The Captive | Kritik | Film | critic.de

The Captive – Kritik

Auf den ersten Blick dreht Atom Egoyan langsam durch. Auf den zweiten erweist sich der Pädophilie-Thriller als überraschend stimmiger Modus für einen obsessiven Regisseur.

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Cassandra (Alexia Fast) beobachtet ihre eigene Abwesenheit. Auf einem Monitor in dem großzügig ausgestatteten Keller, in dem sie seit acht Jahren festgehalten wird, sieht sie ihrer Mutter Tina (Mireille Enos) beim Verzweifeln zu. „I miss living“, sagt Tina einmal. Die brutale, niemals richtig aufgeklärte Entführung der zehnjährigen Tochter hat die Ehe zwischen ihr und ihrem Mann Matthew (Ryan Reynolds) zerstört, der sich die Schuld gibt für das Unglück, weil er seine Tochter ein paar Minuten allein im Auto gelassen hat. Nicht verheilte Wunden kennen wir aus dem Kino Atom Egoyans zur Genüge. Nur beobachtet er dieses Mal nicht die unmöglichen Heilungsversuche, sondern reißt die Wunde selbst wieder auf. Dass Cassandra noch lebt, das erfahren bald auch ihre Eltern. Die Leiterin der Abteilung für Kindesmissbrauch Nicole Dunlop (Rosario Dawson) gesteht der erschütterten Mutter bei einem ihrer regelmäßigen Treffen, dass Cassandras Gesicht auf einer Kinderpornoseite aufgetaucht ist. Von einem regionalen Pädophilenring ist die Rede, der in der Gegend sein Unwesen treibt. Das klingt nach Phrase, trifft die Sache aber ganz gut, denn dieser Ring – allen voran Cassandras Entführer Mika (Kevin Durand) – darf in einem recht klassischen Sinne das Böse repräsentieren. Mika ist kein armer Wicht, der seinem Begehren unterlegen ist, sondern ein gewiefter Schurke, der die trauernden Zurückgebliebenen nicht nur per Überwachungskamera beobachtet, sondern die mittlerweile heranwachsende Cassandra auch noch ein Voice-over über die Bilder der trauernden Mutter sprechen lässt. „Story Time“ nennt er das.

Das kalkulierte Scheitern eines Thrillers

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Man spürt es schon, dieser Film ist merkwürdig, wobei die Verschrobenheit mal in Richtung Ärgernis, mal in Richtung Herausforderung tendiert. Er ist merkwürdig sowohl als der Thriller, der er zu sein vorgibt, weil ihm sein Scheitern am Genre völlig egal ist, wie als neuester Film eines Regisseurs, der stets den Anspruch hatte, dem psychologisch Unfassbaren auf den Grund zu gehen, der Unmöglichkeit des Vergessens, der nutzlosen Suche nach Sinn in einer durch das Trauma sinnentleerten Welt. Doch wo etwa in Egoyans motivisch ähnlich angelegtem Film Das süße Jenseits (The Sweet Hereafter, 1997) das Ereignis selbst – der Unfall eines Schulbusses – noch unwiederbringlich abgeschlossen war, man nur mit der Leere danach, mit Geistern zu kämpfen hatte, kehrt das Trauma in The Captive in seiner Materialität wieder. Die Tochter ist am Leben, die Leere kann wieder gefüllt werden, durch das, was sie erst verursachte. Nicht mehr die Vergangenheit bestimmt eine diffuse Gegenwart, sondern das Jetzt selbst kommt ins Spiel, eine eigentliche Realität. Insofern haben die Avancen ans Genre durchaus ihren Sinn.

The Captive 02

Wo sich im früheren Film die möglichen Erklärungen – menschliches Versagen, glitschige Straße, ein nachlässiges Busunternehmen – noch widersprachen und aufhoben, wo die Lücke zwischen Ereignis und Bedeutung bis zum Ende hin schmerzhaft offen blieb, scheint hier alles ziemlich klar: ein Pädophilenring, wie gesagt. Das Trauma ist repräsentierbar, und es nimmt die Gestalt der derzeit äußersten Grenze moralischer Diskurse an: Kindesmissbrauch. Das ist nicht unproblematisch, weil die hysterische Verknüpfung von kindlicher Unschuld und Sicherheitsbegehren damit affirmiert wird: die entrüsteten Jäger der Perversen auf der einen, der schwächliche Täter mit Schnurrbart und Opernfaible auf der anderen Seite. Doch auf den Klischees dieses Films zu insistieren wird einem Regisseur nicht gerecht, der sich stets weniger für das Repräsentierte als für die Mittel der Repräsentation selbst interessiert hat. Als Thriller funktioniert The Captive ohnehin nicht, er beschwört die Genreelemente zwar, verweigert sich aber vollständig ihrer effektiven Nutzung. Der Plot ist auf amüsant schmerzhafte Weise unplausibel, ernährt sich nicht von weltlichen Kausalitäten, sondern von dramaturgischen Konventionen, und auch das nur halbherzig. Der Showdown bleibt ohne Suspense, das Drama unterkühlt, entscheidende Wendepunkte völlig ohne Erklärung. Die Dialoge sind nicht Ausdruck authentischer Emotionen, vielmehr klingt jede Aussage, als würde sie einem Film entspringen. Das ist Egoyans vielleicht größte Stärke. Ohne inszenatorische Reflexions-Spielereien macht er darauf aufmerksam, dass sein Film ein streng durchchoreografiertes Konstrukt ist.

Die Verstrickung des Betrachters

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Gerade die fragmentarische Struktur, die nicht nur einer Chronologie der Ereignisse, sondern auch jeder konventionellen Krimi-Dramaturgie entsagt, die zwischen Zeiten, Perspektiven, Figuren hin und her springt, zerstört die generische Aufteilung der filmischen Welt zugunsten einer gleichmäßigen Verteilung der Symptome auf die Figuren. So verdächtigt der rechtschaffene Cop Jeffrey (Scott Speedman) aufgrund einer eigenen persönlichen Erfahrung zunächst den unschuldigen Matthews, die Entführung seiner Tochter selbst eingeleitet zu haben. Und auch die als Teenager selbst einmal obdachlose Nicole, am ehesten so etwas wie die Heldin dieses Films, will durch ihre Arbeit denjenigen Kindern helfen, die nicht so viel Glück gehabt haben wie sie selbst. Alles Getriebene mit eigenen Traumata, nicht zuletzt durch die labyrinthische Struktur des Films ausweglos verstrickt in den Fall Cassandra. Genau wie Egoyan, der sich in unzähligen seiner Filme selbst immer wieder für junge Mädchen interessiert hat. Das rückt ihn ausgerechnet in Mikas Nähe. Denn dessen Taten folgen nicht nur einer Fleischeslust, sondern auch einer Obsession für die Aufzeichnung von Geschichten, für das Schicksal der verlassenen Mutter etwa. Was The Captive interessant macht, ist die Art und Weise, mit der sich Egoyans Autoren-Ego ausgerechnet in der klischeebehafteten Verkörperung des Perversen verbirgt, wie er Tina und ihre Trauer zum Opfer gleich zweier Kameras macht: der Überwachungskamera Mikas wie seiner eigenen. Die Fragmentierung der Handlung ist nicht zuletzt Selbstschutz vor dem problematischen Begehren nach ungefilterter Aufzeichnung und Kohärenz.

Irgendwo zwischen Ereignis und Bedeutung

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So problematisch es also sein mag, dass Egoyan ausgerechnet bei einem derart aufgeladenen Thema mit seiner sonst so konsequenten Transparenz der Figuren bricht – durch Mika gerade nicht hindurchsieht und dessen Traumata nachspürt, sondern ihn als undurchdringliche Wand konstruiert –, so konsequent ist diese Strategie, weil sich in dieser Wand der filmische Apparat verbirgt, der diese Welt nicht abbildet, sondern selbst erschaffen hat, um uns den Film zur aktuellen Debatte liefern zu können. Was das von Egoyan stets beschworene Motiv der Sinnstiftung im Angesicht unfassbarer Ereignisse angeht, ist der sich selbst dekonstruierende Thriller dabei ein durchaus geeignetes Vehikel. Auch die versuchte Einzwängung in ein Genre-Gerüst ist schließlich der Versuch, die klaffende Lücke zwischen Ereignis und Bedeutung zu schließen, eine genuin filmische Methode, um mit dem Realen fertigzuwerden. So wie der Showdown keine Suspense stiftet, stiftet das Ende zwar dem Zuschauer eine Auflösung, doch lässt es den Figuren keinen Abschluss. Die Tochter ist am Leben, die Leere kann gefüllt werden. Aber nur durch das, was sie einst verursachte.

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Kommentare


ulle

Guter Till Kadritzke- eine hervorragende Kritik, für einen sehr seltsamen wie faszinierenden Film. Vielen Dank dafür an dieser Stellte und vor allen Dingen auch für die Aufmerksamkeit, die ich so noch nirgendwo lesen konnte und die ich anhand der Filme von Egoyan nur unterschreiben kann : "...genau wie Egoyan, der sich in unzähligen seiner Filme selbst immer wieder für junge Mädchen interessiert hat."


Yasmine Paul

Sehr guter Film. Beobachte etwas ähnliches momentan in Mumbai. Leider werden die Täter ( Professor der Psychologie, Priester) durch das System geschützt.






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