am Ende des Aufsatzes ist Siggi der Meinung, dass er zu Unrecht in der Strafanstalt einsitzt: Sein Vater sei derjenige, der umerzogen werden müsse. Doch er fügt sich in den Alltag auf der Insel. Wenige Tage nach Beendigung seiner Strafarbeit wird er entlassen und sieht sich einer ungewissen, von der Vergangenheit belasteten Zukunft gegenüber.
Die »Deutschstunde« von Siegfried Lenz war ein großer Erfolg. Der Roman setzt sich als einer der ersten mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinander. Er führt die fatalen Folgen blinden Gehorsams und unreflektierter Pflichterfüllung vor Augen. Weitere Interpretationsansätze können der Vater-Sohn-Konflikt oder der Reifeprozess des Protagonisten während des Niederschreibens des Erlebten sein. Lenz‘ virtuoser Umgang mit Sprache macht das Lesen zu einem besonderen Vergnügen und lässt Bilder entstehen, die man nicht mehr vergisst.