„Bis zum Ende der Welt“ ist der fiktionale Auftakt zur ARD-Programmwoche „Toleranz“. Autor Thorsten N�ter und Regisseur Matthias Tiefenbacher ist ein gef�hlvoller Themenfilm gelungen, der alles andere als ein Vehikel-Film geworden ist. Weder Vorurteile & Ausl�nder-Feindlichkeit noch Christiane H�rbigers Heldin sind die alleinigen Triebkr�fte der Geschichte. Ebenso erz�hlt der Film von universalen Gef�hlen, vom Wunderland Musik oder von einer die Generationen �bergreifenden Kraft. Und bei aller Exponiertheit der Hauptdarstellerin: das Rest-Ensemble ist vorz�glich, und im Streben nach „Realismus“, besonders was den Alltag der Roma angeht, wei� die einfallsreich fotografierte Degeto-Produktion zu �berzeugen.
Foto: Degeto / Georges PaulyEin Roma-Junge (Samy Abdel Fattah) bringt Maria Nikolai (Christiane H�rbiger) das verlorene Portemonnaie zur�ck. Die verwitwete, verarmte Frau ist alt, aber durchaus noch bereit, ihre Vorurteile gegen�ber dem "Gesindel", wie sie sagt, zu �berdenken.
Au�er ihren Erinnerungen ist Maria Nikolai nicht viel geblieben. Die ehemalige Musikerin lebt seit 20 Jahren in Hamburg. Ihre Rente ist d�rftig und das Haus, in dem sie wohnt, ist heruntergekommen. Deutsche gibt es kaum noch in ihrem Viertel. Die Angst und die Einsamkeit sind ihre st�ndigen Begleiter. Jetzt hat ihr Vermieter auch noch Roma ins Haus geholt. Bei einem Anschlag ausl�nderfeindlicher Jugendlicher auf jene Gro�familie Muharem lernt die alte Dame dann allerdings den 16j�hrigen Bero kennen und entdeckt sein ungew�hnliches musikalisches Talent. Sie unterrichtet ihn im Akkordeonspielen, sie glaubt, dass er zu H�herem berufen ist. Beros Vater dagegen will aus dem zarten Jungen einen Malocher machen, der mithelfen soll, die Familie durchzubringen. Die musikalische Tradition seines Volks sei l�ngst dem Alltag der Billigjobs und der Angst, abgeschoben zu werden, gewichen. Doch vielleicht lassen sich ja auch mit Tr�umen hungrige M�nder stopfen?!�
Foto: Degeto / Georges PaulyAugen zu und durch. Mit den neuen Nachbarn will die Witwe nichts zu tun haben.
Christiane H�rbiger spielt jene Maria Nikolai, die die wertvolle Erfahrung macht, dass man selbst mit �ber 70 noch dazu lernen kann und sich seine Vorurteile nicht vom Altersstarrsinn zementieren lassen muss. Nachdem der ARD-Fernsehfilm „Bis zum Ende der Welt“ sich abgearbeitet hat an den deutschen Vorurteilen, die verschiedenen Positionen und Parteien vorgestellt und die Fronten gekl�rt sind, die verarmte Frau, die Roma-Familie, eine Gruppe Ausl�nderfeinde und eine Polizistin, die selbst der verrufenen Ethnie angeh�rt, schwingt sich das TV-Drama von Matthias Tiefenbacher zu einem gef�hlvollen Themenfilm auf. Es ist der fiktionale Auftakt zur ARD-Programmwoche „Toleranz“, der erfreulicherweise alles andere als ein Vehikel-Film geworden ist. „Bis zum Ende der Welt“ hebt nach dem ersten Drittel ab zu einem warmherzigen Sozialm�rchen, das zeigt, wie wichtig das gegenseitige Kennenlernen ist, um sich von �berdauernden Ansichten und Einstellungen verabschieden zu k�nnen. Vor allem aber funktioniert der Film dar�ber, was er konkret erz�hlt: Musik verbindet emotional. Musik kann zur Leidenschaft werden, kann befl�geln und Tr�ume wahr werden lassen. Und mit Musik geht vieles besser – auch und ganz besonders die Zusammenf�hrung der Kulturen.
"Bis zum Ende der Welt" ist eine Produktion der Aspekt Telefilm. F�r Produzent Markus Trebitsch ist es nach "Luises Versprechen", "Wie ein Licht in der Nacht" und "Stiller Abschied" bereits der 4. Film mit der H�rbiger seit 2010.
Foto: Degeto / Georges PaulyMit der Musik kommen die Erinnerungen. Maria Nikolai (Christiane H�rbiger) spielte einst Klavier, ihr Mann Geige – und nun l�sst sie sich von den Akkordeonkl�ngen verzaubern und von Beros gro�em Talent erweichen... Samy Abdel Fattah
Zano (Merab Ninidze) nimmt seinen Sohn Rudko (Zino Gleich) beiseite:
„Wenn dieser Sven Mist baut und Leute bestiehlt oder sein Freund Nade sich mit einem anderen pr�gelt, dann sagen die Leute: Sven ist ein Dieb und Nade ist ein Schl�ger. Aber wenn du das machst, hei�t das: Roma sind Diebe und Schl�ger.“
Foto: Degeto / Georges PaulyViel Leben auf wenig Raum. Matthias Tiefenbacher und seinem Kameramann ist die Darstellung der Roma-Familie filmisch "authentisch" gelungen und Thorsten N�ter hat ein politisch stimmiges Wohlf�hlende geschrieben, das ganz im Zeichen der Generationen und Kulturen �bergreifenden Musik steht... Fattah, Gleich, Ninidze
Aber es ist nicht nur die Botschaft der Musik, es ist auch die Ann�herung von jung und alt, die der Geschichte ihre universale Kraft verleiht. Die biestige Alte lebt auf in der Gegenwart des musizierenden Jungen. Bald versteht man als Zuschauer auch, weshalb. Ihre gro�e Liebe, ein heimatloser Russland-Deutscher, war ein Virtuose auf der Geige und musste sich im Alter als Stra�enmusiker �ber Wasser halten, w�hrend sie Klavier spielte. Es gibt keine R�ckblenden – und dennoch sp�rt man, was sich da auf der Seele der alten Frau abspielt. Christiane H�rbiger hat seit Jahren ihre besondere Art des Spiels – ein paar Manierismen inklusive. Ihre Maria Nikolai gibt sie kleiner, bescheidener, da die Rolle – anders als ihre gro�en Damen („Besuch der alten Dame“), die zum Gesellschaftsspiel im Spiel neigen, oder zuletzt die demenzkranke Firmenchefin in „Stiller Abschied“ – es so will und das Drama oder die Tragik nicht allein auf ihren Schultern lastet. H�rbiger muss keine Performance abliefern – und sie tut gut daran, bei ihrem Wandel von der schroffen Person mit dem barschen Ton, die misstrauisch ihre Umwelt be�ugt, zur sich in den Wohlklang der Musik wieder verliebenden Alten nicht zu �bertreiben. Mit jeder Musikstunde des h�bschen Jungen weicht der harte Zug um die Mundwinkel und der gestrenge Blick ein wenig mehr einer wohlf�hlfilmhaften Altersmilde. Man kann das als Zuschauer ganz genau verfolgen, denn die insgesamt – vor allem auch in Innenszenen – einfallsreiche Kamera von Klaus Merkel geht oft ganz nah heran, registriert alles, jede kleinste Regung. Verschwunden die Einsamkeit, vertrieben die Angst. Es ist sch�n zu sehen, wie die Jugend dem Alter (wieder) neue Energie gibt und umgekehrt.
Foto: Degeto / Georges PaulyAuch mit �ber 70 bevorzugt Maria (H�rbiger) klare Ansagen. Und sie wei�, dass der Gro�vater der Roma-Familie (Kitzl) ihr Anliegen, das Talent seines Enkels zu f�rdern, verstehen wird. Der Gleichklang der beiden wird bereits vom Kost�mbild angedeutet.
Neben H�rbiger spielt Samy Abdel Fattah („Unter Verdacht – T�rkische Fr�chtchen“) die m�nnliche Hauptrolle. Mit anfangs versch�chtertem Blick und wenig Worten gibt er sein patriarchalisch unterdr�cktes Wunderkind. Auch das nach Gesichtspunkten des „Authentischen“ ausgew�hlte Rest-Ensemble ist vorz�glich – und besticht in seiner Geschlossenheit. Starke Charaktere, physische Schauspieler wie Albert Kitzl oder Merab Ninidze, aber keiner spielt sich hervor – Realismus-Eindruck ist offenbar das anvisierte Ziel. Das zeigt sich vor allem auch in den Familienszenen der Roma. Viel Leben, viel Energie auf engstem Raum. Nur selten wird das, was da zwischen Essen und Trinken, zwischen Tanz und Gesang, zwischen Geschimpfe und handfester Streiterei verhandelt wird, synchronisiert. Nur wenn es um die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Generationen geht, wenn der Vater die Tradition der Roma von der Jugend zu wenig geachtet sieht, wird mal auf Deutsch gerungen. Das Finale zeigt dann ein anderes Bild der Roma, nicht das vom grauen Alltag, sondern es zeigt eine selbstbestimmte, die eigene Kultur liebende und feiernde Gemeinschaft. Autor Thorsten N�ter schrieb nicht nur ein stimmungsvolles Ende, sondern auch eines ohne� falsche Zwischent�ne. Die Roma-Patriarchen behalten ihr Gesicht und der (musische) Assimilationsprozess des jugendlichen Helden kappt nicht dessen kulturelle Wurzeln.
Foto: Degeto / Georges PaulyWas die Kollegen nicht wissen: Kripo-Frau Susanne (Marie-Lou Sellem) ist eine Roma. Die Vorurteile und die Intoleranz von Breckner (Prelle) nerven sie tierisch.
Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Pr�fer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr
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