Sterbehilfe
Die Sterbe­hilfe ist erneut in den Fokus geraten Bild: Desiree Gorges

Juni 2021: Eine Frau leidet an schwe­ren Depres­sio­nen und möchte nicht mehr leben. Sie nimmt Kontakt mit Chris­toph Turow­ski auf, einem Berli­ner Hausarzt im Ruhestand, der sich in einem Sterbe­hil­fe­ver­ein engagiert.

Zwei Wochen später stellt Turow­ski der 37-Jähri­gen Tablet­ten zur Selbst­tö­tung zur Verfü­gung. Die Frau erbricht die Tablet­ten und wird in eine geschlos­sene Psych­ia­trie einge­wie­sen. Gegen­über Turow­ski äußert sie weiter­hin den Wunsch, zu sterben. Nach ihrer Entlas­sung am 12. Juli legt er ihr in einem Hotel­zim­mer eine tödli­che Infusion, welche sie selbst auslöst – und in der Folge schließ­lich stirbt.

Zwischen Totschlag und Patien­ten­wille

Knapp drei Jahre später, am 8. April 2024, wird der inzwi­schen 74-jährige Turow­ski vom Berli­ner Landge­richt wegen Totschlag zu drei Jahren Haft verur­teilt. Bereits zu Prozess­be­ginn hat er angekün­digt, im Fall einer Verur­tei­lung Rechts­mit­tel einzu­le­gen, denn der frühere Hausarzt ist überzeugt, das Richtige getan zu haben. Er habe die „große seeli­sche Not und Entschlos­sen­heit“ gesehen, mit der die Frau ihrem Leben andern­falls auch gewalt­sam ein Ende gesetzt hätte.

Es war nicht das erste Mal, dass sich der Berli­ner wegen Hilfe zum Suizid vor Gericht verant­wor­ten musste. Im Jahr 2018 war er angeklagt, weil er fünf Jahre zuvor – er prakti­zierte noch als Hausarzt – einer Patien­tin mit einer unheil­ba­ren chroni­schen Darmer­kran­kung beim Sterben gehol­fen und sie dabei über 60 Stunden beglei­tet hatte.

Der Prozess endete mit einem Freispruch. Der Patien­ten­wille sei zu achten, hieß es in der Begrün­dung zum Urteil, welches 2019 auch vom Bundes­ge­richts­hof bestä­tigt wurde.

Sterbe­hilfe: Freier Wille oder Beein­flus­sung?

Letzt­end­lich münden beide Fälle in densel­ben Fragen:

  • Resul­tiert der Wunsch zu sterben aus einem freien Willen?
  • Kann man von einem freien Willen sprechen, wenn der Todes­wunsch einer schwe­ren psychi­schen, theore­tisch behan­del­ba­ren Krank­heit entspringt?
  • Was ist, wenn eine schwere körper­li­che Erkran­kung eine psychi­sche Krank­heit samt Suizid­ge­dan­ken überhaupt erst auslöst?
  • Welchen Einfluss haben Dritte auf den freien Willen?
  • Wann wird aus Hilfe Druck?

Die Fragen spiel­ten im jüngs­ten Prozess und im Prozess von 2018 direkt oder indirekt eine Rolle. Bei Letzte­rem wurde dem angeklag­ten Arzt „Tötung auf Verlan­gen durch Unter­las­sen bzw. positi­ves Zutun“ zur Last gelegt, die Staats­an­walt­schaft forderte eine Geldstrafe von 18.000 Euro. Dabei war nicht maßgeb­lich, dass er als Hausarzt einer langjäh­ri­gen Patien­tin Medika­mente zur Selbst­tö­tung verschrie­ben und somit Beihilfe geleis­tet hatte.

Vorge­wor­fen wurde ihm, dass er die 44-Jährige nach der Einnahme mehrfach aufge­sucht hatte, ohne Rettungs­maß­nah­men einzu­lei­ten. Darüber hinaus stand die Verab­rei­chung eines Antibrech­mit­tels und eine als stiller Hilfe­ruf inter­pre­tier­bare Suizid­ab­sicht im Raum.

Am Ende hatten diese Vorwürfe aber keinen Bestand, auch weil die unheil­bar kranke Frau im Laufe ihres Lebens schon mehrere Suizid­ver­su­che unter­nom­men hatte. Nach Auffas­sung des Gerich­tes hatte sie „frei von Willens­män­geln die Entschei­dung getrof­fen, zu sterben.“

Im zweiten Prozess war dies nach Ansicht der Richter nicht der Fall. Während Turow­ski zu keiner Zeit an der „Urteils- und Entschei­dungs­frei­heit“ der depres­si­ven Frau gezwei­felt haben will, sah das Gericht sie nicht zur freien Willens­bil­dung fähig. Auch habe die Frau in ihrem Wunsch bis zuletzt immer wieder geschwankt. Turow­ski habe somit die „Grenzen des Zuläs­si­gen überschrit­ten.“

Sterbehilfe
Sterbe­hilfe in Deutsch­land: Was ist erlaubt, was nicht? Bild: Desiree Gorges

Die depres­sive Frau hat in diesem Fall die Infusion zwar selbst ausge­löst, dennoch bewegte sich Turow­ski mit seiner Beihilfe in einer Grauzone. Im Rückblick zeigen die wechsel­hafte Rechts­lage und Entwick­lung der letzten Jahre, warum das so ist: 

Bis 2015

Für schwer kranke Patien­ten ist es in Deutsch­land möglich, mit der Hilfe eines Sterbe­hil­fe­ver­eins Suizid unter ärztli­cher Aufsicht zu begehen.

Dezem­ber 2015

Um die Auswei­tung von Sterbe­hil­fe­ver­ei­nen zu verhin­dern, wird im Zuge einer Geset­zes­re­form die „geschäfts­mä­ßige Förde­rung der Selbst­tö­tung“ mit der Neufas­sung des § 217 StGB verbo­ten. Menschen sollen sich nicht an die organi­sierte Form des Suizids gewöh­nen oder zum Sterben gedrängt fühlen, wenn sie alt oder schwer krank sind.

Die Debatte, die sich rund um diese Reform entzün­det, dreht sich auch um eine mögli­che Straf­bar­keit von Ärztin­nen und Ärzten im Sinne einer geschäfts­mä­ßi­gen Förde­rung, zum Beispiel wenn sie bestimmte Medika­mente öfter verschrei­ben und Patien­ten diese überdo­siert einneh­men.

Februar 2020

Nach mehre­ren Verfas­sungs­be­schwer­den von schwer­kran­ken Menschen, Verei­nen und einzel­nen Medizi­nern, erklärt das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt das Verbot zur geschäfts­mä­ßi­gen Förde­rung der Selbst­tö­tung für verfas­sungs­wid­rig und hebt das Straf­ge­setz wieder auf: Das Recht auf selbst­be­stimm­tes Leben umfasst gemäß dieser Entschei­dung nämlich das ausdrück­li­che Recht, das Leben selbst­be­stimmt zu beenden – auch mit der freiwil­li­gen Hilfe Dritter.

Gleich­zei­tig fordert das Gericht den Gesetz­ge­ber zu einer Neureg­lung der Sterbe­hilfe auf.

Juli 2023

Zwei Gesetz­ent­würfe zur Neure­ge­lung der Sterbe­hilfe schla­gen unter anderem vor, bestimmte Medika­mente zum ausdrück­li­chen Zweck der Selbst­tö­tung im Betäu­bungs­mit­tel­ge­setz festzu­schrei­ben. Während eine Initia­tive Ärztin­nen und Ärzten grund­sätz­lich die Freiheit einräu­men will, unter bestimm­ten Voraus­set­zun­gen tödli­che Mittel verschrei­ben zu dürfen, sieht der andere Vorschlag eine grund­sätz­li­che Straf­bar­keit vor.

Beihilfe wäre demnach nur möglich, wenn bestimmte Voraus­set­zun­gen wie psych­ia­tri­schen Unter­su­chun­gen und Beratun­gen erfüllt werden.

Beide Vorschläge finden keine Mehrheit im Bundes­tag.

Wann ist der Wille frei?

Die bis heute immer noch fehlende gesetz­li­che Regelung bemän­gelte auch der Anwalt von Arzt Turow­ski in seinem Plädoyer. Für seinen Mandan­ten ist der jüngste Prozess nicht gut ausge­gan­gen, aber vielleicht nimmt der Gesetz­ge­ber ihn zum Anlass, die Sterbe­hilfe-Thema­tik auf ein Neues anzuge­hen und die große Frage zu regeln, die Ärztin­nen und Ärzte nach der aktuel­len Rechts­lage in die Grauzone treibt: Wann ist ein freier Wille tatsäch­lich ein freier Wille?

FAQs

Worum geht es in dem Sterbe­hilfe-Prozess genau?

Ein Arzt im Ruhestand, der sich in einem Sterbe­hil­fe­ver­ein engagiert, hat einer depres­si­ven Frau Beihilfe zum Suizid geleis­tet.

Warum ist der Arzt zu 3 Jahren Haft verur­teilt worden?

Der Arzt bewegte sich in einer Grauzone: Nach derzei­ti­ger Rechts­lage ist der freie Wille zum Suizid maßgeb­lich. Die Richter sahen die freie Willens­bil­dung wegen der psychi­schen Erkran­kung der Frau nicht als gegeben an.

Was bedeu­tet das Urteil?

Das Urteil verdeut­licht die Notwen­dig­keit einer Neure­ge­lung der Sterbe­hilfe. Dazu ist der Gesetz­ge­ber vom Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt seit 2020 aufge­for­dert. Zwei Gesetz­ent­würfe, die im Sommer 2023 zur Abstim­mung standen, fanden keine Mehrheit.

Fazit

Ärztin­nen und Ärzte dürfen in Deutsch­land Beihilfe zum Suizid leisten, indem sie ein tödli­ches Mittel beschaf­fen oder zur Verfü­gung stellen. Das Mittel muss die betrof­fene Person sich selbst verab­rei­chen, darüber hinaus muss ihr Todes­wunsch das Ergeb­nis einer freien Willens­bil­dung sein.

Da seit einer Entschei­dung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts aus dem Jahr 2020 eine klare gesetz­li­che Regelung fehlt, die den freien Willen und den ärztli­chen Handlungs­rah­men absteckt, bewegen sich Medizi­ner bei der Beihilfe zum Suizid derzeit in einer recht­li­chen Grauzone.

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