Bericht von Präsident Charles Michel auf der Plenartagung des Europäischen Parlaments - Consilium Skip to content

Bericht von Präsident Charles Michel auf der Plenartagung des Europäischen Parlaments

Der Höhepunkt der letzten Tagung des Europäischen Rates war die Teilnahme von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er nahm an einer kurzen Plenarsitzung teil, in der wir die Gelegenheit nutzten, um zu bekräftigen, dass wir die Ukraine so lange wie nötig unterstützen werden, denn eine Niederlage der Ukraine ist keine Option. Anschließend traf sich Präsident Selenskyj in kleinem Rahmen mit Führungsspitzen zu Gesprächen über die Intensivierung der direkten operativen Unterstützung, insbesondere im Hinblick auf mehr Waffen. Um Frieden zu erreichen, müssen wir unsere Verteidigung und unsere Fähigkeiten ausbauen. Drei Tage nach dem russischen Angriff fassten wir den Beschluss, Waffen und Munition an die Ukraine zu liefern, was einen Paradigmenwechsel bedeutete. Ich glaube, es war die Geburtsstunde unserer europäischen Verteidigung. Doch um unsere europäische Verteidigung zu stärken, müssen wir unsere industriellen Kapazitäten ausbauen, und das ist dringend notwendig, um die Ukraine zu unterstützen. Die russischen Streitkräfte haben in den vergangenen Monaten täglich zwischen 20 000 und 50 000 Artilleriegeschosse abgefeuert. Die Ukraine braucht Munition, um sich zu verteidigen, und deshalb haben wir an dem Vorschlag der estnischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas gearbeitet, Großaufträge zu organisieren, um das Tempo unserer Lieferungen an unsere ukrainischen Freunde zu beschleunigen, und der Hohe Vertreter Borrell hat einen konkreten Plan zur Umsetzung dieser Hilfe für die Ukraine ausgearbeitet.

Wir wünschen uns eine Eskalation, aber eine Eskalation in Richtung Frieden. Russland jedoch hat nicht aufgehört, die Eskalation des Krieges voranzutreiben. Es bräuchte nur eine einzige Entscheidung des Aggressors, sich auf Frieden einzulassen, die Waffen zum Schweigen zu bringen und seine Truppen hinter die international anerkannten Grenzen der Ukraine zurückzuziehen. Leider gibt es keine dahin gehenden Signale aus dem Kreml. Und dennoch führen wir den Kampf um Frieden – den diplomatischen Kampf – weiter. Wir unterstützen die von Präsident Selenskyj vorgeschlagene gerechte Friedensformel. Sie beruht auf der VN-Charta, sie beruht auf der Achtung des Völkerrechts, und wir arbeiten intensiv daran, die internationale Gemeinschaft für die Friedensbemühungen zu gewinnen, so wie wir es im Vorfeld der Abstimmung in der VN-Generalversammlung getan haben, in der der Abzug der russischen Streitkräfte aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine gefordert wurde. Wir haben dies beispielsweise auch mit vielen Gesprächspartnern auf dem jüngsten Gipfeltreffen der Afrikanischen Union in Addis Abeba erörtert, und der Hohe Vertreter ist zur Abstimmung zu den Vereinten Nationen in New York gereist. Die Resolution wurde von einer überwältigenden Mehrheit von 141 Ländern unterstützt. Das Votum ist ermutigend, aber es bleibt eine äußerst große Herausforderung, andere zu überzeugen.

Die wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine haben uns gezwungen, uns die richtigen Fragen zur Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu stellen, sowohl kurz- als auch langfristig. Nur ein Beispiel, um die Herausforderung zu verdeutlichen: das Energiehandelsdefizit der EU. Im Jahr 2022 betrug es etwa 4 % unseres BIP, verglichen mit 1,7 % im Jahr 2021, während sich der Überschuss der Vereinigten Staaten im gleichen Zeitraum verdreifacht hat. Die Energieausfuhren der Vereinigten Staaten stiegen 2022 um 60 %. Im Dezember letzten Jahres bat der Europäische Rat die Kommission, Wege aufzuzeigen, wie unsere Industrie dabei unterstützt werden kann, unseren grünen und digitalen Wandel voranzubringen, insbesondere im Kontext gezielterer staatlicher Eingriffe, auch durch die Vereinigten Staaten. Und wir haben über unsere kurzfristigen Handlungsstränge entschieden: erstens eine gezielte und zeitlich begrenzte Lockerung der Beihilferegelung in Verbindung mit einer größeren Flexibilität bei der Nutzung aller vorhandenen Finanzmittel; zweitens Erleichterungen für unsere Unternehmen durch Straffung von Verfahren und Genehmigungen; und drittens die Intensivierung von Ausbildung und Umschulung, um unseren Zukunftsbranchen die dringend benötigten Fachkräfte zur Verfügung zu stellen. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen auch langfristig handeln, denn wir können nicht zulassen, dass die kurzfristigen Maßnahmen unsere langfristige Strategie untergraben. Und das ist genau die Debatte, die wir kommende Woche auf der nächsten Tagung des Europäischen Rates über die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft führen werden. Und für morgen erwarten wir die von der Kommission erbetenen Vorschläge.

Langfristig müssen wir meines Erachtens an drei Bereichen arbeiten: Investitionen, Innovation und Handel. Zunächst zu den Investitionen: Europäische Unternehmen, insbesondere KMU, haben Schwierigkeiten, das nötige Kapital für Investitionen in Innovation zu finden. Der Abstand zwischen der EU und den Vereinigten Staaten bei den Realinvestitionen beläuft sich auf 2 % des BIP. Ein weiteres Beispiel: Die Börsenkapitalisierung der EU im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt ist weniger als halb so hoch wie in den USA. Dabei sparen die Menschen in Europa viel mehr als die Menschen in Amerika. Wir müssen diese Lücke schließen, und wir kennen die Lösung. Es gibt sie, und sie heißt Kapitalmarktunion – ein Projekt, dessen Grundsteine vor fast zehn Jahren gelegt wurden. Und jetzt ist es entscheidend, dass wir die Arbeit an der Umsetzung dieses wichtigen Projekts beschleunigen, um unsere Wirtschaft zu finanzieren, Arbeitsplätze zu schaffen und das Wohlergehen aller Menschen in Europa für die kommenden Jahrzehnte zu sichern.

Auch aus diesem Grund habe ich gemeinsam mit der Präsidentin der Kommission, der Präsidentin der Europäischen Zentralbank, dem Präsidenten der Europäischen Investitionsbank und dem Präsidenten der Euro-Gruppe öffentlich dazu aufgerufen, die Arbeit an der Kapitalmarktunion zu beschleunigen.

Meine Damen und Herren, der zweite Punkt, an dem wir arbeiten müssen, ist Innovation. Wir alle erinnern uns, dass mit der Lissabon-Strategie vor einigen Jahren ein ehrgeiziges Ziel formuliert wurde: 3 % des BIP sollten für Investitionen in Innovation aufgewendet werden. Aber die Ergebnisse sind offenkundig hinter dem damals gesteckten Ziel zurückgeblieben. Wir müssen mehr tun und besser werden, was diese Woche sicherlich Gegenstand der Beratungen im Rat sein wird. Nimmt man etwa das Beispiel digitaler Plattformen, so stammen 90 % der Kapitalisierung der 70 größten Unternehmen der Welt aus den Vereinigten Staaten und China. Das zeigt, wie wenig Kapazitäten die Europäische Union in Branchen vorweisen kann, die doch für unsere gemeinsame Zukunft unverzichtbar sind.

Der dritte Punkt schließlich, den ich in diesem Rahmen ansprechen möchte, ist die Frage des Handels. Zu dieser Frage möchte ich einige Gedanken mit Ihnen teilen. Der Handel ist seit vielen Jahren ein gewaltiger Trumpf der Europäischen Union. Er war ein starker Motor für Wohlstand – für die Fähigkeit, Wachstum zu schaffen und die Lebensbedingungen unserer Mitbürgerinnen und -bürger zu verbessern. Heute tritt zum Vorschein, dass wir bei der Aushandlung von Handelsabkommen zwar in der „Champions League“ spielen, es aber immer schwieriger wird, ihre Umsetzung sicherzustellen. Von den 14 Handelsabkommen, die seit 2006 geschlossen wurden, ist die überwiegende Mehrheit entweder vorläufig – und nicht endgültig – in Kraft getreten oder ihr Inkrafttreten wurde aufgeschoben. In den kommenden Monaten muss eine Reihe von Entscheidungen getroffen werden – zum Beispiel, was den Mercosur, Chile und Mexiko angeht. Wir dürfen uns vor der Wahrheit nicht verstecken. Um es auf den Punkt zu bringen: Meines Erachtens haben wir zwei Probleme mit unserer künftigen Handelspolitik.

Das erste betrifft unsere Methode, Entscheidungen zu treffen – nicht nur unsere Verhandlungsmethode, sondern auch unsere Fähigkeit, dafür zu sorgen, dass unsere Gesellschaften und alle unmittelbar Betroffenen sich in den Prozess einbezogen fühlen. Mit anderen Worten: Wir müssen auf mehr Transparenz und mehr Vertrauen hinarbeiten. Ein gutes Beispiel dafür ist der Brexit, der uns die Gelegenheit bot, alle verfügbaren Informationen nutzbar zu machen – ohne versteckte Agenda und in voller Transparenz für das Europäische Parlament, die nationalen Parlamente, die Zivilgesellschaft und die Wirtschaftsakteure. Es ist uns gelungen, zügig voranzukommen und – wie ich glaube – gute Arbeit zu leisten. Dieses Beispiel wird uns zweifellos bei der Wahl künftiger Methoden inspirieren.

Das zweite Problem ist inhaltlicher Art. Mir ist sehr wohl bewusst, dass es ein großherziges und aufrichtiges Bestreben gibt, viele Probleme der Welt im Wege von Handelsabkommen zu lösen. Aber vielleicht darf dabei nicht vergessen werden, dass es Entscheidungen zu treffen gilt. Aus meiner Sicht muss ein Handelsabkommen in erster Linie dazu dienen, die Handelsbeziehungen zu verbessern und zu stärken – das ist das Ziel eines Handelsabkommens, und manchmal neigen wir dazu, das zu vergessen. Ein Handelsabkommen muss auch dazu führen, dass die von uns angestrebten hohen Standards, zum Beispiel bei den Arbeits- oder Umweltbedingungen, weltweit stärker gefördert werden. Manchmal übernehmen wir uns dabei; vielleicht tut eine demokratische Debatte über dieses Thema not. Es liegt auf der Hand, dass dem Europäischen Parlament in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle zukommt.

Schließlich sollten wir den Blick auf unsere wirtschaftliche Zukunft richten. Zur Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union gehört auch, dass wir unsere Beziehungen zu anderen wichtigen Akteuren in der Welt überprüfen – den Vereinigten Staaten natürlich, aber auch China. In diesem Zusammenhang versteht es sich von selbst, dass der Rat im Einklang mit den Verträgen beabsichtigt, seiner Verantwortung für die Außenpolitik der Europäischen Union in vollem Umfang gerecht zu werden. Das war der Grundgedanke hinter den strategischen Beratungen, die der Europäische Rat in den vergangenen Monaten mehrmals geführt hat. Auch zu diesem Thema möchte ich meine Gedanken mit Ihnen teilen. Einerseits ist klar, dass uns von den Vereinigten Staaten und China keineswegs gleich viel trennt. Wir sind ein standhafter, loyaler und verlässlicher Verbündeter der Vereinigten Staaten, und wir bauen unsere historischen Beziehungen zu diesem Land aus – Beziehungen, die sich auf Werte und wirtschaftliche Zusammenarbeit stützen, und die sich offenkundig ganz unmittelbar auf unsere Sicherheit auswirken. Zugleich ist China Realität, ein Faktum, ein wichtiger Akteur auf der Weltbühne, und deshalb möchte ich drei wesentliche Aspekte für unsere Beziehungen zu China skizzieren.

Erstens gilt es, standhaft zu sein und einander die Stirn zu bieten, wenn es um die Grundwerte, die Verteidigung der Menschenrechte und die demokratischen Grundsätze geht, die uns teuer sind und uns am Herzen liegen. Zweitens müssen wir unsere Handlungsfähigkeit sicherstellen, um potenziell kostspielige Abhängigkeiten zu verringern, wie wir sie in Energiefragen mit Russland erlebt haben. Das bedeutet, dass die Wirtschaftsbeziehungen zu China, insbesondere in strategischen Fragen, neu austariert werden müssen, um den künftigen Wohlstand der EU zu sichern. Und drittens versteht es sich von selbst – ich denke, niemand von uns bezweifelt das –, dass es keine andere Option gibt, als mit China in globalen Fragen zusammenzuarbeiten, zum Beispiel beim Klimawandel und bei der globalen Gesundheit. In diesem Sinne werden wir im Rat weiterhin unserer Verantwortung für die Außenpolitik der EU gerecht werden, indem wir einen Dialog mit den verschiedenen Ländern führen, mit denen wir eine Reihe von Themen zu besprechen haben.

Zuletzt möchte ich erwähnen – und keineswegs als Nebensache –, dass es die Gelegenheit gab, im Europäischen Rat ausführlich über Migration zu sprechen. Wir wissen, dass Migration ein Thema ist, das politische und ideologische Spannungen hervorruft und das manchmal auch zur Polarisierung unserer Gesellschaften missbraucht wird. Wir sind der Ansicht, dass das Thema ruhig und vernunftgeleitet angegangen werden muss.

Einerseits vertrauen wir auf die Arbeit, die das Europäische Parlament gemeinsam mit dem alternierenden Ratsvorsitz leistet, um das Migrationspaket in Kraft zu setzen. Das ist die interne Dimension der Migration, und wir werden dafür sorgen, dass sich der Rat in den kommenden Monaten ebenfalls erfolgreich für Fortschritte in diesem Bereich einsetzt.

Andererseits steht außer Frage, dass wir bis zum Inkrafttreten des Migrationspakets mehr und besser mit Drittländern, Herkunftsländern und Transitländern zusammenarbeiten müssen. Es braucht mehr Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Schleusern und Kriminellen, die von Entbehrung und Armut profitieren – mehr Anstrengungen, um legale Migrationswege zu eröffnen und nicht Schleusern und Kriminellen die Entscheidung zu überlassen, wer in die EU darf, sondern in gutem Glauben und unter Wahrung der Rechtsstaatlichkeit unsere Entscheidungen zu treffen und festzulegen, wie wir das Thema Migration rechtmäßig, human und mit der nötigen Entschlossenheit angehen. Im Anschluss an die eingehende Erörterung dieses Themas auf der vergangenen Tagung des Europäischen Rates werden wir nächste Woche auch die Gelegenheit haben, Bilanz zu ziehen.

Zudem werden wir Gelegenheit haben, die Lage im Euro-Raum zu erörtern, da ein Euro-Gipfel mit Paschal Donohoe und Christine Lagarde vorgesehen ist. Der Gipfel wird Anlass sein, die Zukunft des Euro-Raums unter den gegebenen Umständen zu erörtern.

Meine Damen und Herren, es geht uns allen so, dass wir seit einigen Jahren mit Ereignissen konfrontiert sind, die uns aufwühlen und zuweilen auch erschüttern. Unsere Bezugsgrößen sind unschärfer geworden, unser Standpunkt weniger bestimmt. Doch die Grundlagen des europäischen Projekts – die Werte der Menschenwürde, das Versprechen des Wohlstands, die Garantie der Sicherheit – müssen heute mehr denn je unser Kompass sein, um voranzukommen und der strategischen Autonomie und der notwendigen Souveränität der EU Impulse zu geben. Mehr Resilienz, mehr globaler Einfluss, weniger Abhängigkeit. Das ist der Kompass, der uns – so hoffe ich – leiten wird, wenn wir dieses Projekt, das uns so viel bedeutet, gemeinsam vorantreiben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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Letzte Überprüfung: 29 Januar 2024