FormalPara Fallbeispiele

Herr M. hat Krebs im Endstadium. Die Ärzte bieten ihm eine weitere Chemotherapie an, in der Hoffnung, seine Überlebenszeit um einige Monate zu verlängern. Lehnt Herr M. diese ab, hat er eine kürzere Lebenserwartung; er würde die ihm verbleibende Zeit zu Hause verbringen. Akzeptiert er die Therapie, ist die Lebenserwartung einige Monate länger; einige Wochen davon würde er im Krankenhaus behandelt werden müssen. Herr M. muss dringend entscheiden, ob er die Therapie beginnen möchte oder nicht.

Frau H. ist seit vielen Jahren alkoholabhängig. Seit einigen Wochen ist sie in einer Klinik, um zum dritten Mal einen Entzug zu versuchen. Frau H. möchte keinen Alkohol mehr konsumieren. Sie weiß, dass sie für das Leben, das sie sich wünscht, abstinent sein muss. Trotzdem trinkt sie in einer persönlich belastenden Situation in der Klinik erneut Alkohol und sagt, sie habe nicht anders gekonnt, obwohl sie nicht trinken wollte.

In beiden Fällen geht es um schwerwiegende Entscheidungen, die von mannigfaltigen Faktoren beeinflusst sind. Die Fälle unterscheiden sich deutlich, auch weil sich die Frage nach der Freiheit des Willens in den Entscheidungssituationen ganz unterschiedlich stellt.

1 Freier Wille in der Klinik

Sind wir frei in unseren Entscheidungen? Diese Frage lässt sich auf viele Weisen verstehen und beantworten. Unsere Antwort auf die Frage zeigt uns etwas über unser Bild vom Menschen, über unsere Erwartungen und Deutungen und nicht zuletzt über unser Selbstverständnis. Wie selbstbestimmt sind wir? Wie frei können wir entscheiden?

In der Klinik stellen sich diese Fragen in ganz verschiedenen Situationen: Es lässt sich unterscheiden zwischen

  • der grundsätzlichen Infragestellung des freien Willens auf der Basis neurophysiologischer Untersuchungen und

  • der klinischen Infragestellung des freien Willens einzelner Patienten auf der Basis pathologischer Befunde.

So ist die Diskussion des freien Willens keinesfalls nur für pathologische Fälle klinisch relevant, sondern auch generell, wenn es um Entscheidungen von Patienten, Angehörigen und Ärzten geht.

Wenn ein Patient sich entscheidet, sich gegen den Rat eines Arztes nicht behandeln zu lassen, wie frei ist sein Wille dann? Was, wenn er sich trotz vernünftiger Gründe gegen die Behandlung entscheidet? Was bedeutet das für unsere Bewertung seiner Entscheidung?

Wenn ein Patient, der unter einer Substanzabhängigkeit leidet, erklärt, er wolle nichts mehr konsumieren, ist er dann frei in seinem Willen, wenn er es trotzdem tut? Wenn ein Patient mit einer Zwangsstörung immer wieder bestimmte Handlungen ausführt oder stereotype Gedankengänge verfolgt, ohne es zu wollen, ist er dann frei in seinem Willen? Können diese Patienten über Willenskraft und Selbstkontrolle das erreichen, was sie möchten?

Die Debatte um Substanzabhängigkeit und Freiheit im Kontext eines umstrittenen Krankheitsmodells von Sucht soll hier nicht geführt werden. Der Leser sei hierfür auf eine Sammlung in der Zeitschrift Frontiers in Psychiatry zum Thema Alternative models of addiction verwiesen (Pickard et al. 2015).

Unser Verständnis vom freien Willen beeinflusst entscheidend, wie wir uns und andere verstehen und behandeln. Sind Patienten in der Lage, für sich zu entscheiden was sie wollen? Falls sie es sind, dann ziehen wir sie auch für ihre Entscheidung zur Verantwortung. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass Patienten aus grundsätzlichen Gründen nicht frei entscheiden können, weil neurophysiologische Prozesse ohne ihre Einflussnahme die Entscheidung schon vor der Bewusstwerdung festlegen, dann verändert sich unsere Einschätzung bezüglich der Verantwortung für diese Entscheidungen.

Die folgenden Überlegungen sollen dazu dienen, ein Verständnis für die Fragestellungen rund um die Willensfreiheit zu gewinnen und Antworten zu entwickeln, die praxis- und lebensrelevant sind.

2 Der Streit um den freien Willen – worum geht es?

»Freier Wille – eine Illusion?« »Und der Wille ist doch frei!« – so ist es in Zeitungsartikeln zu lesen, gefolgt von Auseinandersetzungen mit Ergebnissen aus neurowissenschaftlichen Laboren und philosophischen Diskussionen (eine Zusammenstellung einer Serie im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung findet sich bei Geyer 2004, eine ausführliche neurophilosophische Diskussion bei Walter 1998). Worum geht es dabei eigentlich? Was ist der Wille? Und wovon könnte oder sollte er frei sein?

In den meisten Kontexten erleben wir uns als frei. Selbst wenn unsere konkreten Entscheidungen in verschiedenem Maße durch Motive, Anlässe und soziale Kontexte mit Prägungen, Erwartungen und Verpflichtungen beeinflusst sein können, so stellen wir grundsätzlich die Freiheit unserer Entscheidung nicht infrage und nehmen unseren Willen als Basis für unsere Entscheidungen als frei wahr. Auf diesen Annahmen basieren unsere Einstellungen, Bewertungen und Handlungen in Bezug auf Verantwortlichkeit und Schuldzuweisungen: Nur wer frei ist, kann verantwortlich für sein Handeln sein. Bei eingeschränkter Willensfreiheit wird in der Regel auch die Schuldfähigkeit als eingeschränkt bewertet.

Was bestimmt unseren Willen? Oder: Wer bestimmt unseren Willen – sind wir es, oder unsere Gehirne? Seit einigen Jahren wird von einigen Neurowissenschaftlern und Psychologen unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit die These vertreten, dass nicht wir es sind, die unseren Willen und die daraus resultierenden Handlungen bestimmen, sondern unser Gehirn. Wir seien nicht frei, unsere Handlungen zu steuern – die Willensfreiheit sei eine Illusion. Solchen Thesen folgen dann oft Spekulationen und Forderungen zu den Auswirkungen auf die Klinik, die Rechtsprechung, die Erziehung – und nicht zuletzt auf unser Menschenbild.

Worum geht es in dieser Debatte? Es besteht einige Verwirrung zwischen den Disziplinen, denn »Freiheit« verstehen die Neurowissenschaftler oft anders als die Psychologen, diese wiederum anders als die Philosophen, und die Rechtswissenschaftler haben ein wieder anderes Verständnis. Was genau ist gemeint, wenn vom freien Willen gesprochen wird? Die Überlegung des Philosophen Immanuel Kant, Freiheit als das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, zu verstehen, wird aus verschiedenen Perspektiven infrage gestellt (Bieri 2001).

In diesem Kapitel soll erklärt werden, welche neurowissenschaftlichen Grundlagen der wahrgenommenen Provokation zugrunde liegen, daran schließt sich eine Übersicht über die Hauptpositionen und Kernkonzepte in der Debatte an, und die resultierenden Positionen werden diskutiert. Darauf aufbauend wird eine pragmatische Position vorgeschlagen, die kompatibel mit den Ergebnissen der Neurowissenschaften ist, gleichzeitig unserem Alltagsverständnis gerecht wird und damit auch eine tragfähige Basis für die Klinik bieten kann.

3 Die Ausgangslage: neurowissenschaftliche Befunde

3.1 Das zu frühe Bereitschaftspotenzial – Interpretation und Kritik

Den Ursprung für die Überlegungen dazu, dass nicht wir es seien, sondern unsere Gehirne, die entscheiden, und wir somit nur glaubten, wir entschieden, finden sich spätestens bei den Stimulationsexperimenten von Wilder Penfield. Der Neurochirurg hat Mitte des letzten Jahrhunderts während Operationen zur Behandlung von Epilepsie durch Stimulationen spontane Bewegungen provoziert, die von den Patienten zwar als ihre eigenen Akte (sie sahen, dass ihr Arm sich bewegte), jedoch nicht als von ihnen initiiert (also nicht als Willensakte), wahrgenommen wurden. Patienten konnten den Unterschied zwischen den selbst gewollten Handlungen und den durch Stimulation hervorgerufenen erkennen (Penfield 1975).

Studien mit elektrischer Stimulation an Patienten, die während einer Gehirnoperation wach sind, werden auch heute noch zur Erforschung von Zusammenhängen bewusster und unbewusster Prozesse unter externer Stimulation genutzt, wie z. B. von Desmurget et al. (2009), die durch Stimulation rechter inferiorer parietaler Regionen Intentionen zu Bewegungen evozierten.

Später wurde mit anderen Methoden untersucht, was genau einen Menschen wollen lässt. 1965 beschrieben die Neurologen Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke, dass einer selbst initiierten Bewegung des Handgelenks oder des Fingers ein Bereitschaftspotenzial in Form einer charakteristischen negativen Potenzialwelle, meist frontal oder parietal, vorausgehe (Kornhuber u. Deecke 1965). Etwa 500 ms vor Beginn einer willkürlichen Bewegung kann ein Potenzialanstieg gemessen werden, der der subjektiv wahrgenommenen Entscheidung eines Probanden um ca. 200 ms vorausgeht.

Zentral für die Debatte um den freien Willen und vermutlich die meistzitierten Befunde sind die Experimente des Physiologen Benjamin Libet, der in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts das Verhältnis von Körper und Geist untersuchen wollte (u. a. Libet 1985). Die Probanden in Libets heute berühmten Experimenten wurden aufgefordert, innerhalb einer Zeitspanne von 3 s spontan eine Fingerbewegung auszuführen. Dabei sollten sie sich genau die Position eines umlaufenden Lichtpunktes auf einem Bildschirm-Zifferblatt merken, und zwar exakt zu dem Zeitpunkt, an dem sie subjektiv den »Drang« hatten, die Entscheidung zur Fingerbewegung zu fällen – in Libets Worten: »eine bestimmte vorgegebene, selbstinitiierte Bewegung durchführen zu wollen« (Libet et al. 1983, S. 627).

Wie zu erwarten war, lag der Zeitpunkt dieses berichteten »Dranges« eine Weile vor der Ausführung, im Durchschnitt ca. 200 ms. Das Entscheidende aber war ein Befund, der Libet überraschte: bereits ca. 500 ms bevor die Probanden den Drang verspürten und sich die entsprechende Position auf dem Bildschirm merkten, wurden symmetrische Bereitschaftspotenziale in supplementären motorischen Arealen ableitbar – ohne dass dies von den Probanden bemerkt wurde.

Diese Befunde waren ausschlaggebend für eine folgenreiche Interpretation:

Schlüsse aus den Libet-Experimenten

  • Die Ausführung einer Handlung wird diesen Experimenten zufolge im Gehirn eingeleitet.

  • Einige hundert Millisekunden bevor wir den Eindruck haben, bewusst eine Entscheidung zu treffen, uns auf eine Handlung festzulegen, erfolgt diese Festlegung bereits durch einen unbewussten Hirnprozess.

  • Die scheinbar willentliche Handlungsinitiierung durch uns wäre demnach eine Illusion – im Gehirn seien die Prozesse schon vorher initiiert, wir nähmen diese nur im Nachhinein als von uns gesteuert wahr.

Bis heute gibt es keinen eindeutigen Nachweis, dass wir uns nicht auch gegen eine vorbereitete Entscheidung des Gehirns entscheiden können – so, wie es bereits Libet mit seiner Beschreibung der Möglichkeit eines »Vetos« vorgeschlagen hat. Noch kurz vor der geplanten Ausführung, die durch das Gehirn vorbereitet wird, könne ein bewusstes Veto diese spontan unterbrechen und damit eine Kontrollfunktion übernehmen. Allerdings ist auch das Veto neurophysiologisch basiert, wie es spätere Studien von Kühn und Brass (2009) nahelegen.

Eine interessante Randnotiz: Libet selbst verstand seine Experimentes nicht als Widerlegung der Existenz der Willensfreiheit. Libet und Kollegen veröffentlichten 1983 den Artikel Time of Conscious Intention to Act in Relation to Onset of Cerebral Activity (Readiness-Potential) – The Unconscious Initiation of a Freely Voluntary Act (Libet et al. 1983), dessen Titel nahelegt, dass es bei der zerebralen Aktivität um die Initiierung geht; die Handlung aber bezeichnet Libet weiterhin als frei und freiwillig – von einer Illusion ist hier keine Rede. Bis heute wurden keine direkten neurophysiologischen »Korrelate« von Wille und Freiheit gefunden – vielleicht ist dies prinzipiell nicht möglich? Der Neurochirurg Penfield hat treffend beobachtet: »There is no place in the cerebral cortex where electrical stimulation will cause a patient to believe, decide or will« (Penfield 1975, S. 77).

3.2 Weitere empirische Befunde auf der Suche nach dem freien Willen

In den 1990er Jahren haben die Psychologen Patrick Haggard und Martin Eimer (1999) Libets Versuche modifiziert, indem sie Versuchspersonen erlaubten, zu einem frei gewählten Zeitpunkt innerhalb von 3 s eine vorgegebene Taste zu drücken und dabei selbst zu entscheiden, ob sie die linke oder die rechte Taste drücken wollten. Der Beginn des lateralisierten Bereitschaftspotenzials (Libet maß hingegen das bilateralsymmetrische Bereitschaftspotenzial, das noch relativ unspezifisch war) lag durchschnittlich 350 ms vor dem Zeitpunkt der subjektiv empfundenen Entscheidung.

Schlüsse aus den Experimenten von Haggard und Eimer

  • Die Ergebnisse von Libets Studien wurden bestätigt und spezifiziert.

  • Das Gefühl, etwas genau jetzt zu wollen, entwickelt sich nach Beginn des Bereitschaftspotenzials.

Immer noch auf der Suche nach den neuronalen Prozessen, die einer Entscheidung vorausgehen und sie bestimmen, haben 2008 Neurowissenschaftler um John-Dylan Haynes, damals am Max-Planck-Institut in Leipzig, mithilfe der Magnetresonanztomographie untersucht, welche Prozesse der bewussten Entscheidung vorausgehen (Soon et al 2008). In einer Studie konnten die Testpersonen entscheiden, ob sie mit der rechten oder der linken Hand einen Knopf betätigten. Anschließend gaben sie an, zu welchem Zeitpunkt ihre Entscheidung gefühlsmäßig gefallen war. 7 s vor der bewussten Entscheidung konnte, mit 60%iger Genauigkeit, aus der Aktivität des präfrontalen und parietalen Kortex berechnet werden, welche Hand der Proband betätigen würde. Wieder konnte gezeigt werden, dass im Gehirn die Entscheidung zur Handlung vorbereitet wurde, bevor sie den Probanden bewusst wurde.

Schlüsse aus den Experimenten von Haynes und Mitarbeitern

  • Die Entscheidung zur Handlung wird auf neuronaler Ebene angebahnt; sie ist aber zu dem Zeitpunkt möglicherweise noch nicht endgültig gefallen.

  • Nach der Vorbereitung des Entscheidungsprozesses im frontopolaren Kortex werden die dort verarbeiteten Informationen über die geplante Handlung in andere Bereiche des Gehirns übermittelt.

  • Bevor die Entscheidung getroffen wird, sind weitere Prozesse wirksam.

Um die Experimente weiterzuentwickeln und v. a. die Art der Entscheidung schrittweise realitätsnaher zu gestalten, führten die Kollegen um Haynes (mittlerweile an der Charité in Berlin) weitere Studien durch, mit denen sie u. a. auch ihren methodischen Ansatz weiterentwickelten. Untersucht wurde 2013 eine andere Art der Entscheidung als die über den Zeitpunkt, wann ein Knopf zu drücken ist: Testpersonen sollten entscheiden, ob sie zwei ihnen präsentierte Zahlen addieren oder subtrahieren wollten – sie entwickelten also eine Absicht zu einer Handlung (Soon et al. 2013). Die Wissenschaftler konnten ca. 4 s im Voraus mit einer Wahrscheinlichkeit von ca. 70% aus den Mikromustern der neuronalen Aktivität das Ergebnis der Entscheidung vorhersagen.

Der Psychologe Daniel Wegner stellt den freien Willen komplett und in provokanter Weise infrage und erklärt, dass wir Handlungen immer dann fälschlicherweise als selbstverursacht wahrnehmen, wenn wir unmittelbar vor der Handlung einen Gedanken erleben, der konsistent mit dieser Handlung ist (Wegner 2002). Er führte eine Reihe von Experimenten durch, in denen er das Gefühl der Urheberschaft, das zentral für den freien Willen ist, manipulierte. Er konnte zeigen, dass sich der Eindruck, eine Handlung selbst initiiert, also gewollt zu haben, experimentell herstellen lässt, ohne dass der Wille dabei eine Rolle spielt. Wenn wir glauben, dass wir etwas frei wollen, wenn wir also das Gefühl bewussten Willens haben, basiere das auf einem scheinbar kausalen Zusammenhang zwischen Gedanken und Handlungen. In Wahrheit aber, so Wegner, gäbe es keine Möglichkeit der Einflussnahme von Gedanken auf Handlungen. Er folgert: »Conscious will is an illusion … in the sense that the experience of consciously willing an action is not a direct indication that the conscious thought has caused the action« (Wegner 2002, S. 2). Unsere Erfahrung des freien Willens sei eine nachträgliche Rechtfertigung für unsere Handlungen, die Wegner auch evolutionsbiologisch begründet, da das Gefühl der Urheberschaft unseres Willens helfe, uns zu verstehen und Verantwortung und Moral zu entwickeln.

4 Interpretationen und Diskussionen in verschiedenen Disziplinen

4.1 Kritische Auseinandersetzung und offene Fragen

Die Deutung der Experimente hinsichtlich der Frage nach der Willensfreiheit wird kritisch diskutiert: Geht es bei einer so künstlich erzeugten Situation wie in den Libet-Experimenten (und auch den anderen Entscheidungen unter Laborbedingungen) überhaupt um eine Willensentscheidung? Sind die Prozesse zur Entscheidung nicht schon durch die Erklärung der Aufgabe vorbereitet? Es war bei den Libet-Experimenten schließlich schon durch die Aufgabenstellung im Experiment klar, dass die Probanden eine genau bestimmte Handlung ausführen würden – es ging dann nur noch um den genauen Zeitpunkt in einem 3-Sekunden-Fenster. Dabei ist es nicht überraschend, ein Bereitschaftspotenzial zu messen – die Vorbereitung läuft durch Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprozesse, die durch die Aufgabenstellung angestoßen werden. Zudem ist das Potenzial schwach, sodass es nur durch Mittelung vieler Versuchsdurchgänge (ca. 40) festgestellt werden kann. Das bedeutet, dass die Probanden die Aufgabe viele Male hintereinander durchführten und dabei nur den zeitlichen Ablauf selbst bestimmten.

Judy Trevena und Jeff Miller konnten zeigen, dass das Bereitschaftspotenzial nicht nur bereits durch Antizipation oder Motivation ausgelöst werden kann, sondern außerdem auch dann, wenn man die Handlung nicht durchführt – es ist ein Bereitschaftspotenzial (Trevena u. Miller 2010).

Ein grundsätzliches Problem, das Studien zur Willensfreiheit zu berücksichtigen hatten und haben, ist das Folgende: Wie kann man den genauen Moment der Bewusstwerdung einer Entscheidung messen? Ist es plausibel, Willen und Entscheidungen so zu verstehen, dass sie durch eine Momentaufnahme im Millisekundenbereich erfasst und wahrgenommen werden können? Wir fühlen eine Absicht nicht so deutlich, wie wir einen Schmerz fühlen – zumindest nicht auf die Millisekunde genau.

Zudem bleibt bei allen Experimenten eine zentrale Frage bestehen: Lassen sich die Erkenntnisse aus Experimenten zu basalen Entscheidungsprozessen unter Anleitung im Labor auf Entscheidungen unserer Lebenswelt, in denen komplexe individuelle Kontexte gedeutet und bewertet werden, übertragen?

Schließlich ist zu berücksichtigen, dass für alle Experimente und ihre Deutungen die zugrundeliegende Theorie über Bewusstsein und damit über den Zusammenhang von Körper und Geist, entscheidend ist. Es ist genau zu betrachten, welche Annahmen die diskutierenden Forscher bezüglich dieser Fragen haben, da die Deutungen darauf basieren. Dazu mehr in Abschn. 2.7.

4.2 Diskussion neurowissenschaftlicher Befunde und ihrer Konsequenzen

Obwohl die Studien von Benjamin Libet die wohl am meisten zitierten in der Diskussion um die Willensfreiheit sind, ist die Debatte erst gut 20 Jahre nach seinen Experimenten öffentlich wirksam geworden. In Deutschland vertreten einige sehr präsente Neurowissenschaftler die Meinung, basierend auf den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und mit unterschiedlicher Schärfe und Vehemenz, dass wir keinen freien Willen hätten. Die Neurowissenschaften zeigten, dass unser Gehirn schon vor unserer Wahrnehmung entscheide und wir nur den Eindruck hätten, selbst zu bestimmen. Die Argumente gegen die Existenz der menschlichen Freiheit basieren auf den o. g. Studien, ziehen aber auch weitere neurowissenschaftliche Entwicklungen und Befunde hinzu.

Der Neurobiologe Gerhard Roth folgert aus den Libet-Experimenten, dass der von uns gefühlt freie Entschluss nur die Folge eines Prozesses sei, den das Gehirn schon vorher initiiert habe und der auch ohne das subjektive Gefühl des Entschlusses bestehen würde (Roth 2001). Die Freiheit sei eine Illusion, nur das Erleben der Freiheit sei eine Realität. Wir hätten nur nachträglich die Illusion, uns frei entschieden zu haben. Roth diskutiert basierend auf seiner Argumentation, welche Auswirkungen die Befunde auf das Strafrecht haben sollten und schlägt eine Revision des bestehenden Strafrechts vor, da der Mensch ohne freien Willen nicht schuldfähig sei.

Wolf Singer greift auf eine Vielzahl von neurowissenschaftlichen Studien zurück, wenn er erklärt, dass alle Zusammenhänge determiniert seien und für einen bewussten Willensprozess, der den Kriterien der Willensfreiheit genügt, kein Raum bestehe (Singer 2003). Eine Instanz des freien Willens oder einer verantwortlichen Entscheidung sei (zumindest bis jetzt) neurowissenschaftlich nicht nachzuweisen. Der Neurowissenschaftler ist jedoch zurückhaltender mit der Bezeichnung »Illusion«, wenn es um das Freiheitserleben, das wir in der Erste-Person-Perspektive haben, geht: »Wir sind gespalten zwischen dem, was wir aus der Erste-Person-Perspektive über uns wahrnehmen, und dem, was uns wissenschaftliche Analyse aus der Dritte-Person-Perspektive über uns lehrt. Wir müssen in beiden Welten gleichzeitig existieren« (Singer 2003, S. 12). Auch Singer regt ein Neudenken in Bezug auf Schuldfähigkeit, Strafe und Erziehung an – unser Menschenbild müsse durch die Befunde der Neurowissenschaften revidiert werden.

Wolfgang Prinz hat die Schlussfolgerungen der Neurowissenschaftler, die sich an der (öffentlichen) Debatte um den freien Willen beteiligen, auf die Formel gebracht: »Wir tun nicht, was wir wollen; wir wollen, was wir tun« (Prinz 1996, S. 98ff.) Es stellt sich hier natürlich die Frage, warum wir uns als frei entscheidend erleben – warum haben wir diese Illusion, warum wollen wir, was wir tun?

5 Handeln wir frei? Wollen wir frei? Kriterien und Positionen

In der philosophischen Debatte um die Willensfreiheit werden meist mehrere Bedingungen für Freiheit diskutiert:

Bedingungen für Freiheit

Eine Person ist dann frei, wenn sie

  • Urheber ihrer Entscheidung ist, die Wahl also von ihr abhängt.

  • Alternativen zur Wahl hat, sodass sie sich auch anders entscheiden könnte, als sie es tut (wir können fragen: »Hätte sie anders handeln können?«).

  • die Kontrolle über ihre Entscheidung hat und keinem Zwang unterworfen ist.

Eine Person ist also frei, wenn sie Urheber ihrer Entscheidungen und Handlungen ist, sich anders entscheiden kann und Kontrolle über ihre Entscheidungen und Handlungen hat.

Es ist umstritten, wie diese Kriterien zu interpretieren sind, und v. a., ob sie realisierbar sind, wenn in der Welt alles durch Naturgesetze beschreibbar ist und mit naturgesetzlicher Notwendigkeit Ereignisse aus anderen Ereignissen folgen. Die Annahme, dass alle Ereignisse eindeutig durch kausale Zusammenhänge vorherbestimmt sind, sodass es zu jeder Zeit nur eine mögliche Zukunft, nur eine mögliche Weiterentwicklung gibt, wird Determinismus genannt.

Es gibt verschiedene Positionen in der philosophischen Diskussion bezüglich der Frage, ob die Freiheit des Willens mit dem Determinismus vereinbar ist oder nicht:

  • Inkompatibilisten vertreten die Position der Unvereinbarkeit,

  • Kompatibilisten die der Vereinbarkeit:

Inkompatibilismus

Hiernach ist Freiheit mit Determinismus nicht vereinbar. Inkompatibilisten können sich für einen von zwei Argumentationswegen entscheiden: Entweder sie verneinen die Willensfreiheit – dann können sie den Determinismus vertreten (harter Determinismus), oder sie verneinen den Determinismus – dann können sie die Willensfreiheit annehmen (Libertarier ): Harte Deterministen sagen: Entscheidungen sind naturgesetzlich (neuronal, physikalisch, chemisch) verursacht. Willensfreiheit kann es deswegen nicht geben. Harte Deterministen gehören zu den Freiheitsskeptikern, die den freien Willen grundsätzlich ablehnen. Libertarier halten dagegen: Es gibt freie Entscheidungen in der Welt – der Determinismus ist falsch.

Kompatibilismus

Nach dieser Position ist Freiheit unter bestimmten Umständen mit Determinismus vereinbar. So ist es für den Kompatibilisten denkbar, dass unser Wille frei ist und unsere Handlungen gleichzeitig neuronal determiniert sind. Eine Spielart des Kompatibilismus ist der weiche Determinismus. Weiche Deterministen sagen, es gebe Willensfreiheit und der Determinismus sei wahr, beeinflusse die Willensfreiheit aber nicht.

David Hume, der als Kompatibilist mit »versöhnlichen Absichten« zwischen Freiheit und Notwendigkeit vermitteln wollte, erklärte: »Denn was verstehen wir eigentlich unter Freiheit in ihrer Anwendung auf Willenshandlungen? Sicherlich nicht, daß Handlungen eine so geringe Verknüpfung mit Beweggründen, Neigungen und Umständen haben, daß nicht jene mit einer gewissen Gleichförmigkeit aus diesen folgten, und daß nicht die einen eine Ableitung erlaubten, durch die wir das Dasein der anderen erschließen könnten. Denn dies sind offenbare und anerkannte Tatsachen« (Hume 1993, S. 112). Heute gibt es nur wenige Philosophen, die einen kompatibilistischen und damit einen schwachen Freiheitsbegriff komplett ablehnen.

Es ist weiterhin hilfreich, zwischen Willensfreiheit (unser Wille ist frei und durch uns selbst bestimmt) und Handlungsfreiheit (wir sind frei zu handeln, auch wenn unser Wille durch Naturgesetze bestimmt ist) zu unterscheiden. Handlungsfreiheit bezieht sich darauf, dass eine Person tun kann, was sie möchte, ohne äußeren Zwängen zu unterliegen. David Hume beschreibt diese Art der Freiheit anschaulich: »Also können wir unter Freiheit nur verstehen: eine Macht zu handeln oder nicht zu handeln, je nach den Entschließungen des Willens; das heißt, wenn wir in Ruhe zu verharren vorziehen, so können wir es; wenn wir vorziehen, uns zu bewegen, so können wir dies auch. Diese bedingte Freiheit wird nun aber einem jedem zugestanden, der nicht ein Gefangener in Ketten ist« (Hume 1993, S. 112).

Von dieser Freiheit, die sich v. a. auf die Freiheit von äußeren Zwängen bezieht, ist die Freiheit zu unterscheiden, unseren eigenen Willen selbst bestimmen können, die Willensfreiheit . Haben wir die Freiheit, unseren Willen selbst zu bestimmen? Die Frage klingt zunächst etwas künstlich: können wir wollen, was wir wollen? Es wird nachvollziehbarer, wenn man es anders fasst und fragt: Können wir nach selbstbestimmten Motiven, Überzeugungen und Wünschen, die wir selbst gewichten können, handeln? Können wir die Gründe für unser Handeln bestimmen?

Als Antwort auf die Frage, was den Willen bestimmt, beschrieb John Locke 1690 in seinem Versuch über den menschlichen Verstand unsere Fähigkeit, vor dem Handeln innezuhalten und zu überlegen, was in einer Situation getan werden sollte: »Da der Geist, wie die Erfahrung zeigt, in den meisten Fällen die Kraft hat, bei der Verwirklichung und Befriedigung irgendeines Wunsches innezuhalten und mit allen andern Wünschen der Reihe nach ebenso zu verfahren, so hat er auch die Freiheit, ihre Objekte zu betrachten, sie von allen Seiten zu prüfen und gegen andere abzuwägen. Hierin besteht die Freiheit, die der Mensch besitzt … [W]ir [haben] die Kraft, die Verfolgung dieses oder jenes Wunsches zu unterbrechen, wie jeder täglich bei sich selbst erproben kann. Hier scheint mir die Quelle aller Freiheit zu liegen; hierin scheint das zu bestehen, was man (meines Erachtens unzutreffend) den freien Willen nennt. Denn während einer solchen Hemmung des Begehrens, ehe noch der Wille zum Handeln bestimmt und die (jener Bestimmung folgende) Handlung vollzogen wird, haben wir Gelegenheit, das Gute oder Üble an der Handlung, die wir vorhaben, zu prüfen, ins Auge zu fassen und zu beurteilen. Haben wir dann nach gehöriger Untersuchung unser Urteil gefällt, so haben wir unsere Pflicht erfüllt und damit alles getan, was wir in unserm Streben nach Glück tun können und müssen; und es ist kein Mangel, sondern ein Vorzug unserer Natur, wenn wir, entsprechend dem Endergebnis einer ehrlichen Prüfung, begehren, wollen und handeln« (Locke 1981, § 47)

Die Relevanz der Unterscheidung zwischen Handlungsfreiheit und Willensfreiheit in der Klinik lässt sich anhand einer Substanzabhängigkeit aufzeigen. Ist der Suchtkranke in seinen Handlungen frei? Zumindest ist er nicht von äußeren Einflüssen gezwungen, das Suchtmittel zu konsumieren. Es kann jedoch äußere Einflüsse geben, die zu inneren Zwängen führen. Ist er in seinem Willen frei? Oft wünschen sich Suchtkranke, keine Drogen mehr zu nehmen oder nehmen zu müssen, jedoch wird der Wunsch nicht handlungswirksam. Der innere Zwang, die Droge zu konsumieren, bestimmt die Handlung, selbst wenn der Wille ein anderer ist. Jedoch darf diese Überlegung nicht dazu führen, allen Betroffenen die Willensfreiheit abzusprechen (dies hätte mannigfaltige psychologische und rechtliche Konsequenzen). Die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Zwängen ist nicht immer eindeutig, und schließlich ist entscheidend, in welcher Weise Wünsche und Absichten handlungswirksam werden . Diese Entwicklung in eine Handlung kann ein Prozess sein, der es erlaubt, trotz innerer und äußerer Zwänge einen Willen auszubilden und umzusetzen.

Harry Frankfurt schlägt zur Klärung der verschiedenen Wünsche und Handlungswirksamkeiten ein Stufenmodell von Wünschen vor, in dem höherstufige Wünsche sich auf Wünsche auf niedrigeren Stufen beziehen (Frankfurt 1971). Ich kann mir also wünschen, etwas nicht mehr zu wünschen; ein Substanzabhängiger könnte sich wünschen, nicht mehr konsumieren zu wollen.

6 Konsequenzen von Annahmen über den freien Willen

Nach den vorherigen Darstellungen und Erklärungen möge jeder Leser für sich selbst befinden, wie er es mit der Willensfreiheit halten möchte – theoretisch und praktisch.

  • Es ist dabei sorgsam zu unterscheiden, ob wir erklären, unsere Handlungen seien vorherbestimmt oder unsere Entscheidungen seien im Gehirn vorbereitet.

  • Des Weiteren ist zu bedenken, welche Schlussfolgerungen wir bezüglich unseres Selbstbildes und Fragen der Verantwortlichkeit ziehen, wenn wir die Existenz von Handlungsfreiheit und/oder Willensfreiheit verneinen oder eben nicht.

  • Neben den viel diskutierten Auswirkungen auf unser Menschenbild, auf das Strafrecht und die Erziehung (Roth 2001; Singer 2003), sind Erkenntnisse aus der Psychologie zu beachten, die mögliche Konsequenzen des Glaubens oder Nichtglaubens an den freien Willen für Verhalten und Beurteilung demonstrieren: Was verändert sich in unserem Verhalten, wenn wir an den freien Willen glauben oder nicht?

Kathleen D. Vohs und Jonathan W. Schooler zeigten, dass die Wahrscheinlichkeit für betrügerisches Verhalten in Testsituationen erhöht ist, wenn der freie Wille nicht angenommen wird (Vohs u. Schooler 2008).

Die Gruppe um den Psychologen Roy F. Baumeister hat gezeigt, dass ein mangelnder Glaube an Willensfreiheit Aggressionen erhöhen und Hilfsbereitschaft reduzieren (Baumeister et al. 2009), der Glaube an freien Willen dagegen Dankbarkeit fördern kann (Mackenzie et al. 2014). Baumeister und Kollegen beschreiben in ihren Arbeiten zu Entscheidungen das Konzept der »Ego-Erschöpfung «: die Willenskraft lässt bei langer Beanspruchung nach und kann auch wieder gestärkt werden (Baumeister et al. 2000) – die Willenskraft ist durch äußere Einflüsse und durch uns beeinflussbar. Dies eröffnet Perspektiven für die Klinik bezüglich Möglichkeiten und Grenzen der Selbstkontrolle.

7 Vorschlag: Entscheiden mit Gehirn

Im Folgenden wird von der Verfasserin eine Perspektive vorgeschlagen, die theoretisch und praktisch tragfähig ist und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen gerecht wird, ohne damit eine radikale Absage an den freien Willen verbinden zu müssen. Dieser Vorschlag einer Sicht auf die Willensfreiheit basiert auf Überlegungen zu den in Abschn. 2.3 und Abschn. 2.4 diskutierten Studien, deren Interpretationen oftmals reduktionistischen Grundannahmen geschuldet sind.

Entscheiden mit Gehirn

  • Alle Entscheidungen beruhen auf neuronalen Prozessen, doch zugleich sind diese neuronalen Prozesse beeinflussbar durch Gründe, Argumente und auch Emotionen

  • Unsere Gehirne sind immer bereits durch unsere Erfahrungen, Wünsche, Vorstellungen und früheren Entscheidungen geprägt

  • So wie unsere Gene, unsere Erziehung, unsere Umwelt und unsere Lernerfahrungen unsere Wahrnehmung von uns selbst prägen, verändern sie auch ständig unsere Gehirne

  • Diese durch Erfahrungen höchst individuellen Organe beeinflussen unser Sein und Tun

  • Jedoch sind wir es, die entscheiden, nicht unsere Gehirne; wir entscheiden mit unseren Gehirnen

  • Das Gehirn entscheidet nicht, denn Entscheidungen können nur von Subjekten, die interpretieren und werten, getroffen werden

Unser Wille in einer Situation entsteht also nicht aus dem Nichts, er ist nicht voraussetzungslos, sondern basiert auf unserer Geschichte und Erfahrungen und wird mit Gründen, Ursachen, Emotionen und unbewussten Prozessen genährt. Sicher ist: Entscheidungen sind nicht immer nur, und vielleicht seltener als wir vermuten, vernunftgeleitet. Wir sind kein Homo oeconomicus, keine streng rationalen Akteure, sondern beeinflusst von unseren Wünschen, Neigungen und (Fehl-)Annahmen (Kahnemann u. Tversky 2000).

Der Neurowissenschaftler Max Bennett und der Philosoph Peter Hacker weisen eindringlich auf ein weit verbreitetes Problem in der Diskussion neurowissenschaftlicher Ergebnisse hin: Es ist ein Fehler, das Gehirn für den ganzen Menschen »einzusetzen«: das Gehirn denkt, fühlt und entscheidet nicht, sondern der Mensch denkt, fühlt und entscheidet. Dem Gehirn psychologische Fähigkeiten zuzuschreiben, die nur in Bezug auf den Menschen als ganzes Lebewesen sinnvoll sind, ist ein »mereologischer Fehlschluss«, d. h. ein Fehlschluss in der Logik der Relation zwischen Teil und Ganzem (Bennett u. Hacker 2003). Aussagen wie »das Gehirn hat schon vor uns entschieden« sind nicht sinnvoll. Sie begehen einen solchen mereologischen Fehlschluss , da Aussagen, die nur in Bezug auf ein Ganzes gelten können, hier auf einen Teil des Ganzen angewendet werden.

Kaum jemand mag bestreiten, welche Rolle das Gehirn für uns spielt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Handlungen nicht durch uns als Personen initiiert oder gesteuert werden – mittels unserer Gehirne. Interessanterweise ermöglicht diese Sichtweise ein Verständnis von uns Menschen mit Gehirnen, die Mensch und Gehirn nicht einander gegenüberstellt und fragt, »wer oder was entscheidet denn nun? « und die mit einer naturalistischen Überlegung kompatibel ist, wie sie der Philosoph Ansgar Beckermann vorschlägt (Beckermann 2005).

Ob wir unser Menschenbild ändern sollen, können die Neurowissenschaften nicht entscheiden. Fragen nach dem Menschenbild erfordern eine Auseinandersetzung mit konzeptuellen Fragen (wie z. B. zum mereologischen Fehlschluss), mit ethischen Fragen und mit dem Alltagsverständnis. Statt reduktionistisch ein neues Selbstverständnis zu postulieren, ist zu betrachten, was genau die Neurowissenschaften wirklich zeigen und was nicht (Hasler 2013), und wie neurowissenschaftliche Studien sinnvoll in Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge und die klinische Praxis integriert werden können, ohne Bewusstsein und Subjektivität zu negieren (Fuchs 2007).

Wir nehmen uns wahr als Wesen, die sich (mehr oder weniger erfolgreich) kontrollieren, Alternativen durchdenken, Initiative ergreifen, Fehler machen, Fehler korrigieren und Entscheidungen beurteilen können. Wir können in vielen Fällen auch Entscheidungen vorhersagen, wissen, was uns beeinflusst und zu welchen Willensäußerungen bewegt. »Neigungen setzen sich nicht von allein in die Tat um, zwischen ihnen und Handlungen liegen die Willensbildung, die Entscheidungsfindung, die Formierung einer Absicht. Dieser Prozess kann entweder frei oder unfrei, also gehindert oder ungehindert ablaufen« (Keil 2007, S. 3). Sicher ist: Ganz frei ist man nie, denn es gibt immer Faktoren, die einen beeinflussen und einschränken. Entscheidungen sind frei, wenn sie durch Überlegungen und Gründe beeinflussbar sind, wenn sie durch – manchmal nicht unmittelbare, sondern lange und indirekt wirkende – Absichten bewirkt werden können; so schlägt es auch Thomas Goschke mit einer volitionspsychologischen Argumentation vor (Goschke 2004).

8 Quintessenz für die Klinik

Ob der Mensch einen freien Willen hat, ob er frei entscheiden kann und was darunter zu verstehen ist, darüber streiten sich die Wissenschaftler aus den verschiedenen Disziplinen.

Obwohl es viel diskutierte Experimente aus den Neurowissenschaften gibt, die nachweisen, dass es spezifische Gehirnaktivität schon vor der bewussten Handlungsentscheidung gibt und somit unser Wille nur die nachträgliche Bewusstwerdung zu sein scheint, gibt es keinen Konsens zur Deutung und Bewertung dieser Studien. Bis heute gibt es keinen Beweis für oder gegen die Willensfreiheit.

Der Vorschlag der Verfasserin lautet, Handlungs- und Willensfreiheit als Bestandteile unserer psychischen und sozialen Identität zu verstehen:

  • Wir wollen und wir handeln als Personen mit unseren Gehirnen – unsere Gehirne sind nicht losgelöst von uns.

  • Wir erfahren uns und andere so, dass wir Handlungsspielräume haben und uns so oder anders entscheiden können.

  • Wir versuchen uns und andere über Gründe zu beeinflussen.

  • Unsere Idee von Verantwortlichkeit ist eng gekoppelt an diese Erfahrungen.

Es sei angemerkt, dass argumentiert werden kann, dass wir verantwortlich für unsere Wünsche und Handlungen sein können, ohne frei zu sein, wenn wir bereit sind, Verantwortung für sie zu übernehmen (Fischer u. Ravizza 1998). Statt zu fragen: »Sind wir frei in unseren Entscheidungen?« oder »Wie frei können wir wollen?« sind in der Praxis u. a. folgende Überlegungen relevant:

Praxisrelevante Fragen zur Willensfreiheit

  • Wie frei sind wir unter welchen Umständen?

  • Welche Umstände sorgen für welche Einschränkungen unserer Freiheit?

  • Welche Konsequenzen hat dies für die Frage der Einwilligungsfähigkeit in medizinische Therapien?

  • Was ist zu tun, wenn die Willensfreiheit eingeschränkt ist?

  • Unter welchen Umständen sind Zwangsbehandlungen legitim?

  • Wie wollen und können wir Schuldfähigkeit in der Forensik verstehen?

Ganz praktisch ist unsere Willensfreiheit eingeschränkt durch mannigfaltige Kontexte. In der Klinik sind dies oft neue, fremde oder emotional belastende Situationen. Die Ergebnisse der Neurowissenschaften sensibilisieren dafür, welche Rolle physiologische Prozesse in der Willensbildung spielen können. Ziel eines verantwortlichen Umgangs kann es dann sein, eine Förderung oder Wiederherstellung der Möglichkeit zur Willensfreiheit und der Umsetzung des Willens in Handlungen zu ermöglichen. Eine mögliche Hilfestellung dabei kann es sein, den Patienten in der Entwicklung seiner Selbstbestimmungskompetenz zu unterstützen (Nagel 2015). Dies wird dem Wohlergehen vermutlich eher zuträglich sein als eine Reduktion der Entscheidung auf neurophysiologische Prozesse.

8 Fazit

  • Einen neurophysiologischen Beweis gibt es weder für noch gegen die Willensfreiheit.

  • Neurowissenschaftliche Untersuchungen unterstreichen die Möglichkeit, die Selbstbestimmungsfähigkeit des Einzelnen zu fördern, was gerade in der Medizin eine bedeutende Rolle spielen sollte.