Buffy Sainte-Marie: Zu wem sie gehört
  1. Startseite
  2. Kultur
  3. Musik

Buffy Sainte-Marie hat sich ihre indigene Herkunft ausgedacht

KommentareDrucken

Buffy Sainte-Marie bei einer Gala in Toronto, 2022.
Buffy Sainte-Marie bei einer Gala in Toronto, 2022. © Getty Images via AFP

Buffy Sainte-Marie, eine Ikone der kanadischen Musik, hat sich ihre indigene Herkunft anscheinend ausgedacht. Eine TV-Dokumentation präsentiert Beweise. Ein spektakulärer Fall, aber nicht der einzige seiner Art.

Der Ruhm der frühen Jahre verlief über einfache Botschaften. „Stell dir vor, es ist Krieg – und keiner geht hin.“ In Liedform ging der demonstrativ-naiven Antikriegsformel die Anklage des willfährigen Soldaten voraus, der sich für Ideologien und Religionen in den Krieg schicken lässt. Die Befehle kommen von hier und dort, von dir und von mir.

Der britische Folksänger Donovan wurde 1965 mit dem Song „Universal Soldier“ auf einen Schlag berühmt und trug zugleich zum Durchbruch der kanadischen Sängerin Buffy Sainte-Marie bei, die das Lied ein Jahr zuvor geschrieben und auf ihrem Debütalbum „It’s My Way“ veröffentlicht hatte. Bis in die Mitte der 70er Jahre hinein spielte sie im Jahresrhythmus Alben ein, die stets auch einige Songs enthielten, die von anderen Stars der Zeit gecovert wurden.

Wie der junge Bob Dylan war Buffy Sainte-Marie zu Beginn der 60er im New Yorker Club Gaslight aufgetreten, eine Art Zentralbahnhof für popmusikalische Legenden. Dylan umhüllte sich mit der Hobo-Geschichte eines Jugendlichen, der mehrfach von zu Hause abgehauen ist; tatsächlich kam er aus bürgerlichen Verhältnissen aus einem kleinen Kaff in Minnesota. Weit geheimnisvoller schien die Herkunft der Buffy Sainte-Marie zu sein. Sie sei, so ihre Version, in einem Cree-Reservat in Saskatchewan in Kanada geboren und im Alter von zwei oder drei Jahren ihrer leiblichen Mutter weggenommen worden.

Das war kein Einzelfall; ein dunkles Kapitel der jüngeren kanadischen Geschichte handelt unter dem Stichwort Sixties Scoop von einer restriktiven Politik gegen die indigene Bevölkerung und der Zwangsadoption von deren Kindern. Buffy Sainte-Marie wuchs demnach in einer italo-amerikanischen Familie in Massachusetts auf; ihre Stiefmutter, berichtete sie, habe sich dem Volk der Mi’kmaq zugehörig gefühlt.

Alles Lüge? Seit etwa zwei Wochen steht die kanadische Öffentlichkeit kopf. In einer aufwendig produzierten Dokumentation des Senders CBC wurde der Verdacht artikuliert, dass die Sängerin, die im Verlauf ihrer 60-jährigen Karriere als Songschreiberin, Künstlerin, Kinderbuchautorin, Vortragsreisende und Aktivistin zu einer Ikone der indigenen Bevölkerung in Nordamerika geworden ist, das leibliche Kind ihrer vermeintlichen Stiefeltern sei. Eine Weiße, eine „Pretendian“, die sich ihre Herkunftslegende bloß zugelegt hat. Die 82-jährige Buffy Sainte-Marie widersprach in einer emphatischen Videobotschaft. Sie wisse nicht, wie sie geboren wurde und ihre frühe Kindheit verbracht habe. Aber: „Ich weiß, wer ich bin.“

Was anfangen mit solch einem Verdacht nach 60 Jahren? Und wie stichhaltig ist er? In der CBC-Dokumentation wird eine Geburtsurkunde der US-Gemeinde Stoneham präsentiert, die sie als leibliches Kind von Albert und Winifred Irene Santamaria ausweist. Aufgrund von antiitalienischen Anfeindungen während des Zweiten Weltkriegs habe sich die Familie später in Sainte-Marie umbenannt. Bekräftigt wird die Echtheit der Urkunde durch die Aussagen einer Nichte von Buffy Sainte-Marie, der Tochter ihres älteren, bereits vor einigen Jahren verstorbenen Bruders.

Doch warum solche Enthüllungen erst jetzt? Gerüchte und anderslautende Behauptungen habe es in der Familie schon früher gegeben, so die Nichte. Buffy habe jedoch gedroht und Anwälte in die Spur geschickt. Ihr Vater habe keinen Ärger gewollt, die Familie sei sogar nach Hawaii, wo Sainte-Marie seit vielen Jahren lebt und als bildende Künstlerin arbeitet, eingeladen worden.

Die CBC-Dokumentation ordnet ihr Material mit allerlei suggestivem Beiwerk. In einem Ausschnitt aus der „Sesame Street“, in der Buffy Sainte-Marie zwischen 1976 und 1981 auftrat und Kindern indianische Lebensweisen nahebrachte, geht es um den Unterschied zwischen Klischees und der Wirklichkeit indigenen Lebens. „I am real“, erklärt Buffy den Kindern. Die Szene ist derart geschnitten, als müssten sofort die Nadeln der Lügendetektoren heftig nach oben ausschlagen. Geht es noch um Aufklärung oder um eine spektakuläre Überführung?

Die Reaktionen in den indigenen Gemeinschaften fallen unterschiedlich aus. Viele wollen Buffy Sainte-Maries Absturz nicht wahrhaben. Aus dieser Perspektive wird die Geburtsurkunde als Fälschung angesehen oder schlicht als Instrument eines letztlich kolonialistischen Systems betrachtet. Buffy sei eine von ihnen, heißt es in Hunderten via Netz verbreiteten Statements. Tatsächlich wurde sie 1964 in einer Zeremonie von Emile und Clara Starblanket Piapot nach den Regeln der Cree Nation in die Piapot-Familie adoptiert und aufgenommen. Vielen gilt das als hinreichender Nachweis ihrer Zugehörigkeit. Die indigenen Gemeinschaften, so das Argument, bestimmen selbst, wer zu ihnen gehört.

Doch das Unbehagen über die Enthüllungen hat die gesamte kanadische Öffentlichkeit erfasst. Erst vor wenigen Tagen schrieb Cody Wolfchild, der jüngste Sohn von Buffy Sainte-Marie, in seinem Facebook-Account: „Mom wurde als weißes Mädchen in einen Stamm aufgenommen.“ Es klingt einerseits wie eine Bestätigung des Verdachts, scheint aber die Zugehörigkeit zur Piapot First Nation zu betonen.

Es gibt allerdings auch Kritik aus der indigenen Welt. Buffy Sainte-Marie habe durch ihren mutmaßlichen Identitätsschwindel anderen die Möglichkeit zur Entfaltung genommen. Ähnlich war es dem Schriftsteller und Künstler Jimmie Durham ergangen. Der zweifache Documenta-Teilnehmer übernahm in den 70ern Ämter im American Indian Movement und dem International Indian Treaty Council. Später sprachen ihm die Cherokee, denen er sich zugehörig fühlte, das Recht ab, für sie zu sprechen, da seine Familie in keinem Cherokee-Geburtsregister geführt wird.

Für sein künstlerisches Lebenswerk erhielt der 2021 in Berlin gestorbene Durham 2019 einen Goldenen Löwen der Biennale von Venedig. Auch ihm wurde jedoch vorgehalten, den Ruhm nicht zuletzt durch eine möglicherweise erfundene indigene Herkunft erworben zu haben. Ebenso wird nun an den Fall der Sacheen Littlefeather erinnert, die 1973 einen Oscar für Marlon Brando in Apachen-Kleidung entgegengenommen hatte. Kurz nach ihrem Tod 2022 teilten ihre Schwestern mit, sie habe ihre indigene Herkunft erfunden.

Buffy Sainte-Maries Anerkennung im Popuniversum beruht nicht allein auf ihrer Rolle als Musikerin indigener Herkunft. Von ihrem Album „Many A Mile“ aus dem Jahr 1965 stammt der ebenso einfache wie schöne Song über eine unbedingte Liebe, die spätere Trennung nicht ausschließt. „Until It’s Time For You To Go“ wurde durch Elvis Presley zum Welthit. Später coverten Barbra Streisand, Neil Diamond und viele andere das Stück, das Buffy Sainte-Marie bei ihren Auftritten stets mit ironischem Understatement ankündigte. „It’s just a little love song.“

Den richtigen Ton für große Gefühle fand sie in „Up Where We Belong“, gesungen von Joe Cocker und Jennifer Warnes im Film „An Officer And A Gentleman“, für das sie 1982 mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Wenn sie sich später bei dem Lied zur Gitarre begleitete, sagte sie oft, es handele sich um eine „songwriter version“.

Buffy Sainte-Marie sang mit einem unverwechselbaren Timbre, in vielen Aufnahmen widmete sie sich der traditionellen indigenen Musik, sie stand im Austausch unter anderen mit den Gitarristen Link Wray und Robbie Robertson von The Band. Spätestens seit den 70ern sah sie sich als Kämpferin und Aktivistin für die Rechte der indigenen Bevölkerung und trat in vielen Talkshows zum Thema auf.

Buffy Sainte-Marie erhielt viel Anerkennung, stieß jedoch auch auf Unverständnis, selbst bei engsten Vertrauten. Als Pete Seeger, der Urvater der amerikanischen Folkmusik, sie einmal auf offener Bühne aufforderte, in Woody Guthries Song „This Land Is Your Land“ einzustimmen, weigerte sie sich mitzumachen. Als Angehörige des Cree-Volkes erschien ihr die Textzeile „Dies Land ist mein Land“ wie Hohn. Das Gleichheitspathos einer universalistischen Linken schien nichts mit ihr zu tun zu haben. Ja, das Land sollte ihr gehören, befand Buffy, aber so war es leider nicht.

Pete Seeger war entsetzt und bewegte sie schließlich doch zum Mitsingen. Er, sagte sie erst kürzlich in einem Interview, habe erst Jahrzehnte später begriffen, worauf es ihr in diesem Augenblick ankam. „Der netteste Mensch der Welt hatte keine Ahnung vom Schicksal der indigenen Bevölkerung in Nordamerika.“ Falls Buffy Sainte-Marie über ein klares Bewusstsein von ihrem Identitätsschwindel verfügt, so scheint sie viel Zeit damit verbracht zu haben, es zu verdrängen.

Was lehrt ihr Fall über die Geschichte der Sängerin hinaus? In ihrem Essay „Das Problem, für andere zu sprechen“ (Reclam) setzt sich die US-Philosophin Linda Martín Alcoff mit der Frage auseinander, ob die Fürsprache für andere zwangsläufig zu einem Sprechen über andere führe, also in den Dualismus münde, ob eine Gruppe entweder selbstbestimmt oder Opfer sei. Linda Martín Alcoff plädiert stattdessen für die Suche nach Ähnlichkeiten. Es gehe nicht nur um die Frage, ob „für“ oder „über“ andere gesprochen werde, sondern auch „wie“. Nachahmung, Empathie und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, blieben allzu leicht vernachlässigt.

Im „Toronto Star“ versucht sich Robert Jago, ein Mitglied der Kwantlen First Nation, mit Blick auf Buffy Sainte-Marie an einem versöhnlichen Resümee: „Sie ist 82, sie hat die Bühne verlassen. Auch ohne den Enthüllungsbericht würde sie keine Preise mehr gewinnen und keine weiteren Auftritte absolvieren. Der Nettoeffekt des CBC-Berichts über sie ist negativ. Es war eine unnötige Geschichte. Aber Tatsache ist, dass wir sie kennen, und sie scheint wahr zu sein. Und wenn daraus etwas Gutes entstehen soll, kann es damit beginnen, die Medien zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit der indigenen Öffentlichkeit zu inspirieren.“

„Circle Game“, ein früher Song der Kanadierin Joni Mitchell, wurde 1966 zunächst durch die Version Buffy Sainte-Maries bekannt. „We can’t return, we can only look behind“, heißt es in dem Lied. Man könne nicht dorthin zurückkehren, wo man herkommt. Eine gewissenhafte Rückschau aber eröffnet viele Perspektiven.

Auch interessant

Kommentare