Im Reich des Scheins - Mit seinem filminspirierten Roman „Lichtspiel“ folgt Daniel Kehlmann der Biographie G. W. Pabsts ins ‚Dritte Reich‘ : literaturkritik.de

Im Reich des Scheins

Mit seinem filminspirierten Roman „Lichtspiel“ folgt Daniel Kehlmann der Biographie G. W. Pabsts ins ‚Dritte Reich‘

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach Filmdrehs in Frankreich verschlägt es den österreichischen Regisseur Georg Wilhelm Pabst 1933 nach Hollywood, wo er von weiteren Erfolgen träumt und insbesondere mit einer Filmidee hausieren geht, in der man eine parabolische Reflexion der zeitgenössischen Stimmung erkennen darf: Ein internationales Dampfschiff auf hoher See erreicht die Nachricht, dass Krieg ausgebrochen sei, woraufhin sich die Passagiere gegenseitig bekämpfen. Einige Tote und Verletzte später stellt sich die Nachricht als Falschmeldung heraus, so dass die Überlebenden betroffen zurücktreten und wieder den Firnis der Zivilisation über ihre Handlungen breiten als wäre nichts geschehen.

Weder die Produzenten noch die befreundeten Stars Greta Garbo und Louise Brooks können sich für den Stoff erwärmen. Stattdessen wird Pabst die Leitung des mediokren Films A Modern Hero übertragen, der 1934 an den Kinokassen floppt. So kehrt er nach Europa zurück, wo er mit seiner Familie bei einem Besuch seiner Mutter in der Steiermark vom realen Kriegsausbruch überrascht wird und in der an das Deutsche Reich angeschlossenen ‚Ostmark‘ hängenbleibt. Die Grenzen sind dicht. Wer es nicht rausgeschafft hat, ist im nationalsozialistischen Deutschland gefangen. Mit der kühlen Wucht der Zwischentitel in Stanley Kubricks The Shining fällt die Überschrift zum zweiten Teil von Daniel Kehlmanns Roman Lichtspiel – G. W. Pabst ist „DRINNEN“.

Wie in seinem historischen Erfolgsroman Die Vermessung der Welt verdoppelt Kehlmann den biographischen Text Pabsts in einer literarischen Fiktion. In dem jüngsten Buch zeigt sich das als Erzählung über Kunst, Schuld und Verantwortung, die sich zwar an der Filmographie und den Lebensstationen des Regisseurs orientiert, die Zwischenräume aber frei gestaltet. So ist es richtig, dass Pabst 1939 nach Österreich zurückgekehrt ist. In Tillmitsch-Grössing hat er Schloss ‚Fünfturm‘ erworben. Wie in der Realität besitzt das Gebäude zwar auch im Roman keine Türme, heißt hier allerdings Schloss „Dreiturm“ und verweist schon durch diese semantische Reduktion im Namen auf eine narrative und mithin freiere, kontrafaktische Ausgestaltung der Lebensgeschichte Pabsts.

Das titelgebende ‚Lichtspiel‘ bezieht sich zunächst auf die filmische Thematik. Nicht nur nahezu alle Filme Pabsts seit den 1920er Jahren tauchen auf, sondern auch eine Auswahl des Whoʼs who der Filmschaffenden seiner Lebenszeit. In den Kriegsjahren dreht er drei Filme für die Ufa. Der erste, Komödianten von 1941, scheint lediglich am Rande auf. Im Roman drückt ihm Joseph Goebbels persönlich das Drehbuch in die Hand. Paracelsus (1943) hingegen wird aus der Perspektive eines fiktiven britischen Schriftstellers namens Rupert Wooster (der biographische Parallelen zu P. G. Wodehouse aufweist) auf der feierlichen Filmpremiere geschildert. Dieser versteht zwar kein Wort, ist aber von einzelnen Szenen durchaus begeistert. Im Zentrum von Lichtspiel steht das dritte Filmprojekt, die Verfilmung des Romans Die Sternengeige aus der Feder des nationalsozialistischen Unterhaltungsliteraten Alfred Karrasch. Der in den Prager Barrandov Studios unter dem Titel Der Fall Molander gedrehte Film war beim Einmarsch der Roten Armee wohl noch nicht fertiggestellt, und die bereits vorhandene Schnittfassung gilt seither als verschollen. Diese historische Leerstelle füllt der Roman. Noch in der rückblickenden narrativen Rahmung durch Pabsts damaligen Assistenten Franz Wilzek im Seniorenheim „Abendruh“ 1978 blitzen Erinnerungsfetzen auf.

Das Spiel mit dem Licht beschränkt sich allerdings nicht nur auf die künstliche Sphäre des Films, der die äußere Welt in Schwarzweiß-Projektionen auf der Leinwand neu zusammensetzt: Der gesamte Roman ist durchzogen von Lichtbrechungen, Spiegelungen und Verdoppelungen. Die Figuren sehen sich im ersten Teil, „DRAUSSEN“, auf Monitoren im Fernsehstudio, im Spiegel und in Brillengläsern zurückgeworfen. Einzig die ‚göttliche‘ Garbo scheint mit ihrem medial geschaffenen mythischen Double im Einklang zu sein, hat sie sich doch in der übermenschlichen Rolle der Sehnsuchtsprojektion eingerichtet: „Sie konnte sich vorstellen, wie es sein musste, Gott oder ein Erzengel zu sein und ständig die aus den Tiefen aufsteigenden Gebete zu spüren.“ Andere, Franz Wilzek und G. W. Pabst, nehmen hingegen die innere Zerrissenheit wahr, die ihnen in der eigenen schwächlichen Gestalt entgegensieht.

In der neuen Realität des NS-Regimes gefangen, wird von Anfang an deutlich, dass sich die Machtverhältnisse nicht nur auf seinem Anwesen, sondern im ganzen Land gedreht haben. Das Schloss wird von dem unangenehmen Hausverwalter Karl Jerzabek beherrscht. Dieser ist Leiter der NSDAP-Ortsgruppe, und er trägt sicher nicht zufällig den gleichen Nachnamen wie der Gründer des Antisemitenbunds, Anton Jerzabek. Seine bedrohliche, unter serviler Freundlichkeit verborgene Boshaftigkeit zeigt sich in einer Reihe bedrückender Szenen und präsentiert ihn zuletzt in mythischer Verdoppelung nicht nur gollumesk kauernd am Grund des alptraumhaft in die Tiefe führenden Kellers, sondern später gar als urzeitlich-dämonische Gottheit.

Vor allem Pabsts Ehefrau Gertrude (‚Trude‘) aber setzt die Zeit im ‚Dritten Reich‘ besonders zu. Die kulturell interessierte und ambitionierte Kosmopolitin, die im Gegensatz zu ihrem Mann fließend Englisch spricht, erlebt die geistlose Gleichschaltung als Gefängnis. Auch wenn sie aufgrund der Bedeutung ihres Mannes für den Ufa-Film eine privilegierte Stellung hat, ist sie in einer bedrohlichen Scheinwelt gefangen, in der sie sich nicht nur im nationalistischen Buchclub beständig verstellen muss: „Man musste immer lügen“. Wie zum Hohn und als böser Metakommentar spiegelt sich auf der Oberfläche einer Zuckerdose das Fenster. Die Erfahrung des Ausgeliefertseins und der allumfassenden Uneigentlichkeit lässt die Welt zum falschen Lichtspiel innerhalb einer platonischen Höhle verkommen, was umso unerträglicher ist, wenn man um die Existenz eines Draußen weiß. Die meiste Zeit verbringt sie apathisch in ihrem abgedunkelten Zimmer.

Das Innere des Reichs wird zur Inszenierung mächtiger Spielleiter. Am Set des Riefenstahl-Films Tiefland dissimuliert Krün im Bayerischen Oberland mit einem Kulissendorf die spanische Sierra Madre, in der die talentfrei zuckende Leni Riefenstahl als Regisseurin und weibliche Hauptdarstellerin mit stark überschminktem Gesicht das Klischeebild einer spanischen Tänzerin bietet. Innerhalb ihres Machtbereichs gestaltet Riefenstahl von höchster Stelle sanktioniert als teuflische Tyrannin ihre mediterranen Vorstellungen. Dazu gehört auch, dass Sinti und Roma aus dem Zwangslager Maxglan bei Salzburg angefordert werden, um südländisch aussehende Statisten für den Film zu bekommen. Die meisten dieser zwangsrekrutierten Darsteller werden später in Auschwitz ermordet.

Beherrscht wird die böse Scheinwelt aber von der übermächtigen Gestalt des Propagandaministers, der zugleich als Produzent bei der gleichgeschalteten Ufa fungiert. Pabst wird in sein Ministerium zitiert und kommt dort nach einer durchzechten Nacht bei seinem Berliner Freund Helmut Käutner, zu dem im Laufe des Abends Heinz Rühmann mit zwei weiteren Flaschen Rotwein hinzustößt, völlig verkatert an. Die vom Rotweinnebel getragene Begegnung mit dem „Vater der Lüge“ – so der Kapitelname – gehört zu den besten Stellen des Romans. Die erschlagende Dominanz des Ministeriums mit seinem langen, unwirklichen Labyrinth aus Korridoren, die sich logisch nicht mit der Architektur vereinbaren lassen und in das überdimensionierte Büro des kleinen Ministers führen, wird von Pabst als filmischer Trick wahrgenommen. Bereits die nazibeflaggten Straßen Berlins erinnern ihn an eine expressionistische Filmkulisse, an „eine verdrehte Spiegelwelt“, in der sich die Sonne künstlich vervielfacht in den Scheiben bricht. Der Schreibtisch des Ministers zeigt sich schließlich als Zentrum des ‚Drinnen‘ und der darin eröffneten Spiegelkulisse. Zwischen Slapstick und Machtdemonstrationen lösen sich die Konturen der Körperlichkeit auf, der Minister ist in einem Augenblick verdoppelt, dann verschwunden, der Raum selbst kippt und dreht sich auf den Kopf, während die Tür immer weiter in die Ferne rückt.

Und auch Pabst macht sich schuldig. Nicht nur, weil er überhaupt für die Ufa arbeitet; Für den Film Der Fall Molander greift er ebenfalls auf Lagerinsassen zurück, nachdem die ursprünglich zugesagten Statisten für den Abwehrkampf eingesetzt werden. Pabst ordnet der Kunst alles unter. Was ihm am Set des Riefenstahl-Films noch entsetzt und abgestoßen hat, kann er nun rationalisieren. Ganz auf die Fertigstellung der Schnittfassung fixiert, riskiert er nicht nur sein eigenes Leben, sondern blendet auch alle Skrupel aus. Auf die Frage Trudes nach der Premiere seines ersten Ufa-Films, ob seine Werke nicht durch die Art ihrer Entstehung „beschmutzt“ würden, sieht er sein Schaffen doch durch das jeweils entstandene Kunstwerk gerechtfertigt: „Wichtig ist, Kunst zu machen unter den Umständen, die man vorfindet.“

Mit dem letzten Ufa-Film Pabsts verschwindet zunächst auch das deutsche Kino. An dessen Stelle tritt die Unterhaltungsindustrie, die schlechte Komödien produziert und heimatliche Fröhlichkeit verbreitet. In der Nachkriegszeit, dem „DANACH“, wie der dritte und letzte Teil von Lichtspiel überschrieben ist, legt sich wieder die oberflächliche Höflichkeit der Zivilisation über das Geschehene. Auch Franz Wilzek sperrt die Erinnerung aus und dreht drei Filme mit Peter Alexander. Im Roman haben sie ähnlich dämliche Titel wie die Originale in der faktualen Parallelwelt, denen Kehlmann in seinen Poetikvorlesungen Kommt, Geister eine „giftige, alles durchdringende Falschheit“ bescheinigt. Sie findet sich auch bei dem diegetischen Double von Heinz Conrads und der Sendung Was gibt es Neues am Sonntag, in die der gealterte Wilzek eingeladen und mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird. Wo sich der historische Pabst zu seiner Zeit im ‚Dritten Reich‘ nicht geäußert hat und sich der fiktive Pabst hinter den Eigenwert der Filmkunst zurückzieht, eröffnet die Kontrastfigur Wilzek die moralische Frage nach dem Kunstschaffen im Unrechtsregime.

Die selbst schon fast romanhafte Geschichte G. W. Pabsts führt Kehlmann zu den Anfängen der Filmkunst und er zeichnet nach, wie der als „roter Pabst“ bekannte Regisseur in einer seltsamen Wendung des Lebens von Hollywood ins NS-Regime gerät, um dort für die propagandistisch umgestaltete Ufa zu drehen. Dabei orientiert sich der Roman womöglich selbst am klassischen Kino, wenn nicht gar an der diegetisch gerühmten Schnitttechnik Pabsts. Glänzend erzählt, arbeitet Lichtspiel mit starken Bildern, die auch nach der Lektüre hängenbleiben, und läuft zuletzt auf eine stimmige, wenngleich unspektakuläre Wendung zu. Statt formaler Volten stehen thematische Aspekte im Zentrum. Es geht um das Kino, die NS-Zeit und das Verhältnis von Kunst und Moral. Damit unterscheidet sich Lichtspiel von seinen narrativen Vorgängern, ist dank seiner filmischen Szenen aber rezipierbar wie ein guter Film.

Titelbild

Daniel Kehlmann: Lichtspiel.
Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
480 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003876

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