Wenn es an die menschliche Vernunft geht, fällt einem wohl zuerst der Name Immanuel Kant ein: Als Theoretiker macht dem strengen Königsberger bis heute niemand etwas vor. Einzig die Sprache, in die er seine Gedanken hüllte, verhinderte, dass mehr Menschen begriffen, was er überhaupt von ihnen wollte. Das war beim größten Pragmatiker des Vernunftbegriffs aller Zeiten naturgemäß anders. Im New York der 30er-Jahre musste sich aus Geschäftsgründen so schnell wie möglich herumsprechen, was der sizilianische Einwanderer, der sich Vito Corleone nannte, unter dem philosophischen Konzept verstand.
„Aber mit dem Mann kann man ja nicht vernünftig reden!“, lautete der Satz, der dazu führte, dass ein Mann namens Luca Brasi den Unvernünftigen erwürgte, in den Kopf schoss oder sein Baby vor den Augen der Mutter ins Feuer warf. Und auch wenn dieses Programm jetzt nicht unbedingt Immanuel Kants kategorischem Imperativ „Handle nur nach der derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ entspricht, so sind Zweifel an seiner unmittelbaren Eingängigkeit nicht erlaubt.
Was Mario Puzo 1969 unter dem Titel „Der Pate“ veröffentlichte, gilt völlig zu Recht als Weltliteratur. Zwar betonte der Mann aus Manhattans „Little Italy“ bis zu seinem Tod 1999 stets, den Roman über den Mafia-Don seiner Heimatstadt nur fürs Geld geschrieben zu haben. Aber wer den Text liest, bekommt eine unerreichte Sozialgeschichte des Verbrechens präsentiert, deren Psychogramme genauso überzeugen wie die Strategien, die Vito Corleone zum Machterhalt einsetzt. Bei so einer Ausgangslage ist es eine Selbstverständlichkeit, dass auch Hollywood rasch auf den Stoff aufmerksam wurde – und so feierte der Film am 11. März 1972 Vorpremiere in den USA.
Trotz der starken Geschichte war anfangs nicht klar, wie durchschlagend der kommerzielle und künstlerische Erfolg des Streifens sein würde. Sein Regisseur Francis Ford Coppola hatte bis dahin noch nichts von dieser Dimension gedreht; vor allem aber war der Hauptdarsteller alles andere als ein Muster an Charakterfestigkeit, mit allen Risiken und Nebenwirkungen, die das am Set versprach. Marlon Brando hatte sich in den 50er-Jahren durch Produktionen wie „Endstation Sehnsucht“ den Platz des Jugendidols mit James Dean geteilt, musste aber im Gegensatz zum „Rebellen ohne Grund“ danach weiterleben.
Das war kein leichtes Unterfangen. Schon in den Jahren seines frühen Ruhms hatte der Schriftsteller Truman Capote ein Porträt über Brando verfasst, das den Megastar als trotteligen Narzissten hinstellte, der erbärmlich bei dem Versuch scheitert, sich mit der Aura des Intellektuellen zu umgeben. Was folgte, als der Name Brando in den 60er-Jahren schrumpfte, muss Zeitzeugen zufolge sehr unerquicklich anzusehen gewesen sein. 1972 war das einstige Symbol verletzlicher Maskulinität schließlich so fett und faltig geworden, wie es mit nur 47 Jahren nur möglich war.
Doch bei Lichte betrachtet war das wohl eine großartige Qualifikation für den Job. Brandos Co-Darsteller Al Pacino und Robert Duvall, die die nächste Generation verkörpern, waren nur 15 und neun Jahre jünger – fast hätte ihn das den Job gekostet. In den Proben agierte Brando jedoch bereits brillant, so bekam er zu Drehbeginn nur noch ein falsches Zahnteil eingesetzt, damit er bulldoggenhaft genug wirkte. Der Rest ergab sich unter Coppolas Leitung – so schafft es der Film, keinen langweiligen Moment zu haben, obwohl das Tempo eher gemächlich ist.
Wie es Brando gelingt, den Einstieg ins Drogengeschäft mit genau der Portion Nervosität abzulehnen, die zeigt, dass er einen schlechten Tag hat, ist genauso große Kunst wie Al Pacinos Weg zum Don und Robert Duvalls neutrales Gesicht als Consigliore. Es läuft nie wirklich rund für Vito und die Seinen, das Verbrechen trägt trotz des Reichtums keine Früchte, die beim Zuschauer Neid aufkommen lassen. Irgendwie herrschen innerhalb Corleones Schattenreich ja doch die gleichen Schwierigkeiten wie außerhalb: Die Konkurrenz nervt; nie tut einer wirklich, was er soll; man verrät sich gegenseitig und überschätzt sich. Der große Unterschied besteht natürlich darin, dass die Währung, mit der Fehler bezahlt werden, das eigene Leben ist.
Womöglich erklärt das auch das Echo, das der Film auslöste. 1972 waren auch die USA angeschlagen, Vietnam entwickelte sich immer mehr zum Fiasko, Watergate und die Ölkrise standen vor der Tür, Woodstock war dagegen schon gefühlte Ewigkeiten her. Da passte das Geschehen auf der Leinwand nur zu gut zu – wobei die Feldherrenkunst des Dons am Ende doch unangefochten bleibt und Al Pacino als Michael Corleone seinen vom Schicksal aufgetragenen Bildungsroman erfüllt.
Zwei Fortsetzungen ohne Brando folgten. Er hätte für die Rolle den Oscar bekommen, weigerte sich aber, bei der Verleihung aufzutauchen, aus Protest dagegen, wie sein Land die Ureinwohner behandelte. An der Seite Coppolas tauchte er sieben Jahre später wieder auf: als Colonel Kurtz, der sich im Vietnam-Drama „Apolcalypse Now“ als durchgedrehter US-Militär im Busch zum Guru aufspielt und dabei an jedem Drehbuch vorbei jede Menge Mist in die Kamera brabbelt.
Im „Paten“ gelang es ihm, einen Satz zu prägen, der sprichwörtlich wurde. Die Worte „Ich werde ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann“ stehen in engem Zusammenhang mit Don Corleones Interpretation der Vernunft. Jede Zurückweisung einer entsprechenden Offerte wäre die letzte gewesen, bevor Luca Brasi auftaucht.
Der Artikel wurde erstmals im März 2022 veröffentlicht.