Ein Ex-Kommissar, zwei Tote, einige Verd�chtige – „Der namenlose Tag“ bringt alles mit, was den Film zu einem Krimi machen k�nnte, in Wahrheit aber ist er weit mehr mehr als das. Ein kleines Meisterst�ck. Die Ehre geb�hrt Friedrich Ani, der den wunderbar m�andernden Roman schrieb, und Volker Schl�ndorff, der diesem Film einen konzentrierten und doch angenehm entspannten Erz�hlrhythmus gab. Souver�n bewegt sich der Autor-Regisseur in Raum und Zeit. Ganz so wie die Hauptfigur: Die ist das Ma� aller Dinge in dieser menschlich erkenntnisreichen und packenden Filmerz�hlung. Thomas Thieme f�hrt den Zuschauer in das katastrophenschwere Schweigen (in) einer Familie. In seinem gro�artigen Spiel l�sst er aus der Diskrepanz zwischen K�rperlichkeit und Fein- bzw. Mitgef�hl eine zutiefst integre Person entstehen. Ein stilles, unaufdringliches Pl�doyer f�rs Miteinanderreden, f�rs Zuh�ren, f�r ein sachliches, ma�volles Abw�gen der Fakten. Und damit auch ein Kommentar zur Zeit.
Foto: ZDF / Conny KleinDer "Todesbote" Jakob Franck (Thomas Thieme) geht stoisch seinen Weg. Und doch wird seine Haut d�nner, kommen ihm die Hinterbliebenen immer n�her. Sein Credo als Kommissar: den Sinnen vertrauen statt kriminalistisches Wissen abrufen.
Jakob Franck (Thomas Thieme) kann es nicht lassen. Der pensionierte Kommissar �berbringt noch immer Angeh�rigen von Toten die „traurige Nachricht“. Mit seiner Erfahrung und der Reife seiner Jahre macht er das besser als die jungen Ex-Kollegen, und als geschiedener, beziehungsloser Hausmann wei� er mit seiner Zeit nicht viel anzufangen. Au�erdem sind es die Toten selbst, die ihn nicht loslassen. „Aus dieser Welt kehrt nie-mand unversehrt und traumlos zur�ck“, wei� der lebenskluge Mann. Jetzt kommt sogar ein alter Fall zu ihm zur�ck. Ludwig Winther (Devid Striesow) macht ihn mitverantwortlich f�r den Tod seiner Frau Doris (Ursina Lardi). Sie hat sich erh�ngt, zwei Jahre nach dem als Suizid zu den Akten gelegten Tod beider Tochter Esther (Stephanie Amarell). Franck f�hlt sich herausgefordert, nimmt die Bedenken des psychisch labilen Mannes ernst, der glaubt, dass seine Tochter ermordet wurde. Der „Todesbote“ sieht sich in die Rolle des Ermittelnden gedr�ngt. Denn es war f�r ihn ein besonderer „Fall“. Noch nie hatte er seine Distanz als Amtsperson so deutlich aufgegeben wie vor zwei Jahren, als er der Mutter der Toten beim �berbringen der Nachricht sieben Stunden lang in stiller Umarmung beigestanden hat. Und auch zur Beerdigung ist er gekommen. Jetzt will er herausfinden, was damals zwischenmenschlich geschah. Francks Intuition sagt ihm, „jemand hat Esther im Stich gelassen, als sie in Not war“.
Foto: ZDF / Conny KleinFranck (Thieme) nimmt den von einer Lebenskrise gesch�ttelten Ludwig Winther (Devid Striesow) ernst. Vielleicht ist den Kollegen tats�chlich ein Fehler unterlaufen?
„Ich war mir nicht sicher, ob genug Spannung f�r einen Film aufkommen w�rde, denn genau genommen ‚passiert’ ja nichts, kein Schusswechsel, keine Verfolgungsjagd oder �hnliches.“ (Volker Schl�ndorff, Buch & Regie)
Ein (privater) Kriminaler, zwei Tote, einige Verd�chtige – „Der namenlose Tag“ bringt alles mit, was den Film zu einem Krimi machen k�nnte, in Wahrheit aber ist er mehr als das, jedenfalls erz�hlt er sehr viel mehr als die zahlreichen Fernsehableger dieses Genres. Die Ehre geb�hrt Friedrich Ani, der die Vorlage schrieb, einen wunderbar m�andernden Roman mit einer gleicherma�en beharrlichen wie einf�hlsamen Hauptfigur, und vor allem Drehbuchautor und Regisseur Volker Schl�ndorff („Die Blechtrommel“), der sich in seinem 30. Spielfilm erstmals – zumindest dem Sujet nach – einem Krimi angenommen hat und der diesem Film einen konzentrierten und doch angenehm entspannten Erz�hlrhythmus gab. Szenen aus Gegenwart und Vergangenheit flie�en bruchlos, ohne jede Irritation, fast unmerklich ineinander. Dabei war sich der Oscar-Preistr�ger anfangs gar nicht so sicher, ob er das �berhaupt k�nne, „einen Primetime-Krimi f�r ein breites Publikum“. Die Bedenken waren �berfl�ssig. Mit seinem unverstellten Blick, scheinbar frei von dramaturgischen Zw�ngen, mit denen sich viel zu h�ufig TV-Routiniers an die Arbeit machen, gelingt es Schl�ndorff jenseits aller Konventionen den Betrachter mit dieser (auch film�sthetisch) klaren und behutsamen, menschlichen und erkenntnisreichen Filmerz�hlung zu verf�hren und immer mehr zu packen.
Foto: ZDF / Conny KleinBeistand ohne Ende: Sieben Stunden umarmt der �berbringer der Todesnachricht (Thomas Thieme) Doris Winther (Ursina Lardi). Sp�ter sagt ihre Zwillingsschwester, die von ihrem Schwager gar nichts h�lt: "Sie haben Ihr mehr geholfen als er."
Schl�ndorff �ber sein Bild- und Musikkonzept:
„Es sollte wirken wie ein Film aus der deutschen Stummfilmzeit, mit viel Stimmung, Hell-Dunkel-Kontrast, mit ‚Geistern’ und einer einfachen, klaren Kameraf�hrung. Der Einsatz der Musik geht auch in diese Richtung: einfach und klar, keine Spannungsmusik, eher Lyrisches, immerhin von Hans-Werner Henze und Max Richter. Es sind Musikst�cke, die zum Teil f�r fr�here Filme von mir komponiert wurden und die hier als Zitate Auferstehung feiern.“
Foto: ZDF / Conny KleinSieht so eine Selbstm�rderin aus? Stephanie Amarell als Esther Winther.
Souver�n bewegt sich der Autor-Regisseur in Raum und Zeit. Ganz so wie der Held der Geschichte: Jener Jakob Franck scheint in „Der namenlose Tag“ ohnehin das Ma� aller Dinge zu sein. Schlie�lich ist er es, der den alten Fall als Privatermittler auf seine Art zum Leben erweckt, der einen anderen Befragungsstil pflegt als herk�mmliche Profi-Ermittler und der mit seiner besonderen Methode der Introspektion, der sogenannten „Gedankenf�hligkeit“, die n�heren Umst�nde von Esthers Tod aufzukl�ren versucht. Und so liegt er nach einer Filmstunde in seinem Bett, der Blick Richtung Decke, wo er im Halbschlaf aus den Fetzen des Ermittelten (was bei ihm hei�t: des Beobachteten) den Tathergang imaginiert. Bei dieser unorthodoxen Methode liegt es nahe, dass auch das ersch�tternde Ergebnis nichts mit den herk�mmlichen Krimi-Aufl�sungen zu tun hat. Und so wird der Held auf seine alten Tage noch zu einem Moralisten, den zum ersten Mal die Geschichte hinter dem Fall, die menschliche Seite, mehr interessiert als die Aufkl�rung von Verbrechen oder das meist kurze Ritual des Beistands. Dieser Kommissar a.D. macht vor, wie Menschen miteinander umgehen sollten. Dabei deckt er das schmerzvolle, katastrophenschwere Schweigen (in) einer Familie auf: Er ermittelt Missverst�ndnisse, Vorurteile, Beschuldigungen, er sp�rt reichlich Schuldgef�hle auf, erkennt, wie tragisch alles miteinander verkn�pft ist – und er st��t auf m�gliche Wendepunkte, an denen die Geschichte eine andere Richtung h�tte nehmen k�nnen. Auch wenn das alles von Schl�ndorff erfreulicherweise nicht als lehrreiche Botschaft verpackt wird, so ist der Film ein stilles, unaufdringliches Pl�doyer f�rs Miteinanderreden, f�rs Zuh�ren, f�r ein sachliches, ma�volles Abw�gen der Fakten. Damit ist er freilich indirekt (und wahrscheinlich nicht unbedingt beabsichtigt) auch ein Kommentar zur Zeit.
Foto: ZDF / Conny KleinSchmerz, Schuldgef�hle & ein paar Gl�ser zu viel: die Wiederg�ngerin Inge Nemetzki (Lardi), die aber ganz anders ist als ihre Zwillingsschwester. Franck erkennt auch bei ihr wie bei allen, die er befragt: Jeder reimt sich seine eigene Wahrheit zusammen.
Dramaturgisch und psychologisch ist die Geschichte ganz fein ziseliert. Narrative Bez�ge verlaufen meist subkutan, die Beziehungen sind im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtig. Da irritiert das beil�ufig verwendete Adjektiv „anschmiegsam“ des Vaters den aufmerksamen Zuh�rer, ist dann aber rasch wieder vergessen, bevor es 30 Filmminuten sp�ter pl�tzlich um Missbrauchs-Vorw�rfe geht. Oder da trifft der Privatermittler die Zwillingsschwester der Selbstm�rderin, die stundenlang in seinen Armen lag, und aus dem Gespr�ch mit der unter starken Schuldgef�hlen leidenden Frau wird nat�rlich sehr viel mehr als ein Informationsgespr�ch. Der Held macht sich ein Bild von dieser Frau und zugleich ist es die Begegnung mit einer Wiederg�ngerin, die emotional anders ist.
„Der namenlose Tag“ l�sst unschwer erkennen, dass f�r den Regisseur Schl�ndorff die Arbeit mit den Schauspielern seit jeher das Wichtigste ist. Thomas Thieme war fr�h im Gespr�ch f�r diese Rolle – und er ist eine Wucht, auch wenn er nicht wie in seinen Rollen als Choleriker, Familienpatriarch oder Kiez-K�nig laut werden muss. Gerade aus dieser Diskrepanz zwischen K�rperlichkeit und Fein- bzw. Mitgef�hl erw�chst eine besondere, weil erst einmal nicht zu erwartende Sensibilit�t. Seine K�rpersprache gibt seiner Figur etwas Beharrliches und Bodenst�ndiges: Unerm�dlich und nie frustriert macht sich sein Ex-Polizist auf die Wahrheitssuche. Er ist alt, muss sich nichts mehr beweisen. Er macht es der Wahrheit – und ein St�ck weit auch der Menschen wegen: Vielleicht verbirgt sich hinter diesem Stoiker doch auch ein kleiner P�dagoge. Vor allem aber ist Jakob Franck ein Mann, der kein klassisch gl�ckliches Leben f�hrt, aber in sich ruht: eine zutiefst integre Person. Den mental wie emotional absoluten Gegenpart verk�rpert der von seinen Frauen verlassene Ludwig Winther, den Devid Striesow als Kleinb�rger und hibbeliges Nervenb�ndel spielt. Wenn er und Franck aufeinandertreffen, liegt eine hochexplosive Spannung in der Luft. Auf eine Spannung latent erotischer Natur kam es Schl�ndorff offensichtlich bei den nicht minder aufgeladenen Szenen zwischen Thieme und Ursina Lardi an. Dass einem als Zuschauer all diese intensiven Szenen in Erinnerung bleiben werden, w�re allerdings ohne diese Charaktere nicht m�glich. Sie besitzen Tiefe, Charisma, Eigensinn. Die Schauspieler erwecken sie traumwandlerisch sicher zum Leben. Und am Ende (ent)steht ein kleines Meisterst�ck. (Text-Stand: 12.1.2018)
Foto: ZDF / Conny KleinDie kreativen K�pfe des Films: Hauptdarsteller Thomas Thieme, Friedrich Ani, der den Roman schrieb, Volker Schl�ndorff, der das Drehbuch verfasste und Regie f�hrte. Die Idee zu der Romanverfilmung hatte der Produzent Jens C. Susa.
Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Pr�fer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr
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