Das radikal Böse | Kritik | Film | critic.de

Das radikal Böse – Kritik

Filmschauen wie Blättern im „Focus“: Das radikal Böse vermischt informative, affektive und archivarische Stücke, um zu klären, wie die Massenerschießungen europäischer Juden möglich wurden.

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Ein beliebig ausgewählter Moment aus Stefan Ruzowitzkys Das radikal Böse zeigt mir Folgendes: Das Bild ist vertikal dreigeteilt, in jedem Abschnitt sind junge Schauspieler zu sehen, die in Uniformen mit Hakenkreuz und Adler stecken und mal träumerisch, mal geistesleer in ein Lagerfeuer starren. Auf der Tonebene liegt zuunterst angespannter Post-Dubstep-Techno, darüber flirren im ständigen Wechsel zwischen den Soundspuren Männerstimmen (u.a. von Devid Striesow und Benno Fürmann), die im Stile eines Hörbuchs empathisch aus Tagebüchern, Gerichtsprotokollen und Briefen von Einsatzgruppenmitgliedern vorlesen. Darin geht es um den soldatischen Alltag, die lieben Kinder daheim und um die Massenerschießungen von Juden östlich des Reiches. Dreifaches Bild, Spannungsmusik, Sprachwirrwarr, doch damit nicht genug: Um die mehrkanalig feuernde Affekt/Informations-Verbindung zu komplettieren, erscheinen unter dem bewegten Soldatentriptychon noch Faksimiles behördlicher Bilanzen und Berichte. Hier werden die täglichen Toten verzeichnet, aufgereiht nach Alter und Geschlecht. Die pedantische, auch (oder: gerade) im Massenmord fehlerlos verfahrende reichsdeutsche Bürokratie liefert die Daten für den News-Ticker. Die Vernichtung läuft auf Hochtouren.

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Das radikal Böse kommt daher wie Guido Knopp mit ADHS: eine dem zeitgenössischen, multitasking-zerstreuten Zuschauer angepasste, hochgradig emotionalisierende Geschichtsdoku, die über kontrollierte audiovisuelle Überforderung erschüttern und belehren zugleich will. Das weckt in mir schnell Widerstände: Die in den soldatischen Selbstaussagen aufscheinende Charakterspaltung zwischen Tötungsalltag und Heimatsehnsucht wird zu einem Gewirr einander bekämpfender innerer Stimmen. Verbunden mit den zersplitterten Bildern scheint hier eine arg klischeebeladene Inszenierung von „Schizophrenie“ stattzufinden. Das geht zuallererst zulasten der historischen Akkuratesse: Zwischen all den lose verbundenen audiovisuellen Schrapnellen ist mir lange unklar, ob es sich hier um Wehrmachts- oder SS-Soldaten handelt und wo genau ich die behandelten Ereignisse im Gesamtzusammenhang des Zweiten Weltkriegs und des Genozids verorten soll.

Aber Ruzowitzky geht es eben nicht um historische Spezifika, sondern um diejenigen Facetten der Shoah, die den einmaligen geschichtlichen Moment transzendieren. Hier soll die Kollektivpsyche der meist jungen Völkermordsvollstrecker aufgeschlüsselt werden. In einem von den Obrigkeiten diabolisch orchestrierten Zusammenspiel aus Propaganda, Drill und peer pressure wurde demnach eine Art funktional einsetzbare geistige Zerrüttung erzeugt, damit die grausamen Verbrechen von charakterlich „normalen“ Männern durchgeführt werden konnten.

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Zur Untermauerung dieser These, die Ruzowitzky aus Christopher Brownings programmatisch betiteltem Ordinary Men entlehnt, kommen Experten (darunter Browning selbst) zu Wort: Historiker, Sozial- und Militärpsychologen erklären uns, was damals angestellt wurde mit den Köpfen der jungen Männer. Hier soll die Wissenschaft offensichtlich den geistigen Krampf lösen, den die Shoah für die Intellektuellen jahrzehntelang darstellte. Die „Grenzen des Geistes“, die Améry in Auschwitz überschritten sah, werden wieder ausgeweitet. In Dogville-artigen Versuchsanordnungen inszeniert Das radikal Böse daher Experimente, die das unerklärliche Verhalten erklärbar machen sollen: Das Stanford-Experiment, das Genovese-Syndrom, das Milgram-Experiment.

„Psychological research is a moral enterprise“, sagt einer der Experten recht spät im Film. Gewiss: Eine rigorose historische wie psychologische Aufarbeitung ist unabdingbar, um diejenigen Elemente der Shoah zu isolieren, deren Wiederkehr man durch Erziehung, Sensibilisierung und geschichtliche Aufklärung zukünftig verunmöglichen will. Aber die allzu einseitige Verfechtung dieses Erklärungsansatzes schmeckt, zumal flankiert von den mit allerlei visuellen wie akustischen Tricks gestalteten Wahnsinnssequenzen, etwas bitter. Gezielte Zerrüttung hier, beruhigende wissenschaftliche Analyse dort, Schauderkino und Infotainment: Erst wird der Zuschauer weichgeklopft, danach wird ihm eine verführerisch klare und schlüssige Interpretation angeboten.

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Über all diese enthistorisierten und psychologisch generalisierten Erklärungen vergisst der Film glücklicherweise nicht, zuletzt klare Schuldzuweisungen auszusprechen. So kommt an Anfang und Ende Benjamin Ferencz zu Wort, der die Gräueltaten der Einsatzgruppen bei den Nürnberger Prozessen als Chefankläger verfolgte. Er macht klar: Die strafrechtliche wie moralische Verantwortung liegt letztlich immer beim Einzelnen, bei demjenigen, der am Ende den Abzug drückt. Auch, wenn nur ein verschwindend geringer Teil dieser je einzeln Verantwortlichen gerichtlich belangt werden konnte.

Dieser finale Individualismus wird in der Schlussfigur des Films gespiegelt. Hier werden solche Episoden aufgezählt, bei denen sich einzelne Soldaten gegen die Befehle, gegen das Abdrücken entschieden haben. Ich bin, wie beim gesamten Film, auch hier zwiegespalten: Einerseits vermute ich so etwas wie eine stellvertretende nationale Gewissensberuhigung (es gab auch gute Soldaten), andererseits darf man sich nicht dem darin angelegten, hoffnungsstiftenden Appell an die zukünftigen Generationen entziehen (man kann Befehle verweigern).

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Meine Bedenken gegenüber Das radikal Böse sind daher – letztendlich – stilistischer Natur. Wie in der oben zitierten Aussage des Psychologen scheint mir auch jede ästhetische Auseinandersetzung ein moralisches Unternehmen zu sein. Einfacher ausgedrückt: Gewisse Themen sollten eine speziell aufmerksame und nicht effekthascherische Behandlung erfahren. Die Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland gehört hier fraglos dazu. Und genau diese Ansprüche untergräbt Das radikal Böse mit seinem fernsehaffinen Bombardement aus disparaten, oft geschmacklosen Bild- und Tonideen, den sakrosankten Expertenaussagen, dem reißerischen, allein auf Schockwirkung zielenden Einsatz von brutalstem Archivmaterial. Es ist zwar alles da – Fragestellung, Behandlung, Diskussion –, die Verbrechen werden von den verräterischen Selbstaussagen der Täter und den scharfen Analysen der Psychologen in die Zange genommen, die Schuldfrage wird nicht ausgespart. Aber die Teile sind schief angeordnet und mit unnötigen Stimmungstriggern kontaminiert. Vor allem aber lässt ihre sensationalistische Anordnung Zurückhaltung seitens der Filmemacher vermissen. Daher scheint mir, auch unter dem Banner des „Nie Wieder", der hier eingeschlagene Weg der falsche zu sein. Denn ebenso leicht wie derlei Geschichtsüberwältigung konsumiert ist, ist sie auch wieder vergessen.

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