Fotoserie zur US-Justiz in Hannover
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Fotoserie zur US-Justiz in Hannover

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Ein US-Gefängnis ist im Dunkeln, angeleuchtet und von außen, zu sehen.
Hinter dicken Mauern: Jan Banning fotografierte auch in dem Gefängnis, in dem Boyer einsitzt. © Jan Banning

Eine Ausstellung in der Galerie für Fotografie bietet berührende Einblicke in den Fall einer US-Amerikanerin, die wegen Kindstötung im Gefängnis sitzt.

Hannover – Was ist ein „Artivist“? Wer den Begriff als eine Mischung aus Aktivist und Künstler deutet, liegt richtig. Der Niederländer Jan Banning gehört dieser Spezies an. Ein besonders eindringliches Ergebnis seiner Arbeit zeigt nun die Galerie für Fotografie (GAF) im Kulturzentrum Eisfabrik in Hannover. Hauptfigur der Schau ist eine Frau, die seit 16 Jahren wegen Misshandlung und Tötung ihres Kindes in einem US-Gefängnis sitzt.

„The Verdict“ (deutsch: „Das Urteil“) ist eher eine Installation als eine reine Fotoausstellung. Um welches Urteil es genau geht, verrät der Untertitel „The Christina Boyer Case“ („Der Fall der Christina Boyer“). Banning arbeitet einen Fall auf, der vor drei Jahrzehnten im US-Staat Georgia begann. Boyer, damals 22 Jahre alt, wurde beschuldigt, ihre dreijährige Tochter Amber misshandelt und getötet zu haben. Das Strafmaß betrug lebenslänglich plus 20 Jahre. Boyer sitzt seit 2008 im Pulaski State Prison ein, einem reinen Frauengefängnis.

Ein Spot setzt Details in Szene

Dort entstand im Juni 2013 eine Fotoserie, als Banning Porträtaufnahmen von Verurteilten machte. Er erfuhr zwar deren Namen, durfte mit ihnen aber nicht über die jeweils zur Last gelegten Verbrechen sprechen. Einige dieser Fälle recherchierte der Fotograf anschließend im Internet – und stieß dabei auch auf die speziellen Umstände bei Christina Boyer. Auf der entsprechenden Fotowand in der GAF-Ausstellung ist sie durch einen Lichtakzent in der Reihe der Gefängnisinsassinnen hervorgehoben – ein Stilmittel, das Banning immer wieder benutzt.

Bei seinen Nachforschungen glaubte der Fotograf gleich mehrfach Ungereimtheiten zu entdecken. Welche Rolle spielte etwa Boyers Lebensgefährte, der zwar auch verurteilt wurde, aber ein weit geringeres Strafmaß erhielt und inzwischen schon lange wieder auf freiem Fuß ist?

Akribisch widmet sich Banning gewissen Eigenheiten der US-amerikanischen Justiz und vor allem der dortigen Neigung zu „Deals“: Offenbar legte ein Anwalt Boyer, die zu diesem Zeitpunkt unter dem starken Einfluss von Medikamenten gestanden haben soll, ein sogenanntes Alford-Plädoyer nahe, um die drohende Todesstrafe abzuwenden: Das ist eine Konstruktion, bei der Angeklagte die Tat nicht eingestehen, jedoch zugeben, dass genügend Beweise für eine Verurteilung vorliegen.

Tagebucheinträge der Verurteilten sind Teil der Ausstellung

Über all dies informieren in der Ausstellung Schrifttafeln, die nicht ausführlicher sind als unbedingt nötig, und den Fotografien so genügend Raum lassen. Diese Aufnahmen sind teils dokumentarisch und wirken nachgerade herzzerreißend, teils sind sie inszeniert, was etwas fragwürdig erscheint: Mögen diese Darstellungen auch auf Fakten beruhen, erzeugen sie doch zumindest im Einzelfall eine Art cineastische Mystery-Atmosphäre, die dem Thema nicht wirklich angemessen ist.

Zu sehen sind ferner Seiten aus Original-Tagebüchern von Boyer mit deutscher Übersetzung. Unbedingt sollten Besucher die Stiege zur Empore erklimmen: Denn oben kann man nachlesen (und per QR-Code auch hören), welche Assoziationen Boyer bei Fotomotiven hatte, die Banning der Verurteilten vorlegte. Zum Beispiel eine Mauer: „Ich frage mich, ob sie nicht nur dazu dienen, die Gefangenen drinnen zu halten, sondern auch, um das Leben draußen zu halten.“ Oder eine amerikanische Flagge: „Ich war einmal eine SEHR patriotische Frau. Ich dachte, dies sei das beste Land der Welt.“

Die Ausstellung hat ausgeprägte Tiefenwirkung und berührt elementare Fragen: Was ist Wahrheit, was ist Gerechtigkeit, worauf gründet sich Meinungsbildung? Einmal mehr setzt die GAF so ein Ausrufezeichen. Sie ist eng mit dem Studiengang „Visual Journalism and Documentary Photography“ (vormals: „Fotojournalismus und Dokumentarfotografie“) der Hochschule Hannover verknüpft, der aus gutem Grund auch international einen hervorragenden Ruf genießt.

Besuch: Die Ausstellung „The Verdict: The Christina Boyer Case“ in der Galerie für Fotografie Hannover ist donnerstags bis sonntags jeweils von 12 bis 18 Uhr geöffnet und läuft noch bis zum 28. April. Der Eintritt ist kostenlos.

Jubiläumsschau ab 9. Mai

Wer sich über die Banning-Schau hinaus einen Überblick zur Ausstellungstätigkeit der Galerie verschaffen möchte, hat dazu übrigens bei der kommenden Jubiläumsschau „10 Jahre – 100 Bilder“ (9. Mai bis 16. Juni) eine besonders gute Gelegenheit. Die Exponate sollen nicht nur vor Ort, sondern auch auf Großwerbeflächen in den U-Bahnhöfen Hannovers zu sehen sein. Ziel ist, dass möglichst viele Menschen dem auf der GAF-Website genannten Credo folgen können: „Auch in der Fotografie fühlen wir uns dem Humanismus verpflichtet. Persönliche Nabelschau interessiert uns nicht.“

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