Der Bundespräsident - Reden und Interviews - "Eine gemeinsame Kraftanstrengung für unsere Demokratie"

"Eine gemeinsame Kraftanstrengung für unsere Demokratie"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 29. Februar 2024

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 29. Februar zu einem Debattenforum zum Thema "Geglückt, aber nicht garantiert. Zustand und Zukunft unserer Demokratie nach 75 Jahren Grundgesetz" ins Schloss Bellevue eingeladen. In seiner Eingangsrede sagte er: In einer Zeit, in der die demokratische Ordnung nicht mehr von allen als selbstverständlich hingenommen wird, in der die Zweifler lauter werden, in der die erklärten Gegner dieser Ordnung an Zustimmung gewinnen, muss aber die Formel von der wehrhaften Demokratie mehr sein als nur ein Lippenbekenntnis.

„Wie Demokratien sterben“, das war Titel einer warnend-düsteren Analyse der politischen Gegenwart vor allem in den USA aus der Feder des amerikanischen Politikwissenschaftlers Daniel Ziblatt. Die klugen Beobachtungen haben auch viele Menschen in unserem Land gelesen, aber die meisten haben darin Besonderheiten einer amerikanischen Situation gesehen, deren Checks and Balances in den Trump-Jahren aus dem Gleichgewicht geraten schienen. „Mit uns hat das nichts oder wenig zu tun“, mögen viele hier in Deutschland gedacht oder gehofft haben. Schließlich schauen wir auf 75 Jahre stabiler politischer Verhältnisse samt sozialem Frieden und wachsendem Wohlstand zurück; dazu seit mehr als drei Jahrzehnten Wiedervereinigung.

Ja, die USA sind anders. Dennoch fand ich den Blick aus unserem Land auf andere, auch auf europäische Nachbarn, immer ein wenig überheblich. Wir sind keine Insel im Meer des Westens, und es gibt spürbare Unterströmungen in fast allen westlich-liberalen Demokratien: Erschöpfung aus Dauerkrisen, Verunsicherung aufgrund geopolitischer Verschiebungen, Ängste vor Veränderung, vor allem einen erstarkenden Populismus, der sich mit Versuchen zu spalten und scharfer Elitenkritik all das in zynischer Manier zunutze macht.

Unsere Antwort kann zweierlei nicht sein: gelassenes Abwarten mit der Haltung „Es wird sich schon irgendwie wieder richten“. Aber auch nicht Pessimismus, der lähmt, wo Taten notwendig sind. Denn: Krise ist kein Schicksal. Und Ziblatts Befund war keine Prophetie, sondern ein Weckruf. Und spätestens seit der Recherche über ein Treffen von Rechtsextremen in einer Potsdamer Villa ist der Weckruf auch bei uns angekommen.

Die demokratische Mitte unserer Gesellschaft zeigt sich, ist sichtbar und nach meinem Eindruck hat sie auch schon etwas bewirkt. Sie lässt nicht länger zu, dass Rechtsextremisten allein den Ton in der öffentlichen Debatte bestimmen und ebenso die mediale Tagesordnung. Hunderttausende – konservative, liberale, soziale Demokraten – waren und sind auf den Straßen; Unternehmer und Gewerkschaften - so wie am Montagabend in Stuttgart - ziehen gemeinsam die Grenze zwischen den Demokraten und denen, die die Demokratie verachten oder  angreifen.

Wie wichtig das ist, zeigen Vorfälle aus jüngster Zeit, bei denen Veranstaltungen blockiert wurden, Politikerinnen und Politiker angegriffen wurden, das politische Gespräch verhindert wurde. Wir brauchen die breite Allianz der Demokraten, damit nicht erodiert, was uns ausmacht: eine politische Kultur der Offenheit und der Vielfalt, in der der Kompromiss nicht kompromittiert, sondern als notwendiger Ausgleich zwischen den gesellschaftlichen Gruppen geachtet wird.

Hundertausende, Alte und Junge, ganze Familien auf den Straßen, Demokratiebündnisse zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern: Ist das Wichtigste jetzt geschafft? Ja, ich glaube, es ist eminent wichtig, was da passiert. Aber ebenso wichtig ist: Zum gelassenen Zurücklehnen besteht trotzdem kein Anlass. Im Gegenteil: Jetzt muss das Momentum genutzt werden, um im Gegenwind von Krise, Krieg und dem Verlust alter Gewissheiten unsere Demokratie wieder zu stärken, resilienter zu machen – gegen Gefährdungen und Bedrohungen von Extremisten, denen sie nichts wert ist.

„Geglückt, aber nicht garantiert“ – so haben wir die heutige Konferenz überschrieben, und genauso erleben viele die Demokratie in diesen Tagen und im Vorfeld von vier wichtigen Wahlen in diesem Jahr. Was können wir gemeinsam tun?

Ich freue mich, dass wir heute gemeinsam versuchen, in diesem Debattenforum Antworten zu finden. Ich begrüße Sie alle hier im Schloss Bellevue. Seien Sie uns herzlich willkommen! Und ich freue mich ganz besonders, liebe Pinar Atalay, dass wir Sie als Moderatorin für unsere drei Panels heute gewinnen konnten.

Den 75. Geburtstag unserer Verfassung feiern wir in diesem Jahr und auch den 35. Jahrestag des Mauerfalls. Wir freuen uns darüber, was geglückt ist in unserem Land. Und erinnern uns: Der Leitstern der Mütter und Väter des Grundgesetzes war die Erfahrung und die Überzeugung, dass eine Demokratie auch wehrhaft sein muss. Sie hatten erlebt, dass wir die errungene Demokratie in der Weimarer Zeit schon einmal aus der Hand gegeben haben. Es waren zu wenige, die sie verteidigt hatten, zu viele, die den Feinden der Freiheit die Hand gereicht hatten. Der Schwur des „Nie wieder“ ist tief eingeschrieben in unsere Verfassung. Und er ist, und das sollten wir nicht vergessen, die Überzeugung der großen Mehrheit in unserem Land.

In einer Zeit, in der die demokratische Ordnung nicht mehr von allen als selbstverständlich hingenommen wird, in der die Zweifler lauter werden, in der die erklärten Gegner dieser Ordnung an Zustimmung gewinnen, muss aber die Formel von der wehrhaften Demokratie mehr sein als nur ein Lippenbekenntnis. Ich glaube, sie enthält konkrete politische Handlungsaufträge. Und ich möchte gern einige – nur ganz kurze – Impulse für die Debatte formulieren.

Wir müssen, erstens, unsere Demokratie besser, nachhaltiger vor Extremisten schützen. Im Grundgesetz wie im Strafrecht sind Instrumente festgeschrieben, um solche Angriffe abzuwehren. Volksverhetzung, Aufrufe zu Gewalt und gewaltsame Versuche, die freiheitliche Ordnung zu zerstören: Wo sie stattfinden, dürfen wir sie nicht hinnehmen. Verfassungsfeindliche Organisationen können verboten werden. Vor allem aber müssen wir Mittel und Wege finden, um gegen Netzwerke vorzugehen, die verfassungsfeindliche Ideen füttern, finanzieren und verbreiten.

Und wir müssen darüber hinaus verhindern, dass eine extremistische Minderheit unsere Institutionen funktionsunfähig machen kann. Deshalb sollten wir auch unser Bundesverfassungsgericht wetterfest machen, es vor möglichen Angriffen auf seine Unabhängigkeit schützen. Die Erfahrungen in der Nachbarschaft, in Polen, Ungarn, aber auch in anderen Ländern, sollten uns eine Mahnung sein. Überall dort stand die Unabhängigkeit der höchsten Gerichte zuallererst im Zentrum von Angriffen auf die liberale Demokratie. Deshalb halte ich den Gedanken für richtig, Regelungen für die Struktur des Gerichts, das Wahlverfahren, die Amtszeiten der Richter ins Grundgesetz aufzunehmen. Regelungen, die dann auch nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit geändert werden können. Ich verkenne die Tragweite und Komplexität einer solchen Regelung überhaupt nicht. Dennoch: Jetzt ist meines Erachtens die Zeit, über Inhalt und Umfang einer solchen Verfassungsergänzung nachzudenken. Und es wäre gut, wenn dazu eine ernsthafte Debatte in Gang käme.

Wir müssen, zweitens, die digitale Debatte demokratietauglich machen. Längst hat sich ein großer Teil unseres Austauschs, unserer Meinungsbildung und unserer Diskussion in den digitalen Raum verlagert. Soziale Medien dominieren mehr und mehr auch die politische Debatte, indem sie Schwarz-Weiß zeichnen, Differenzierung als Mangel an Klarheit diffamieren, Relevantes ignorieren und radikale Positionen befeuern. Die Frage bleibt: Wenn wir unsere Debatten, von denen eine freie Gesellschaft doch lebt, mehr und mehr auf Plattformen führen, die mit Aggression und Lügen ihr Geld verdienen – wie verteidigen wir dann eigentlich den Respekt, die Vernunft, die Wahrheit, die die Grundlage jeder Demokratie sind? Ohne die eine Demokratie langfristig nicht lebensfähig ist.

Wir dürfen nicht zulassen, dass eine Minderheit von lautstarken Extremisten die Themen und das politische Klima im Land dominieren; dass bewusst Lügen verbreitet, zu Hass aufgestachelt, regelrecht Gehirnwäsche betrieben wird, und zwar von Demokratiefeinden aus der ganzen Welt. Wie verhindern wir es, dass junge Menschen geradezu einer Flut von menschenverachtenden, oft genug auch demokratiefeindlichen Videos auf Plattformen wie TikTok ausgesetzt sind? Wir brauchen, davon bin ich überzeugt, einen Demokratieschutz im Digitalen ebenso wie neue Angebote gemeinsamer Erfahrungen und Begegnungen in der analogen Welt.

Demokratie, drittens, braucht Institutionen und Menschen, die in ihnen Verantwortung übernehmen. Wir sollten deshalb die Institutionen unserer Demokratie stärken und sie vor Verächtlichmachung schützen. Es ist inakzeptabel, wenn politische Versammlungen mit Bundestagsabgeordneten gewaltsam gesprengt werden, wenn kleine Gruppen von Demokratiefeinden demokratische Proteste unterwandern; wenn Minister im Urlaub bedrängt, Kommunalpolitikerinnen bedroht oder Abgeordnetenbüros, ja sogar private Wohnhäuser angegriffen werden.

Unsere Parlamente, unsere Regierungen, unsere Bürgermeister – auch wenn sie vielleicht nicht jeden Tag alles richtig machen, sie sind nicht etwas Fremdes, „die da oben“, sondern sie sind in einer Demokratie legitimiert durch Wahlen und tragen Verantwortung auf Zeit. Aber nicht nur auf sie kommt es an. Wir brauchen nicht nur einige, die Politik als Beruf ausüben, nicht nur einige mehr, die es im Ehrenamt tun. Sondern wir brauchen die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die dieses Gemeinwesen - darum heißt es so: Gemeinwesen - zu ihrer Sache machen und sich für unser und in unserem Gemeinwesen engagieren. Dringend notwendig und lohnend auf der Ebene von Städten und Gemeinden, wo sich in manchen Regionen immer weniger Menschen finden, die bereit sind, Zeit in politische Arbeit vor Ort zu investieren. Wir brauchen ganz besonders auch die Jungen! Ich bin überzeugt, dass wir gerade junge Menschen stärker an die parlamentarische Demokratie binden müssen! Deswegen haben wir heute ganz bewusst den Ruf nach einer Senkung des Wahlalters zur Diskussion mit auf die Tagesordnung gesetzt.

Unsere Demokratie wetterfest zu machen, ich sagte es eingangs, das fordert uns alle. Es fordert Einsatz und Tatkraft. Und deshalb bin ich dankbar für die vielen Initiativen und Projekte, die sich überall in Deutschland, auch in kleineren Städten und auf dem Land, für unsere Demokratie engagieren. Heute, und darüber freue ich mich sehr, sind Menschen hier, die in solchen Projekten arbeiten, vom Demokratiebahnhof in Anklam bis zur Aktion Zivilcourage in Pirna. Sie alle verdienen unsere Unterstützung. Dem Anklamer Demokratiebahnhof droht jetzt die Schließung, wegen  des Brandschutzes. Ja, die notwendige Sanierung des Gebäudes erfordert ohne Zweifel Geld; und es ist offenbar so, dass die Kommune dieses wichtige Projekt nicht allein stemmen kann. Das will ich auch gar nicht in Frage stellen. Aber so etwas darf doch nicht das Ende aller Anstrengungen sein. Es kann doch nicht sein, dass das demokratische Engagement von jungen Leuten am Ende am Brandschutz scheitert!

Eine gemeinsame Kraftanstrengung für unsere Demokratie, die wünsche ich mir jetzt im ganzen Land. Unsere Demokratie wetterfest zu machen, das ist nicht die Frage von „denen da unten“ oder „denen da oben“, keine Frage von Regierung und Opposition, keine Frage von Jung und Alt oder Stadt und Land. Sondern: Was wir brauchen, das ist der Schulterschluss der Demokraten in diesem Land. Das ist der Schulterschluss von Demokraten, der immer dann notwendig ist, wenn es ums Ganze geht – die Demokratie selbst.

Liebe Gäste, ich freue mich sehr, dass Sie alle sich dieser gemeinsamen Kraftanstrengung verpflichtet fühlen. Sie bringen Ihre Expertise, Ihre Erfahrungen ein in einen Austausch, aus dem sich hoffentlich neue Erkenntnisse und Möglichkeiten zum Handeln ergeben.

Herzlichen Dank, dass Sie alle da sind. Jetzt hat Pinar Atalay und dann haben Sie alle das Wort!