Die Schauspielerin Brigitte Mira ist im Alter von 94 Jahren gestorben. Ein Nachruf: Die kleine Frau

Die Schauspielerin Brigitte Mira ist im Alter von 94 Jahren gestorben. Ein Nachruf: Die kleine Frau

BERLIN, 8. März. Zuerst diese Stimme. Auch beim Sprechen hatte sie eine Gesangsstimme wie ein Vögelchen, ungewöhnlich hoch, ein brüchiges, atemloses, melodiöses Soubrettentrillern. Eigen und auffällig. Dann erinnert man sich an das Gesicht. Wenn ein Mensch 94 Jahre gelebt hat, sind die Zeugen seiner Jugend gestorben. Wer später auf die Welt kam und, wie viele, diese Künstlerin auch erst später wahrnahm, sah ihr Gesicht, als es sich schon faltete und runzelte, pausbäckig die Konturen verlor. Sie sehe aus "wie ein vom Schicksal gebeutelter Truthahn", hat die kleine alte Frau gesagt. Keiner spottete mehr über ihr Aussehen als sie selbst.Das junge Gesicht von Brigitte Mira gibt es nur in vergessenen Filmen und in Fotos aus dem Archiv: ein hübsches, fröhliches Mädchen mit schmal gezupften Augenbrauen und aufgeklebten Wimpern. Keine klassische Schönheit, aber ein schnuckliger Männertyp. Einsdreiundfünfzig groß. Ihr Vater, gebürtiger Russe, ist Konzertpianist in Hamburg. Er möchte seine Tochter als Weltstar am Klavier sehen, aber weil das Talent nicht reicht, stimmen er und die Mutter einer Ballett- und Gesangsausbildung zu. Es gibt Fotos von ihr als Ballettelevin in Köln, als Soubrette 1931 beim ersten Engagement in Bremerhaven, danach in Reichenberg. Ihre Rollen heißen Liesel, Hansi, Pepi, Stubenmädchen, Zweiter Engel, Kammerzofe, Morgenröte. Oder sie heißen Friedl, Lehrbub und Pips, der Fähnrich - sie hatte ein Faible für komische Hosenrollen. Brigitte Mira muss wie rasend gearbeitet haben, oft folgen die Premieren im Abstand von zwei Wochen. Später spielt sie im gleichen Tempo in Graz, Kiel, Hamburg, Hannover. Operetten, Singspiele, Komödien, Revuen, Märchen. Die Mutter lebt bei ihr, sie sorgt für den Haushalt. Die Tochter, die nie kochen lernen wird, sorgt für das Geld. Üppig haben sie es nie.1934, noch in Graz, wird sie von einer Kollegin gewarnt: In Deutschland kommen Schwierigkeiten auf sie zu. Brigitte Miras Vater ist Jude. Er hat sich früh von der Familie getrennt, aber die Tochter fühlt sich für seine Sicherheit verantwortlich. Von ihrer Gage besorgt sie falsche Papiere für den Vater und für sich und fährt, zähneklappernd, einem Engagement hinterher ins national-sozialistische Deutschland. Spielt, tanzt und versteckt die echten Papiere für bessere Zeiten, aber später sind sie im Krieg verbrannt.1941 geht sie nach Berlin. Sie tritt im Kabarett der Komiker, im Wintergarten und im Rose-Theater auf. Es ist Krieg, bald wird die Stadt bombardiert. Die junge Schauspielerin rennt, wenn sie nach abgebrochenen Vorstellungen aus dem Luftschutzkeller kommt, durch das brennende Berlin, um zu sehen, ob die Eltern leben.1943 hat sie ihr Filmdebüt in der Serie "Liese und Miese", die im Kino als Beiprogramm der "Deutschen Wochenschau" läuft. Diese Kurzfilme des Propagandaministeriums sollen der Bevölkerung die Angst nehmen und zu Wachsamkeit mahnen. Regie führt Eugen York, die Texte schreibt Friedrich Luft. Der linientreuen Liese gegenüber wird Brigitte Mira als Miese besetzt, als eine Person, die alles falsch macht, die Lebensmittel hortet und Feindsender hört. Es hat mit den falschen Papieren zu tun, dass sie diese Rolle annimmt, und es hängt mit ihrem Naturell zusammen, dass das Publikum diese Miese ins Herz schließt. Die Serie wird nach zehn Teilen von Goebbels abgebrochen. In ihrer Autobiografie "Kleine Frau - was nun?" von 1988 hat Brigitte Mira ihre Beteiligung an diesen Filmen bereut. Zu ihrer Haltung in der Nazizeit sagte sie: "Ich war nicht mutig, ich hatte nur Angst".Nach dem Krieg bringen die Zuschauer Nägel statt Eintrittsgeld ins Theater mit, damit die Kulissen zusammengebaut werden können. Brigitte Mira spielt im Theater am Schiffbauerdamm und in der Komischen Oper bei Felsenstein. Außerdem tingelt sie. "Sonntagmorgen ohne Sorgen" heißt eines dieser Potpourri-Programme der Nachkriegszeit. Die Gage sind Lebensmittel, sie lässt sich gerne für einen Sack Kartoffeln engagieren. Sie hat Hunger, wie die meisten Berliner.Und sie heiratet. Schon das dritte Mal. Der Erste war ein Schauspieler, der Zweite ein Intendant, und der dritte Mann ist zweiter Bürgermeister von Berlin-Wilmersdorf und Vater ihrer beiden Söhne, die 1947 und 1949 geboren werden. Nach der Währungsunion spekuliert er mit Saaterbsen, macht Bankrott und trinkt zu viel. "Unsere Ehe lief gut an", schreibt sie in ihrer Autobiografie. Die Ehen liefen immer gut an, aber dann kam bald was dazwischen. Eine Affäre zum Beispiel. Brigitte Mira verliebte sich leicht, beichtete mit schlechtem Gewissen zu Hause und sorgte für klare Verhältnisse. So folgte dem dritten der vierte Ehemann, ein Exportkaufmann, "hinreißend, fürsorglich, verständnisvoll", aber der bekommt in ihrem Buch den wenigsten Platz, weil sich diese Liebe am schnellsten erledigt hatte. Danach holt sie Luft und ernährt eine Familie - die Mutter, die bis zu ihrem Lebensende 1966 bei ihr wohnt, zwei Kinder und sich selbst. Von Männern hat sie genug.Bis Frankie kommt. Frank Guarente, Italo-Amerikaner. Wesentlich jünger sei er gewesen, sagt sie. Man kann nachlesen, wie Journalisten in Interviews sich an das Thema ranpirschen. Frankie sei siebzehn Jahre jünger gewesen? Oder achtzehn? Weit über zwanzig Jahre jünger, oder? Brigitte Mira ging darauf einfach nicht ein. Erst 2003 sagt sie der Wochenzeitung "Die Zeit": "Bei Frankie, meiner großen Liebe, war ich 22 Jahre älter. War auch nicht schlimm. Im Gegenteil. Ältere Männer wissen immer alles besser."Auch bei ihrem eigenen Alter hat sie die Spuren verwischt. Lange war sie neununddreißig und lange neunundvierzig. Sie weiß, dass Schauspielerinnen nach dem Alter besetzt werden, und weil sie früh den Schmelz der Jugend verloren hat, erschwindelt sie sich wenigstens eine verspätete Geburt. Das Munzinger-Archiv gibt 1910 als ihr Geburtsjahr an, was wohl stimmt. Im dtv-Theaterlexikon von 1999 ist noch die Version 1915 durchgegangen. "Mag sein, dass ich laut Ausweis längst meine Rente hätte beantragen müssen", schreibt sie 1988 in der Autobiografie, "von meinem Herzen, meiner Neugierde und meinem Temperament her stimme ich mit meinen Geburtsangaben jedenfalls nicht überein."Frank Guarente lernt sie 1958 in einer Jazz-Kneipe kennen. Er zieht sofort bei ihr ein. Später arbeitet er als Aufnahmeleiter und Regisseur. Frankie ist nicht immer treu. Brigitte Mira, die kleine Rothaarige, sieht ihm einige langbeinige Blondinen nach. Liebe ist nicht gleich Treue. Sie sieht sich realistisch in den Konkurrenzen, sieht auch Vorteile: "Schöne Frauen leiden unter der Vergänglichkeit wie Tiere. Ich habe nie gelitten." Außerdem kommt Frankie immer zu ihr zurück. Sie sagt bei vielen Gelegenheiten: "Ich hatte eben andere Qualitäten." Brigitte Mira kokettiert mit dem Ruf der unwürdigen Greisin.Sie und Frankie werden 27 Jahre zusammen leben, aber diesmal wartet sie sechzehn Jahre, bis 1974, mit der Heirat. Vier schnelle Ehen haben sie etwas vorsichtiger gemacht. Außerdem ist 1974 ein besonderes Jahr. Eine zweite Geburt.Fassbinder hält auf der Treppe des Festspielhauses in Cannes ihre Hand, und die Fotografen schreien "Mira, Mira!" Eben ist "Angst essen Seele auf" gelaufen. Die Schauspielerin fasst den Trubel nicht. Sie, "die Kleene, die im deutschen Kino und Fernsehen gerade für die Rollen gut genug war, die meine Kolleginnen mit den großen Namen nicht spielen wollten", ist plötzlich ein Star.Vorher hat sie auf jeder Hochzeit getanzt, zu der sie gebeten wurde, in vielen Filmen Haushälterinnen, Tanten und Muttis gespielt. Zwei, drei Drehtage. So kam etwas Geld rein. Es war die Zeit der Heimatschnulzen und Musikfilme. Opas Kino. Geldmaschinenkino. An die Titel kann sich Brigitte Mira später nicht erinnern. "Dennoch war ich dabei - am Rande." Nach Fassbinders "Angst essen Seele auf" - dafür bekommt sie das Filmband in Gold - schreibt ein Kritiker: "Wo war diese Frau denn nur all die Jahre?" Sie antwortet in der Autobiografie: "Ich kann nur sagen: Ich war immer da, aber offenbar hat mich bis Fassbinder niemand so richtig bemerkt."Mit der Rolle der Putzfrau Emmi, die einen viel jüngeren marokkanischen Gastarbeiter heiratet, wird Brigitte Mira berühmt und anerkannt. Von innen und von außen passt sie in die Figur. Eine unsichere, verblühte Frau, die leicht auszunutzen ist, aber den Punkt findet, an dem sie sich wehren muss. Sie ist zärtlich, misstrauisch, ungebildet, naiv, lebensklug. Sie trägt ärmliche Kleider mit großen Mustern. Ihre Leibhaftigkeit strahlt, wenn es so etwas gibt, eine zerbrechliche Fülle aus. Brigitte Mira rührt tief.Den nächsten großen und anhaltenden Publikumserfolg hat sie ab 1978 als Oma Färber in der Serie "Drei Damen vom Grill". Gute Unterhaltung, aber keine aufwühlende und originäre Figur wie die Emmi. Brigitte Mira bleibt Fassbinder immer dankbar. Beide arbeiten weiter zusammen, die alte Frau fügt sich in seine sehr spezielle Truppe ein. Rainer Werner Fassbinder stirbt 1982. Frank Guarente stirbt 1983. Nie hat Brigitte Mira gedacht, dass sie die beiden Männer überleben würde.Sie überlebt auch ihre jüngeren Kollegen. Günther Pfitzmann, Wolfgang Gruner, Günter Neumann, Boy Gobert, Kurt Raab, Heidi Brühl, Barbara Valentin. Sie ist die älteste der "Drei alten Schachteln" und überlebt die beiden anderen, Helen Vita und Evelyn Künnecke. Sie sieht Harald Juhnke wegdämmern. Sie bleibt übrig und bei Verstand. Deshalb kümmert sie sich um einen guten Freundeskreis und um Arbeit.Brigitte Mira spielt Theater, singt im Wintergarten, sitzt in Talkshows und bei "Wetten, dass?", geht auf Tournee. Zu den Vorstellungen von "Jedermann" lässt sie sich 1999 von Brigitte Grothum aus dem Krankenhaus abholen und zurückbringen. Sie ist wacklig auf den Beinen, mehrmals stürzt sie schwer. Trotzdem klettert sie aus dem Bett, lernt Rollen, macht sich für draußen zurecht mit Klunkern, farbenfrohen Gewändern und kirschrotem Mund. Manchmal wirft sie sich eine Federboa um. Sie geht unter Leute.Eigentlich ist Brigitte Mira eine alte Frau. Aber diese Person leistet sie sich nur, wenn sie alleine ist. Nach der Arbeit. Wenn sie mit dem Taxi zu Hause im Grunewald angekommen ist, setzt sie sich aufs Sofa und zieht Latschen an. Kein Fernsehen. Es leuchtet eine Lampe, die von Violett bis Hellgrün das Licht wechselt. Dabei liest sie Liebesromane.Vor einigen Jahren hat sie gesagt: "Ich hoffe, dass irgendwann der Vorhang fällt und ich hinter der Bühne graziös zusammensinke. So, dass es auch noch ein hübsches Foto gibt." Alles kann man nicht haben. Brigitte Mira starb gestern im Krankenhaus.------------------------------"Ich hoffe, dass irgendwann der Vorhang fällt und ich hinter der Bühne graziös zusammensinke. So, dass es auch noch ein hübsches Foto gibt."------------------------------Foto: "Offenbar hat mich bis Fassbinder niemand richtig bemerkt." Brigitte Mira spielte lange kleine Rollen. Der Durchbruch kam 1974 mit "Angst essen Seele auf".