Daniel Cohn-Bendit über Israel: „Ein großes Ghetto“
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Daniel Cohn-Bendit über Israel: „Ein großes Ghetto - da will ich nicht leben“

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Der Ultranationalismus feiert sich selbst beim Fahnenmarsch am „Jerusalem-Tag“. GIL COHEN-MAGEN/AFP
Der Ultranationalismus feiert sich selbst beim Fahnenmarsch am „Jerusalem-Tag“. © Gil Cohen-Magen/AFP

Daniel Cohn-Bendit über das 75-jährige Bestehen des jüdischen Staates, die Apartheid in den besetzten Gebieten und den Schlamassel, ein Jude zu sein.

Herr Cohn-Bendit, Sie verstehen sich als Jude. Was bedeutet es für Sie, ein Jude zu sein?

Es ist ein Schlamassel und letztendlich ein Rätsel. Jude zu sein, ist ein Lebensschicksal. Meine Eltern waren Juden, wurden von den Nazis verfolgt. Ich bin also das Kind von Verfolgten. So entstand das Bewusstsein, ein Jude zu sein. Irgendwie gehöre ich dazu, obwohl ich nicht beschnitten bin und nicht in die Synagoge gehe.

Schon 1968 in Frankreich, als Sie ein Anführer der Studentenbewegung waren, wurden Sie antisemitisch attackiert. Die Gaullisten und die Kommunisten forderten damals lautstark: „Raus mit dem deutschen Juden Cohn-Bendit aus Frankreich!“

Bei großen Demonstrationen riefen sie sogar: „Cohn-Bendit nach Dachau!“ Da wusste ich: Hannah Arendt hat Recht. Sie schrieb schon in den 40er Jahren: Vor Antisemitismus ist man nur auf dem Mond sicher. Es gibt Antisemitismus auch dort, wo es gar keine Juden gibt. Der Antisemitismus ist im Christentum tief verankert. Diese kulturelle Verwurzelung des Antisemitismus in der Gesellschaft definiert dich als Jude.

Daniel Cohn-Bendit: „Es wird immer Antisemitismus geben“

Wie fühlten Sie sich, als Sie 1968 so angegriffen wurden?

Die Sache hatte zwei Seiten. Es gab die antisemitischen Ressentiments gegen mich in Frankreich von Kommunisten und Gaullisten. Es gab aber auch Hunderttausende dort, die demonstrierten und dabei riefen: „Wir sind alle deutsche Juden!“ Sie zeigten sich also solidarisch mit mir.

Ist der Antisemitismus unausrottbar?

Ja, ich denke, es wird immer Antisemitismus geben. Manchmal ist er verborgen. Aber er ist da und kann jederzeit ausbrechen.

Wie sind Sie in Ihrem Leben damit umgegangen?

Lange Zeit habe ich den Antisemitismus und die Angriffe gegen mich ignoriert. Meine Ehefrau Ingrid hat stets zu mir gesagt: Du machst es Dir zu leicht. 2021 habe ich mich endlich der Frage nach meiner jüdischen Identität gestellt. In diesem Zusammenhang bin ich nach Israel gefahren und habe dort unter anderem einen Film gedreht unter dem Titel: „Wir sind alle deutsche Juden.“ Ich habe mich zum ersten Mal damit auseinandergesetzt. Ich habe Gespräche mit vielen Juden geführt, auch mit orthodoxen. Dabei ist mir klar geworden: Ich will nicht in Israel leben. Ich kann in Frankreich oder in Deutschland leben, aber ich will nicht in Israel leben. Es war nicht einfach, diesen Film im deutschen Fernsehen unterzubringen. Ich hatte ihn zunächst dem WDR angeboten, aber der wollte ihn nicht zeigen. Erst der NDR und RBB haben ihn dann ins Fernsehen gebracht. Es war irre, dass ich darum kämpfen musste.

Daniel Cohn-Bendit über Israel

Warum wollen Sie nicht in Israel leben?

Mein Vater hat immer gesagt: Nur unter und mit Juden zusammen zu leben, ist unmöglich (lacht). Ich kann absolut verstehen, dass Juden nach der Erfahrung des Holocaust gesagt haben: Wir brauchen einen eigenen Staat, wo wir in der Mehrheit sind und uns selber verteidigen können. Aber das ist nicht mein Bewusstsein und nicht mein Bedürfnis. Ich war oft in Israel. Aber ich will nicht im Ghetto leben. Israel ist ein großes Ghetto, da will ich nicht leben. Ich drücke es mal so aus: Ich bin azionistisch, weder zionistisch noch anti-zionistisch. Ich bin ein säkularer Jude, dem die Religion fremd ist. Wie alle Religionen.

Als Lösung für den Konflikt zwischen dem israelischen und dem palästinensischen Volk wird die Existenz von zwei Staaten nebeneinander angesehen. Tatsächlich besteht Palästina aber ja nur aus winzigen, zersplitterten Parzellen.

Nun, ein eigenständiger palästinensischer Staat müsste natürlich weit mehr sein als die heutigen Flächen. Israel müsste sich auf die Grenzen von 1967 zurückziehen und die besetzten Gebiete räumen. Das ist derzeit genauso illusorisch wie ein gemeinsamer Staat für beide Völker.

Es gibt also keine Lösung für diesen Konflikt?

Eine Lösung wird es nur geben, wenn beide Seiten die legitimen Ansprüche des anderen anerkennen. Das Tragische ist: Je mehr Zeit verstreicht, desto weniger wird eine Lösung möglich sein. Die arabischen Staaten haben kein Interesse an einem starken Palästina. Die Palästinenser sind die großen Verlierer der Geschichte. Wenn 1948 die arabischen Staaten dem Existenzrecht Israels in den damals von den UN gezogenen Grenzen zugestimmt hätten, gäbe es heute zwei Staaten. Die arabischen Staaten wählten aber den Krieg und das war der Beginn vieler Niederlagen für sie.

zur person

Daniel Cohn-Bendit (78) kam in Frankreich zur Welt als Kind von Verfolgten. Mitte der 60er Jahre begann er ein Studium in Paris, um so dem deutschen Wehrdienst zu entgehen. 1968 wurde er zu einer der Leitfiguren des Jugendprotests im Westen. Später gründete er die Grünen mit, wurde Frankfurts erster Multikulti-Dezernent und saß auch im Europaparlament. rut

Die deutsche Politik sieht das Existenzrecht Israels als Staatsräson an.

Ich würde es eine gesellschaftliche Räson nennen. Das nationalsozialistische Deutschland ist verantwortlich für die Shoah, den Mord an Millionen von Juden. Somit sind die Deutschen irgendwie auch verantwortlich dafür, dass die Juden vor 75 Jahren diesen eigenen Staat gegründet haben. Staatsräson darf aber nicht bedeuten, dass Deutschland blind ist für falsche Entwicklungen in Israel.

Daniel Cohn-Bendit: „BDS ist Unsinn“

Es gibt die Boykott-Bewegung BDS gegen Israel.

BDS ist Unsinn. Was man vertreten kann, ist der Boykott von Waren, die aus den israelisch besetzten Gebieten stammen. Diese politische Position habe ich bereits als Abgeordneter im Europäischen Parlament vertreten. Aber Wissenschaftler und Künstler aus Israel zu boykottieren, ist dumm und totalitär.

Wenn Sie mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu reden könnten, was würden Sie ihm sagen?

Ich habe kein Bedürfnis, mit Netanjahu zu reden, genauso wenig wie mit Donald Trump oder mit Viktor Orbán. Ich habe ein Bedürfnis, mit der israelischen Zivilgesellschaft zu sprechen, mit fabelhaften Menschen wie etwa dem Schriftsteller David Grossman. Ich unterstütze den Protest der Zivilgesellschaft gegen die von der israelischen Rechten geplanten Einschränkungen der Freiheit in Israel. Das Einzige, was ich kritisch anmerke, ist, dass dieser Protest noch sehr wenig der Lage in den israelisch besetzten Gebieten gilt. Wenn man für die Demokratie kämpft, dann muss man auch über die Veränderung der undemokratischen Verhältnisse in den besetzten Gebieten reden. In den besetzten Gebieten herrscht Apartheid, sie stehen unter einer israelisch-militärischen Gerichtsbarkeit. Diese Lage dort muss unbedingt überwunden werden. Die Besatzung ist ein unwürdiger Makel für die israelische demokratische Gesellschaft.

Daniel Cohn-Bendit gibt im Interview mit der FR einen Einblick in seine Sicht auf Israel. (Archivbild)
Daniel Cohn-Bendit gibt im Interview mit der FR einen Einblick in seine Sicht auf Israel. (Archivbild) © Mario Cruz/dpa

Israel feiert das 75. Jahr seines Bestehens. Welche Gefühle bewegen Sie, wenn Sie an dieses Jubiläum denken? Fühlen Sie auch Trauer?

Trauer? Nein, auf keinen Fall, Trauer fühle ich nicht. Ich verstehe die Trauer der Palästinenser über das historische Drama. Für viele Juden aber ist ein demokratisches Israel eine Hoffnung – eine Hoffnung, die ich akzeptiere, auch wenn sie nicht die meine ist. Aber diese Hoffnung darf nicht blind machen für das Leiden der Palästinenser. Eine Hoffnung auf eine Zwei-Staaten-Lösung ist eine Hoffnung, für die es sich zu kämpfen lohnt. Das Ende dieser Geschichte ist noch nicht geschrieben.

Daniel Cohn-Bendit erinnert sich an die Ermordung Jitzchak Rabins in Israel

Kann sie positiv enden?

Kann die Geschichte der USA positiv enden oder die Geschichte Russlands oder die Geschichte Europas? Wie das historische Drama in Israel endet, weiß ich nicht. Ich kann nur sagen: Zu Zeiten des Premierministers Jitzchak Rabin in den 90er Jahren waren wir ganz nah dran an einer Lösung, waren die Verhandlungen Israels mit den Palästinensern weit fortgeschritten. Die Verhandlungen in Oslo im September 1995 bewegten sich damals auf einer Rasierklinge. Dann gab es ein furchtbares Massaker in Hebron, als Rechtsradikale eine Moschee angriffen. Und dann wurde Rabin am 4. November 1995 bei einer großen Friedenskundgebung in Tel Aviv von einem Rechtsradikalen ermordet.

Hat dieses Attentat auf Rabin die Geschichte entscheidend verändert?

Ja. Der Mord an Rabin war der entscheidende Bruch. Es gibt politische Morde, die die Geschichte eines Landes grundlegend verändern. Eine solche Tat war auch die Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy 1963 und seines Bruders Robert Kennedy 1968. Die Geschichte wird auch von Individuen bestimmt.

Was hat die Ermordung Rabins bewirkt?

Die israelischen Faschisten haben auf diese Weise ihr Ziel erreicht, eine Einigung mit den Palästinensern zu verhindern. Der Friedensprozess geriet ins Stocken, kam nicht weiter. Heute sind die politischen Erben dieser Faschisten in Israel an der Regierung beteiligt. Und sie feiern noch heute die Ermordung von Rabin, weil sie genau wissen, was sie bedeutet hat. Die arabischen Staaten und die palästinensische Autonomiebehörde haben sich in der Folge auch nicht für die Demokratie geöffnet.

Bleiben Sie ein Optimist, glauben Sie an eine gute Perspektive für Israel?

Wir werden sehen. Als Albert Einstein Charlie Chaplin traf, sagte er zu ihm: „Ihre Weisheit ist universell, Sie sagen kein Wort und alle Menschen verstehen Sie.“ Daraufhin antwortete Charlie Chaplin: „Sie formulieren eine universelle Wahrheit und keiner versteht sie.“ C’est la vie.

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