Clemens von Ketteler (1853–1900) hatte wohl einfach Pech, als er sich am Morgen des 20. Juni 1900 mit seinem Dolmetscher auf den Weg zum kaiserlichen Außenministerium in Peking machte. Nachdem beide das exterritoriale Gesandtschaftsviertel verlassen hatten, wurde Ketteler am Ha-Ta-Men-Tor von einem Unteroffizier der Mandschu-Armee gestoppt. Der eröffnete umgehend das Feuer.
Vielleicht hätte Ketteler eine Eskorte retten können. Die hätte ihn zwar in den Augen seines Mörders nicht sympathischer gemacht, aber ihm wohl signalisiert, dass es sich bei seinem Opfer um eine hochgestellte „Langnase“ handelte, wie Europäer in China gern genannt wurden. Denn Ketteler war nicht irgendein Zivilist, sondern der Gesandte des Deutschen Reiches. Und damit wurde der Fall zu einer internationalen Affäre.
Kettelers Mörder erklärte vor seiner späteren Hinrichtung, im Auftrag seiner Vorgesetzten gehandelt zu haben. Das hat Einiges für sich. Denn in China standen im Frühjahr 1900 die Zeichen auf Sturm. Hunger, Misswirtschaft und die Allgegenwart ausländischer Geschäftsleute hatten dazu geführt, dass sich auf dem Land Verarmte, Enttäuschte und Entwurzelte zusammenfanden und sowohl gegen das kaiserliche Regime als auch die „weißen Teufel“ vorgingen. Da sie sich nach dem Vorbild traditioneller Kampfschulen bewaffneten, wurden sie von westlichen Beobachtern als Boxer beschrieben.
Kaiserinwitwe Cixi, die in Pekings Verbotener Stadt die Fäden zog, sah ihre Chance und verbündete sich mit den Aufständischen. Knapp 500 ausländische Zivilisten, 2300 chinesische Christen und 450 Soldaten wurden von 20.000 Chinesen im Gesandtschaftsviertel eingeschlossen.
Während eine alliierte Flotte vor der Küste Chinas aufmarschierte, wollte Ketteler Verhandlungen aufnehmen. Dass der Diplomat dabei erschossen wurde, hatte weitreichende Folgen. Denn nun intensivierte auch das Deutsche Reich sein Engagement in China, wo bislang vor allem Briten, Russen, Amerikaner und Japaner Truppen zusammengezogen hatten. Obwohl in Deutschland erst ein Expeditionskorps aufgestellt werden musste, forderte Wilhelm II. den Oberbefehl.
Wie der Kaiser ihn sich vorstellte, machte er bei der Einschiffung am 27. Juli in Bremerhaven deutlich: „Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht ... Wie vor 1000 Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht … so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“
Die Alliierten ließen sich davon nicht beeindrucken. Bereits im August konnten ihre Truppen die belagerten Europäer in Peking entsetzen. Die Kaiserinwitwe machte eine neue Wendung und befahl ihren Soldaten, gegen die Boxer vorzugehen. Massenhinrichtungen folgten. Erst einen Monat später erreichten die deutschen Truppen China, wo sie umgehend darangingen, die Vorgaben ihres Kaisers in die Tat umzusetzen: „Alles, was uns in den Weg kam, ob Mann, Frau oder Kinde, alles wurde abgeschlachtet. Nun, wie da die Weiber schrien! Aber des Kaisers Befehl lautet: keinen Pardon geben.“ Derartige Briefzitate entsetzten sogar den Reichstag.
Das Ergebnis der Expedition war das „Boxerprotokoll“ vom September 1901, das in China als Höhepunkt der „ungleichen Verträge“ gewertet wird. Zu den zahlreichen Wiedergutmachungsleistungen gehörte die Errichtung eines Denkmals für Ketteler und eine demütigende Entschuldigungsmission nach Berlin. Zwölf Jahre später war deren Ursache fast vergessen. Stattdessen erinnerten sich Deutschlands Gegner im Ersten Weltkrieg an Wilhelms Worte und machten seine Soldaten zu „Hunnen“.
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