„Die Lage Europas“ – Rede von Präsident Charles Michel auf der Berliner Konferenz 2021 - Consilium Skip to content

„Die Lage Europas“ – Rede von Präsident Charles Michel auf der Berliner Konferenz 2021

Vielen Dank für den herzlichen Empfang!

Es berührt mich sehr, an einem so bedeutsamen Datum – dem 9. November – hier in Berlin zu Ihnen zu sprechen. Für einen glühenden Europäer gibt es vermutlich weder ein besseres Datum noch einen besseren Ort, um über die Zukunft Europas zu sprechen. Zufällig fanden an diesem Tag zwei Ereignisse statt, von denen eines den Nährboden für die schlimmste Tragödie unseres Kontinents bildete, und das andere einige Jahrzehnte später zum Symbol für den Beginn unseres Einigungsprozesses wurde.

Das Europa der 27 ist das Ergebnis einer einzigartigen Versöhnung nach einer einzigartigen Tragödie. Und Berlin an einem 9. November ist die symbolische Hauptstadt dieses Europas.

Aber bei Europa geht es nicht nur um Symbole. Europa ist das Ergebnis der jahrzehntelangen harten Arbeit einer Handvoll Menschen. Sie ließen sich nicht durch ihre weit auseinander liegenden Ausgangspunkte und ihr fast utopisches Ideal abschrecken. Konrad Adenauer war einer von ihnen. Die Diskussion über die Zukunft Europas unter seinem wachsamen Blick verlangt nach hohen Maßstäben und nach Bescheidenheit. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir diese kostbare Gelegenheit gegeben haben.

Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert Europas sein. Ich weiß, das mag anmaßend klingen! Europa steht ebenso wie der Rest der Welt vor enormen Herausforderungen.

Der Klimawandel und die Rettung unseres Planeten und der Menschheit vor Naturkatastrophen. Dies wird einen radikalen Wandel unseres bisherigen Entwicklungsmodells erfordern. Die digitale Revolution ... und der Umgang mit der boomenden künstlichen Intelligenz. Und darüber hinaus COVID-19, eine lang vorhergesagte Pandemie, auf die wir dennoch nicht vorbereitet waren. Und nicht zuletzt sehen wir uns mit dem wachsenden Druck autoritärer Regime konfrontiert. Sie verursachen neue Spannungen und untergraben unsere Demokratien. Wissenschaft und Fakten werden zunehmend in Frage gestellt.

Wir sind damit nicht alleine und wir sind keine Ausnahme. Jede Generation steht vor ganz einzigartigen und scheinbar unüberwindbaren Herausforderungen. Es ist jedoch keine Übertreibung, zu sagen, dass die heutigen Herausforderungen die komplexesten seit der Nachkriegszeit sind. Und wir alle spüren unsere gemeinsame historische Verantwortung. Ich bin davon überzeugt, dass die EU die Kraft hat, um diese Herausforderungen zu bewältigen.

Europa wird in der Welt bewundert

Natürlich hören wir in Europa häufig pessimistische oder defätistische Ansichten über Europa. Dass wir zu schwach und zu hilflos sind, um uns den Gefahren dieser unsicheren Zeiten zu stellen. Einige Gruppen nutzen sogar die Ängste der Menschen als Sprungbrett für ihre eigenen Ambitionen.

Ich habe ganz andere Erfahrungen gemacht. Wenn ich Führungspersönlichkeiten, Aktivisten von Nichtregierungsorganisationen oder Menschen auf der ganzen Welt treffe, sprechen sie fast immer voller Bewunderung über unsere Europäische Union. Ich habe vor Kurzem an dem Gipfeltreffen der lateinamerikanischen und karibischen Staaten in Mexiko teilgenommen. In meinen Gesprächen mit den führenden Politikern dort konnte ich die starke und magnetische Anziehungskraft spüren, die die Europäische Union für sie hat.

Was genau sehen sie also in uns?

Sie sehen eine große Macht. Sie sehen den größten Raum der Demokratie und Freiheit auf der Welt. Den am weitesten fortgeschrittenen Raum des Wohlstands und der sozialen Entwicklung. Sie sehen ein einzigartiges Beispiel kontinentaler Integration – in friedlicher und freiwilliger Weise.

Ein erfolgreicher Akteur

Diese Bewunderung ist keine abstrakte Projektion. Sie lässt sich vielmehr durch unsere konkreten Erfolge erklären.

Unsere gemeinsame Währung, der Euro, ist inzwischen die am zweithäufigsten gehandelte Währung der Welt. Unser Raum der Freizügigkeit bietet Vorteile, die wir erst dann voll zu schätzen wussten, als ihm die Pandemie Grenzen setzte. Und unsere Erfolge wirken sich unmittelbar auf die übrige Welt aus. Und zwar zum Besseren!

Die Europäische Union hat im Kampf gegen die Erderwärmung seit Jahren eine Führungsrolle übernommen. Insbesondere im Jahr 2019, als wir uns als erste dazu verpflichtet haben, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen. Andere sind uns gefolgt.

Und als wir nach einigem anfänglichen Zögern auf COVID-19 reagierten, haben wir dies rasch und entschlossen getan. Und vor allem solidarisch! Wir haben uns auf das ehrgeizigste Investitions- und Konjunkturpaket geeinigt, das jemals von der Europäischen Union beschlossen wurde. Und dies ... einmal mehr von sehr unterschiedlichen Ausgangspunkten aus.

An dieser Stelle möchte ich Deutschland meine Anerkennung aussprechen. Sie haben eine führende Rolle dabei gespielt, die Voraussetzungen für gemeinsame europäische Investitionen neu zu definieren. Und für die Finanzierung einer wirtschaftlichen Erholung, die unserem gesamten europäischen Binnenmarkt zugutekommt.

Was die Impfstoffe anbelangt, so stand die Europäische Union bei der weltweiten Mittelbeschaffung an der Spitze. Und wir haben unsere Strategie auf Solidarität gebaut. Von Anfang an haben wir beschlossen, gemeinsam Impfstoffe für alle 27 Mitgliedstaaten zu beschaffen. Dadurch war ihre gerechte Verteilung in der gesamten Union gewährleistet.

Bereits im März wussten wir beim Thema Impfstoffe, dass die EU keinen Sprint, sondern einen Marathon vor sich hat. Und tatsächlich ist die EU zum weltweit größten Hersteller und Exporteur von COVID-Impfstoffen geworden. Und wenn es um die weltweite Solidarität bei Impfstoffen geht, steht die EU erneut an der Spitze. Wir haben dazu beigetragen, die COVAX-Fazilität ins Leben zu rufen – die für eine gerechte Verteilung von Impfstoffen auf der ganzen Welt steht. Und wir sind ihr wichtigster Geber. Wir haben Programme zur Entwicklung von Produktionskapazitäten für mRNA-Impfstoff in Afrika auf den Weg gebracht. Und wir sind bereit, dies auch in anderen Teilen der Welt zu tun.

Die EU hat all dies geleistet, obwohl sie nach den EU-Verträgen nahezu keinerlei Zuständigkeit im Gesundheitsbereich hat. Wir haben es getan, weil es der Wunsch unserer 27 Mitgliedstaaten war. Und wir haben es getan, ohne einen Konvent einzuberufen oder die Verträge zu ändern.

Diese Erfolge und das Bild, das wir der Welt von uns vermitteln, bestärkt mich noch mehr in meiner tiefen Überzeugung, dass unser einzigartiges europäisches Modell es uns ermöglichen wird, uns den größten Herausforderungen dieses Jahrhunderts erfolgreich zu stellen.

Ich glaube, Europa ist dazu bestimmt, zur großen „Friedensmacht“ des 21. Jahrhunderts zu werden. Eine positive, einende Macht.

Wir können dieser Bestimmung gerecht werden, wenn wir die beiden Bedingungen erfüllen, die so perfekt auf den Punkt gebracht wurden von jemandem, der Ihnen allen – und mir ganz besonders – lieb und teuer ist: Angela Merkel. Als ihr kürzlich in Extremadura der spanische Europapreis Karl V. verliehen wurde, sagte sie: „Europa kann nur so stark sein, wie es einig ist, und es kann nur so einig sein, wie es sich über gemeinsame Werte verbunden sieht. Einig nach innen und stark nach außen.“

Einigkeit und Stärke zusammen mit unserer „strategischen Autonomie“ – das sind die Schlüssel zur Zukunft Europas.

Die Einheit steht über allem

Die Einheit steht über allem! Wo sonst als in Deutschland weiß man besser, dass Einheit uns stärker macht?

Wie Sie jedoch wissen, kommt Einheit nicht von selbst. Sie erfordert Arbeit. Sie muss aufgebaut werden. Schritt für Schritt, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Sie erfordert politischen Mut. Und damit die Einheit in einer Union der 27 bestehen bleibt, gibt es zwei Grundvoraussetzungen – gegenseitiges Verständnis und gegenseitiges Vertrauen.

Unsere Länder und Regionen haben eine unterschiedliche Geschichte, unterschiedliche Sprachen und Traditionen und einen unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Hintergrund. Und es ist gerade diese Vielfalt, die Europa so besonders reich macht – aber auch unser Streben nach Einheit so besonders herausfordernd. Daher müssen wir uns bemühen, einander zu verstehen und unsere Unterschiede zu respektieren.

Es bedeutet auch, jedem Teil unserer Union dieselbe Legitimität zuzugestehen. Es sollte nicht von kleinen und großen Mitgliedstaaten gesprochen werden. Oder von Mitte und Randgebieten. Oder von alten und neuen Mitgliedstaaten. Und wir sollten auch nicht von Nationen sprechen, die den europäischen Geist besser „verstanden“ haben als andere. Dies vergiftet nur unsere Einheit. Und es zeugt von Überheblichkeit.

Nirgendwo weiß man dies besser als in dieser Stadt – in Berlin. Hier, wo der Fall der Mauer ein allmähliches Einreißen der geistigen Mauern bewirkt hat. Dennoch hören wir andernorts manchmal Worte, die dazu führen, dass einige Länder der Union meinen, es werde mit zweierlei Maß gemessen. Dies darf nicht sein. In einer Union gibt es keinen Platz für zweierlei Maß.

Damit die Einheit fortbestehen und gedeihen kann, braucht sie ein solides Fundament. Unsere gemeinsamen Werte. Menschenwürde und Freiheit. Solidarität und Toleranz. Wahrung der Vielfalt. Es braucht außerdem Vertrauen, das aus einer Reihe gemeinsam bestimmter und anerkannter Regeln erwächst und davon geprägt wird. Und Geduld.

Die Einheit ist nicht für alle Zeit in Stein gemeißelt. Es ist vielmehr ein Prozess, eine gemeinsame Reise. Am Anfang stehen unterschiedliche Interessen und unterschiedliche Standpunkte. Dann wird diskutiert. Und aufmerksam zugehört. Man arbeitet daran, sie aneinander anzunähern. Man ermittelt gemeinsame Interessen. Man schließt Kompromisse – im Interesse aller. Zum Wohle aller.

Ich sehe häufig die Schlagzeilen vor unseren Tagungen des Europäischen Rates. Sie prangern die Spaltung der Union an, als seien unterschiedliche Ansichten und unterschiedliche nationale Interessen ein Verrat an unserer Union.

Ich sehe das nicht so.

Demokratische Debatte bedeutet, zusammenzukommen, sich ins Gesicht zu sehen, bisweilen heftig zu diskutieren und Entscheidungen zu treffen. So funktioniert Demokratie!

Einheit erfordert auch Eigenverantwortung. In autoritären Systemen ist dies einfach – die Eigenverantwortung wird auferlegt. In demokratischen Systemen ist dies schwieriger – man diskutiert darüber, bis sie schließlich erreicht ist. Genau dies bewirkt demokratische Legitimität.

In Brüssel hören Sie manchmal den Ausspruch: „Die Europäische Union wäre eine völlig geniale Erfindung. Nur leider besteht sie aus Mitgliedstaaten.“ Dies klingt so, als wären die Mitgliedstaaten in gewisser Weise egoistisch und stünden der Verwirklichung unseres „europäischen Ideals“ im Wege. Nichts entspricht weniger der Realität.

Die Europäische Union stützt sich auf eine doppelte demokratische Legitimität. Einerseits die Legitimität der Mitgliedstaaten, in denen die Parlamente gewählt und die Regierungen ernannt werden. Sie vertreten ihre jeweiligen Länder im Rat. Und andererseits die Legitimität des direkt gewählten Europäischen Parlaments.

Die Einsetzung der Europäischen Kommission spiegelt diese doppelte demokratische Legitimität wider. Ein Tätigwerden der EU ist nur möglich, wenn es auf diese beiden demokratischen Säulen gestützt ist. Die eine besitzt nicht mehr „europäische Legitimität“ als die andere.

Diese Legitimität wird durch Rechtsstaatlichkeit gewährleistet. Rechtsstaatlichkeit bedeutet Gewaltenteilung und Unabhängigkeit dieser Gewalten voneinander. Insbesondere aber die Unabhängigkeit der Justiz – die wesentliche Voraussetzung für das Vertrauen in das System.

Strategische Autonomie

Der andere Schlüssel für die Zukunft Europas ist unsere strategische Autonomie.

Dieser Begriff wird an verschiedenen Orten und je nach Empfindlichkeiten unterschiedlich ausgelegt. Wichtig ist dabei allerdings nicht der Begriff selbst, sondern die damit verbundene inhaltliche Bedeutung – also unsere Ziele.

Meiner Ansicht nach bedeutet strategische Autonomie nicht mehr und nicht weniger, als Herr unseres eigenen Schicksals zu sein. Die Fähigkeit, in einer offenen Welt gemeinsam zu handeln. Es bedeutet, unsere gegenseitigen Abhängigkeiten steuern zu können und zugleich übermäßige Abhängigkeiten zu vermeiden. Um unsere strategische Autonomie zu verbessern, müssen wir unseren Wohlstand, unseren Binnenmarkt und unsere Sicherheit stärken.

Wohlstand

Unser Wohlstand gründet auf einem wettbewerbsorientierten Markt mit 450 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, der unbegrenzte Möglichkeiten für kreative und unternehmerische Freiheit und für den freien Austausch lässt. Wir müssen seinen Rahmen noch weiter verbessern – also die Bankenunion vollenden und eine echte Kapitalmarktunion schaffen –, um die Realwirtschaft besser mit den erforderlichen Mitteln zu versorgen. Und wir werden bald darüber sprechen müssen, ob unser Stabilitäts- und Wachstumspakt, der 24 Jahre lang gut funktioniert hat, überarbeitet werden muss.

Ludwig Erhard hat Deutschland stets daran erinnert, dass „der Mensch im Mittelpunkt der Wirtschaft steht“. Unsere europäische Vision ist eine Vision von gemeinsamem Wohlstand, bei der alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Chancen und das gleiche Angebot an Produkten und Dienstleistungen haben. Dies ist Sinn und Zweck unserer Kohäsionspolitik und unseres Aufbauprogramms „NextGenerationEU“, die darauf abzielen, die Unterschiede zwischen den Ländern und Regionen zu verringern. Je stärker sich unsere Volkswirtschaften aneinander angleichen, desto stärker werden sie sich gegenseitig unterstützen können.

Die Europäische Union verfügt über eine klare und solide Strategie, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts entgegenzutreten. Eine Strategie, die sich auf den grünen und den digitalen Wandel stützt. Sie sind in unserem europäischen Grünen Deal und in unserer Digitalen Agenda verankert. Beides erfordert einen massiven wirtschaftlichen und sozialen Paradigmenwechsel.

Die aktuelle Klimakrise lässt uns keine andere Wahl. Wir müssen ein völlig neues Entwicklungsmodell verfolgen, bei dem die natürlichen Ressourcen nicht mehr vergeudet, sondern in einer Kreislaufwirtschaft, die sich von fossilen Brennstoffen losgesagt hat, wiederverwendet werden. Dieser Wandel erfordert tiefgreifende Änderungen unseres Verhaltens. Aber er bietet auch ein gewaltiges Potenzial für Innovationen und für die Entwicklung neuer Technologien und Dienstleistungen, die unseren Wohlstand fördern werden. Die digitale Revolution wird eine zentrale Rolle spielen, und unser künftiger Erfolg wird entscheidend davon abhängen, dass wir das enorme Potenzial von Daten und künstlicher Intelligenz bestmöglich nutzen.

Diese Zukunftsaussichten wecken bei einigen Begeisterung, bei anderen hingegen Angstgefühle. Viele Menschen fragen sich, was aus ihren Arbeitsplätzen wird, oder machen sich Sorgen um die Perspektiven für ihre Kinder. Diese Verunsicherung ist nachvollziehbar. In zehn oder zwanzig Jahre werden einige von Ihnen in Berufen arbeiten, die es heute noch nicht gibt. Das ist schwer vorstellbar. Deshalb müssen wir zukunftsorientiert denken und die richtigen Ausbildungswege für diese neuen Berufe anbieten, weil wir vor allem dringend qualifizierte Arbeitskräfte benötigen werden. Wir möchten, dass alle an dieser spannenden Zukunft teilhaben.

Handel

Unser Wohlstand ergibt sich aus unserem Binnenmarkt, aber auch aus dem Außenhandel. Handel fördert Entwicklung und ist ein starker Hebel, um Einfluss in der Welt zu gewinnen.

Die Europäische Union ist die größte Handelsmacht der Welt. Aber wir haben ein Problem. Wir sind sehr gut darin, die Europäische Kommission damit zu beauftragen, ehrgeizige Freihandels- oder Investitionsabkommen mit Drittländern zu schließen. Aber wir haben seit geraumer Zeit Schwierigkeiten, diese Abkommen nach ihrer Unterzeichnung zu ratifizieren. Wir können sie bestenfalls nur vorläufig umsetzen. Dabei handelt es sich sowohl um ein formales als auch um ein inhaltliches Problem.

Was die Form betrifft, so erschwert es die Vertraulichkeit dieser Verhandlungen zunehmend, der Öffentlichkeit und den nationalen Parlamenten, die sie billigen müssen, den Wert dieser Abkommen zu vermitteln. Mit anderen Worten, die Eigenverantwortlichkeit funktioniert nicht. Wir sollten uns an den transparenteren und inklusiveren Verfahren der Brexit-Verhandlungen orientieren.

Was den Inhalt betrifft, so müssen die Ziele und Prioritäten dieser Abkommen klargestellt werden. Wir haben auf unserer letzten Tagung des Europäischen Rates eine Debatte darüber begonnen. Sind wir der Ansicht, dass sie Handel und Investitionen in einem auf Gegenseitigkeit und gleichen Wettbewerbsbedingungen basierenden Rahmen erleichtern und gleichzeitig zu einer gerechteren und nachhaltigeren Welt beitragen sollten? Oder sind wir der Ansicht, dass ein Abkommen nur dann gültig und annehmbar ist, wenn es alle Probleme der Welt auf einmal löst?

Ich möchte ein Beispiel nennen. Die Kommission hat ein umfassendes Investitionsabkommen mit China ausgehandelt. Dieses Abkommen würde den Zugang zu wichtigen Wirtschaftssektoren eröffnen, von denen unsere europäischen Unternehmen derzeit ausgeschlossen sind. Es würde für mehr Gegenseitigkeit sorgen und Fragen des Arbeitsrechts und der Arbeitsbedingungen behandeln.

Ist dieses Abkommen perfekt? Nein. Haben wir alles erreicht, was wir wollten? Ganz sicher nicht. Das gilt aber auch für China. Würde dieses Abkommen zu einem demokratischen System in China und zur uneingeschränkten Achtung der Menschen- und Arbeitnehmerrechte führen? Nein. Aber es schafft eine Plattform, um diese Themen mit der chinesischen Seite zu erörtern, auch wenn sie diese Themen nicht mag, weil sie unser System und unsere Werte nicht teilt.

Die Frage ist vielmehr: Wie werden unsere Interessen besser geschützt und wie wird unsere Fähigkeit, die Rechte der Uiguren zu schützen und die Rechtsstaatlichkeit in Hongkong zu fördern, besser gewährleistet – mit einem solchen Abkommen oder ohne? Dies ist keine exakte Wissenschaft. Es gibt keine einfache Antwort.

Daher müssen wir uns – auf der Ebene der Mitgliedstaaten und der EU-Institutionen – auf die Prioritäten einigen, die wir mit diesen Handels- und Investitionsabkommen verfolgen. In jedem Fall pflichte ich meinem Freund Mark Rutte, dem niederländischen Ministerpräsidenten, bei, wenn er sagt: „Europa muss im Spiel sein und nicht das Spielfeld sein.“

Ich werde dafür sorgen, dass sich der Europäische Rat mit dieser wichtigen Debatte befasst.

Globale Kapazität und Sicherheit

Die zweite Säule unserer strategischen Autonomie ist die Sicherheit.

Sie beginnt mit unserem „weichen“ geopolitischen Einfluss, mit dem wir unsere Werte fördern und unsere Interessen verteidigen wollen. Ich glaube, dass wir hier einen großen Vorteil haben – die Welt möchte mit uns zusammenarbeiten. Denn unsere Partner sehen, dass es vorteilhaft ist, mit einer positiven Kraft in Beziehung zu stehen, die frei von den kolonialen Prismen der vergangenen Jahrhunderte ist.

Wir schließen neue Allianzen – mit Afrika, Asien und Lateinamerika – mit Partnern, die Vertrauen in unsere Vision und in unsere Werte haben. Bei diesen Allianzen geht es darum, unsere physische und unsere digitale Infrastruktur zu vernetzen und die Menschen miteinander zu verbinden, indem öffentliche und private Investitionen innerhalb eines Rahmens von Regeln und Normen angeregt werden, die grundlegende Werte in den Mittelpunkt der Projekte stellen. Dies ist es, was wir als „vertrauenswürdige Konnektivität“ bezeichnen. Und diese vertrauenswürdige Konnektivität wollen wir mit gleichgesinnten Partnern entwickeln.

Im Übrigen können globale Fragen nur durch globale Zusammenarbeit angegangen werden. Der beste Weg, Einfluss zu nehmen, besteht darin, diplomatisch präsent zu sein und sich diplomatisch zu engagieren. Um unsere Sicherheit zu gewährleisten, müssen wir unsere Nachbarn, unsere Konkurrenten und sogar unsere Gegner kennen und besser verstehen. Und dafür sorgen, dass wir von ihnen besser verstanden werden. Dies ist es, was ich z. B. in meinen Telefongesprächen mit dem russischen Präsidenten zu tun versuche. Hieraus beziehe ich Wissen, das ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Rat oder mit anderen internationalen Partnern wie dem ukrainischen Präsidenten teilen kann.

Diplomatie bedeutet auch, Chancen zu nutzen.

Im vergangenen Frühjahr habe ich bei meinem Besuch in Georgien – einem im Rahmen unserer Östlichen Partnerschaft strategisch wichtigen Land – die Gelegenheit erkannt, eine politische Vereinbarung zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. In ähnlicher Weise ist es der EU nach meinen Kontakten mit den führenden Politikern Armeniens und Aserbaidschans gelungen, zwischen diesen beiden Ländern, die sich vor einigen Monaten noch im Krieg befunden haben, eine Vereinbarung für die Konfliktfolgezeit herbeizuführen. Die EU hat eine Rolle zu spielen, eine wichtige Rolle.

Lassen Sie mich mit einem überstrapazierten Klischee aufräumen. Es besagt, dass die Europäische Union ohne eigene Verteidigung nicht über die Instrumente verfügt, um ihre Rolle als Weltmacht zu übernehmen. Wir verfügen über zahlreiche Instrumente – oft unvermuteter Weise –, um externe Akteure zu beeinflussen. Wir könnten viel stärker und effizienter sein, wenn wir pragmatischer und kohärenter wären.

Es gibt viele Beispiele für pragmatische europäische Reaktionen auf Krisensituationen. Aber wir müssen kohärenter sein. Die Politik der EU in Bereichen wie Handel, Entwicklung, Wettbewerb, Nachbarschaft und Klimaschutz wird häufig isoliert und unabhängig voneinander betrieben.

Und genau hier wird der Europäische Rat tätig, indem er verschiedene Politikbereiche miteinander verknüpft und für Kohärenz sorgt. Indem er die Kommission auffordert, sich mit der externen Dimension der Migration zu befassen. Wir streben eine für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit mit Drittländern an. Wir haben ihnen viel zu bieten.

Dieses Thema bringt mich zu einer aktuellen Krise.

Wir sehen uns einem brutalen hybriden Angriff auf unsere EU-Grenzen ausgesetzt. Belarus setzt die Not von Migrantinnen und Migranten in zynischer und schockierender Weise als Waffe ein. Auf unserer letzten Tagung des Europäischen Rates haben wir diese Angriffe verurteilt und beschlossen, darauf zu reagieren. Wir haben die Kommission gebeten, alle erforderlichen Maßnahmen vorzuschlagen, die mit dem EU-Recht und unseren internationalen Verpflichtungen im Einklang stehen.

Wir haben die Debatte über die Finanzierung einer physischen Grenzinfrastruktur durch die EU eröffnet. Dies muss rasch geregelt werden, da die polnischen und baltischen Grenzen Außengrenzen der EU sind. Einer für alle und alle für einen.

Verteidigung

Sicherheit bedeutet auch Verteidigung.

Die europäische Verteidigung ist in unserer Atlantischen Allianz verankert. Die NATO ist das Rückgrat unserer kollektiven Sicherheit. Über das Militärische hinaus verbindet uns diese Allianz mit unseren strategischen Partnern auf der anderen Seite des Atlantiks. Wir teilen eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame Werte und Verpflichtungen.

Dieses Bündnis von Demokratien ist in Zeiten zunehmenden Drucks umso wichtiger, als wir neuen Arten von Angriffen durch autoritäre Regime ausgesetzt sind. Deshalb müssen wir unsere Verteidigungsfähigkeiten ausbauen. Stärkere Verbündete bedeuten auch stärkere Bündnisse. Und wir begrüßen es, dass die Vereinigten Staaten den Wert einer stärkeren europäischen Verteidigung als Ergänzung zur NATO anerkennen.

Allerdings dürfen wir die langfristigen Entwicklungen, auch unter unseren Verbündeten, nicht ignorieren. Die jüngsten geopolitischen Ereignisse in Afghanistan und im indopazifischen Raum haben gezeigt, dass wir uns stärker auf uns selbst verlassen und mehr Verantwortung für uns selbst übernehmen müssen. Eine übermäßige Abhängigkeit – selbst von unseren besten Freunden – ist nicht nachhaltig. Sie ist nicht gesund.

Konkret hat sich der Europäische Rat auf einen Arbeitsplan für die nahe Zukunft geeinigt. Im Dezember werden wir den „Strategischen Kompass“ erörtern, der von Josep Borrell vorbereitet wird. In diesem Kompass werden unsere strategischen Achsen skizziert werden. Wir werden ihn auf einem Verteidigungsgipfel im März nächsten Jahres billigen.

Wir werden oft gefragt: Wird Europa eines Tages eine eigene europäische Armee haben? Die Aussicht besteht. Aber auf jeden Fall wissen wir alle, dass bis dahin noch viel Zeit verstreichen wird.

Mehr noch als eine europäische Armee brauchen wir heute europäische Fähigkeiten. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass wir konkret und operativ handeln müssen, um unsere Fähigkeiten angesichts neuer Risiken und in neuen Bereichen wie Cyberraum und Weltraum auszubauen.

Die digitale Entwicklung macht unsere Volkswirtschaften und unsere Gesellschaften effizienter, aber auch stärker von Technologie, Datenbanken und Konnektivität abhängig. Eines ist klar: Der Tag wird kommen, an dem wir mit einer größeren Cyberkrise oder Cyberattacke konfrontiert sein werden. Die Frage ist nur, wann?

Die jüngsten Angriffe haben gezeigt, dass die Bedrohungen global sind. Und die Angreifer ebenfalls. Es liegt daher im Interesse Europas, unsere Anstrengungen zu bündeln und auf Verteidigung und Abschreckung ausgerichtete Cyberfähigkeiten zu entwickeln. Dies sollte mit der Einrichtung eines EU-Systems für das Cyber-Krisenmanagement und die Reaktion auf groß angelegte Angriffe beginnen. Unsere bevorstehende Diskussion über unseren „Strategischen Kompass“ wird Gelegenheit bieten, dieses Projekt zu prüfen.

Unsere Cybersicherheit ist auch untrennbar mit der Sicherheit unserer Ressourcen im Weltraum verbunden. Wir sind mit den Instrumenten für Geolokalisierung, Beobachtung und Überwachung an Land und auf See vertraut. Im Weltraum sind jedoch zunehmend Infrastruktur und Dienste angesiedelt, die Konnektivitätsfunktionen bieten, welche für die digitale Entwicklung von wesentlicher Bedeutung sind.

Die Überfüllung dieses Raums – ganz zu schweigen von den Aktivitäten böswilliger Akteure – bedeutet, dass wir auch unsere Interessen dort schützen müssen. Daher müssen wir die Synergien zwischen Zivil-, Weltraum- und Verteidigungsindustrie stärken. Vergangenen April haben wir das neue Weltraumprogramm der Europäischen Union mit einem Rekordbudget von 13 Milliarden Euro verabschiedet. Wir werden etwas bewirken, wenn wir unsere Anstrengungen von Anfang an bündeln.

Konrad Adenauer – wer sonst – hat den berühmten Satz geprägt: „Die Gestaltung neuer Dinge braucht stets viel Geduld.“ Dem möchte ich hinzufügen: Für manche Siege braucht es Zeit, andere hingegen sind schnell errungen.

Das europäische Projekt braucht Zeit. Siebzig Jahre sind noch immer ein junges Alter für eine so einzigartige Organisation wie die unsrige. Wir haben bereits Vieles erreicht. Unsere Erfahrung zeigt, dass wir manchmal Zeit gewinnen können, wenn wir uns Zeit nehmen. Und es gibt Momente, in denen es gut ist, pragmatisch zu sein und Gas zu geben.

Ich habe keinen Zweifel daran, dass die EU auf dem richtigen Weg ist, die große Friedensmacht des 21. Jahrhunderts – dem Jahrhundert Europas – zu werden. Zum Nutzen unserer Bürgerinnen und Bürger und für eine bessere, gerechtere und nachhaltigere Welt.

Wir müssen klug sein und wissen, wann wir geduldig sein müssen und wann wir den Moment nutzen und entschlossen handeln müssen. Wir werden an unseren Werten und unseren Idealen festhalten. Und wir werden an Macht gewinnen, indem wir pragmatisch, realistisch und ehrgeizig sind.

Ich danke Ihnen.

Letzte Überprüfung: 29 Januar 2024