Carlo Schmid: Mehr als der „Tafelaufsatz im Proletarierhaushalt“ | Vorwärts
Geschichte

Carlo Schmid: Mehr als der „Tafelaufsatz im Proletarierhaushalt“

Er war einer der „Väter des Grundgesetzes“ und doch blieb die ganz große Ehre Carlo Schmid zeitlebens verwehrt. Die SPD prägte der Intellektuelle über Jahrzehnte mit. Geboren wurde Carl Schmid am 3. Dezember 1896.
von Kristina Meyer · 3. Dezember 2021
Vertraute: Willy Brandt und Carlo Schmid 1960 in Berlin.
Vertraute: Willy Brandt und Carlo Schmid 1960 in Berlin.

„Wer war Carlo Schmid?“, fragen sich jüngere SPD-Mitglieder, wenn der Sozialdemokrat anlässlich seines Geburtstags am 3. Dezember in den Medien und von seiner Partei pflichtgemäß gewürdigt wird. „Vater des Grundgesetzes“ wäre vermutlich das erste, was jenen einfällt, die den geistig wie physisch imposanten Politiker, Juristen und Politikwissenschaftler noch in Erinnerung haben. Viele Jahrzehnte galt der rhetorisch hochbegabte Professor als das bildungsbürgerliche Aushängeschild seiner Partei. Theodor Heuss nannte ihn einmal den „Tafelaufsatz im Proletarierhaushalt der SPD“. Dass Schmid trotz seiner zahlreichen Verdienste keinen zentralen Platz im „kollektiven Gedächtnis“ der SPD ergattern konnte, mag daran liegen, dass er es letztlich zu keinem hohen politischen Amt brachte – und so manchen Genoss*innen wohl doch auf zu großer intellektueller Flughöhe unterwegs war.

Wanderer zwischen Sozialismus und Konservatismus

Geboren wurde Carlo Schmid 1896 in Perpignan als Sohn einer Französin und eines Deutschen, verbrachte seine Kindheit und Jugend aber in der schwäbischen Heimat des Vaters. Das liebevoll umsorgte Einzelkind genoss eine umfassende humanistische und liberal geprägte Erziehung und wuchs zweisprachig auf. Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg begann, entschied sich der 17-Jährige für die deutsche Seite und meldete sich freiwillig zum Militärdienst. Nach dem Krieg studierte er Rechts- und Staatswissenschaften und arbeitete zunächst als Anwalt in Reutlingen, bevor er Richter am Amtsgericht Tübingen und zugleich Privatdozent an der dortigen Universität wurde.

In der Weimarer Republik bewegte sich Carlo Schmid an den Rändern der „Konservativen Revolution“: Seine Kontakte zum George-Kreis und peripher auch zum Tat-Kreis, seine Begeisterung für die Idee eines „Dritten Humanismus“, seine Kritik der Massengesellschaft und des zersplitterten Parteiensystems, seine Hoffnung auf eine Symbiose von Sozialem und Nationalem – all dies machte den damals noch parteilosen Juristen zu einem für jene Zeit so typischen Wanderer zwischen Sozialismus und Konservatismus, Europabegeisterung und Nationalismus, Volksgemeinschaftssehnsucht und Bildungsaristokratismus. Das Fundament unter dieser Mélange, ein unverrückbares Bekenntnis zu den Idealen der Aufklärung, war bei Schmid aber so solide, dass er sich nicht, wie so viele andere seiner Generation und seines Milieus, von der NS-Ideologie überzeugen ließ.

Gewissensnöte im Zweiten Weltkrieg

Den Nationalsozialismus nannte er eine „Philosophie von Viehzüchtern“ und übte in seinen Radiovorlesungen subtile Kritik am neuen Regime. Anders als seine Tübinger Richterkollegen verweigerte Schmid den Hitlergruß ebenso wie den Parteibeitritt; notleidenden jüdischen Studierenden bot er ein Obdach in seinem Haus. Der Weg zur Professur blieb ihm aufgrund seiner regimekritischen Haltung versperrt. Dass er von Verfolgungsmaßnahmen der Gestapo verschont blieb, lag wohl weniger daran, dass er zum Selbstschutz dem „NS-Reichswahrerbund“ beitrat, sondern vielmehr an der Protektion durch einige ihm lang bekannte Tübinger NSDAP-Funktionäre. Schmid war kein Widerstandskämpfer, sondern jemand, der mit einer Mischung aus behutsamer Nonkonformität und dem Rückzug in die „innere Emigration“ des Arbeitszimmers in einer für ihn erträglichen „Nische“ zu überwintern versuchte.

Ab 1940 hatte er als Kriegsgerichtsrat im nordfranzösischen Lille dafür zu sorgen, dass die französische Justiz im Einvernehmen mit der deutschen Besatzungsmacht agierte. Schmid vollzog in seiner Funktion eine schwierige Gratwanderung – zwischen dem Anspruch, die Lebensbedingungen der Besetzten zu verbessern, und dem Bemühen, sich gegenüber seinen Vorgesetzten als Sachwalter deutscher Interessen zu präsentieren. Er konnte die Erschießung eines 18-jährigen Mitglieds der Résistance verhindern, warnte Menschen vor ihrer bevorstehenden Verhaftung und vereitelte die Überstellung von Strafgefangenen zur Zwangsarbeit, musste aber auch Listen zu erschießender Geiseln erstellen.

Briefe an seine Familie zeugen von seinen Gewissensnöten, die er in den Abendstunden durch die Übersetzung von Charles Baudelaires „Les fleurs du mal“ ins Deutsche zu verdrängen versuchte. Nach mehrfachen Treffen mit Helmuth James Graf von Moltke zählte er zu den Mitwissern des geplanten Umsturzversuchs, geriet nach dem 20. Juli 1944 aber nicht ins Visier der NS-Verfolgungsbehörden.

Politik als Kompensationsleistung

Nach dem Krieg genoss Schmid hohes Vertrauen bei den französischen Besatzern in Tübingen, die ihn gleich mit mehreren Ämtern in der Lokal- und Regionalverwaltung betrauten. Der „Mann der Franzosen“, wie manche Zeitgenossen ihn verächtlich nannten, kümmerte sich um die Neuorganisation der tiefbraun verseuchten Universität, nahm seine Lehrtätigkeit wieder auf – und trat in die SPD ein. Prompt wurde er zum Vorsitzenden in Württemberg-Hohenzollern gewählt, wo er seiner Partei schon lange vor „Godesberg“ ein ausgesprochen bürgerliches Gepräge gab.

Seinen Entschluss zum Gang in die Politik beschrieb Schmid im Rückblick als selbst auferlegte Kompensationsleistung für die Mitschuld des Bürgertums am Aufstieg des Nationalsozialismus. Als Mitglied des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee und Vorsitzender des Hauptausschusses im Parlamentarischen Rat zählte er zu den prägendsten Vätern und Müttern des Grundgesetzes: Auf Schmid gehen neben dem konstruktiven Misstrauensvotum mehrere andere Meilensteine der provisorischen Verfassung zurück, darunter das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen oder auch die Abschaffung der Todesstrafe.

Glaube an die Demokratisierungsfähigkeit der jungen Generation

Im Umgang mit der NS-Vergangenheit profilierte sich Schmid zwar als Mahner und Aufklärer – etwa in der Frage der Wiedergutmachung oder in der Bekämpfung des Antisemitismus –, legte aber zugleich große Nachsicht und auch Naivität an den Tag, wenn es um die Wandlungsfähigkeit überzeugter Nationalsozialisten ging. Seinem einstigen Referendar und späteren SS-Standartenführer Martin Sandberger, der von den Amerikanern wegen der Ermordung Tausender estnischer Jüdinnen und Juden zum Tode verurteilt worden war, bescheinigte Schmid, lediglich auf einen ideologischen „Irrweg“ geraten zu sein: Ein „blindwütiger Fanatiker“ sei der talentierte Jurist nie gewesen. Als Sprecher einer parteiübergreifenden Delegation von Bundestagsabgeordneten intervenierte Schmid beim Hohen Kommissar McCloy und erreichte, dass mehrere Todesurteile der in Landsberg einsitzenden NS-Verbrecher in lebenslange Haftstrafen umgewandelt wurden – auch Sandberger profitierte davon.

Wie groß Schmids Glaube an die Demokratisierungsfähigkeit der jungen Generation war, belegt auch das „Jugendsozialwerk“ – ein 1949 von ihm und einem ehemaligen Mitarbeiter der NS-Reichsjugendführung initiiertes Resozialisierungsprojekt für einstige HJ-Funktionäre. Dass die Führungspositionen des daraus entstandenen Bildungs- und Fürsorgewerks „Internationaler Bund“ bis weit in die 1960er Jahre mit vormaligen Amtsträgern der NS-Jugendorganisationen besetzt blieben, sah Schmid sehr gelassen und verteidigte das Projekt auch gegen Kritik aus der eigenen Partei.

In der SPD ein Exot

Aber warum hatte sich der zutiefst bürgerlich geprägte Schmid nach dem Krieg ausgerechnet für die Sozialdemokratie entschieden?  Nicht nur galt ihm die SPD als einzige Partei, die im Angesicht des Nationalsozialismus ihre Selbstachtung bewahrt hatte; den Schlüssel zur Etablierung einer stabilen Demokratie sah er außerdem in der Lösung der sozialen Frage, in verbesserten Aufstiegschancen und mehr Mitbestimmung für die Arbeiter*innen – und keine andere politische Kraft schien ihm dafür geeigneter als die SPD. Außerdem habe Schmid, so Hans-Ulrich Klose, in der Sozialdemokratie jenen „Bürgersinn“ entdeckt, den er in seinem eigenen Milieu vor 1945 allzu oft vermisst hatte. Und doch blieb Schmid in seiner Partei ein Exot. Sein Lebensstil, seine Körperfülle und auch seine Nähe zu Adelskreisen passten in der ersten Nachkriegszeit schon rein habituell nicht zur Arbeiterpartei SPD, die ihren neuen Anführer in dem ausgezehrten Ex-Häftling Kurt Schumacher gefunden hatte. Als einer der maßgeblichen Architekten von „Godesberg“ baute das Vorstandsmitglied Schmid dann aber die Brücke zu einer neuen, bürgerlichen Klientel der SPD auf dem Weg zur Volkspartei.

Nachdem Schmid 1959 die Wahl zum Bundespräsidenten gegen Heinrich Lübke verloren hatte und bald darauf die Frage der SPD-Kanzlerkandidatur anstand, ließ der Mittsechziger dem deutlich jüngeren Willy Brandt den Vortritt, wäre im Fall eines Wahlsiegs aber Außenminister geworden. Als langjähriger Bundestagsvizepräsident und stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses erwarb sich Schmid hohes Ansehen weit über seine Partei hinaus. Sein letztes politisches Amt brachte den überzeugten Europäer zu seinen binationalen Wurzeln zurück: Als Koordinator der sozial-liberalen Bundesregierung für die Beziehungen zu Frankreich konnte er sich von 1969 bis zu seinem Tod 1979 einem seiner wichtigsten Anliegen widmen. Ein intellektuelles Schwergewicht wie Carlo Schmid hat es in der SPD seither kaum noch gegeben.

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Kristina Meyer

ist Sprecherin des SPD-Geschichtsforums und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung.

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