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Geschichte Ulrike Meinhof

„Sie wollte ihre Kinder mit in den Abgrund reißen“

Ein „verlogenes Miststück“, das sich „für Mord und Betrug und Selbstbetrug“ entschied: Ulrike Meinhofs Tochter Bettina Röhl erinnert sich in ihrem Buch an die RAF. Es wirft ein neues Licht auf den politischen Terrorismus in Deutschland.
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Eine gewisse Ähnlichkeit ist schwer zu übersehen: Mutter Ulrike Meinhof 1972 und ihre Tochter Bettina Röhl 2018
Quelle: pa/ dpa; Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild

Politischen Diskussionen kann kein knapp achtjähriges Kind folgen – besonders nicht, wenn sie in linksradikalem und marxistischem Kauderwelsch geführt werden. Sehr wohl aber kann ein aufgewecktes Mädchen dieses Alters Unterschiede im Äußeren und in der Kleidung verschiedener Menschen erkennen und erinnern.

Bei den Treffen in der Wohnung ihrer Mutter im Frühjahr 1970 hätten die meisten Teilnehmer ähnlich ausgesehen – eine „Versammlung abgerockter Bohemians“ mit Jeans, „heraushängenden Hemden“ und „sehr vielen Lederjacken“. Das schreibt Bettina Röhl in ihrem gerade erschienenen Buch „Die RAF hat Euch lieb“, dem zweiten Band ihrer Familiengeschichte – nach „So macht Kommunismus Spaß“, erstmals herausgekommen 2006.

Relevant ist Bettina Röhls Familiengeschichte, weil ihre Mutter Ulrike Meinhof, die Ikone der meisten deutschen Linksradikalen, war und ihr Vater der einst scharf linke, inzwischen aber seit Jahrzehnten zumindest deutlich nationalliberale, manche sagen: rechtskonservative Verleger Klaus Rainer Röhl ist.

Nach Bettina Röhls Erinnerung gab es auch ein paar Teilnehmer, die rein optisch herausstachen, weil sie „korrekt gekleidet“ waren, mit „weißem Hemd und Anzug, kurz geschnittenen Haaren“. Ulrike Meinhof erklärte ihrer Tochter: „Das sind die Genossen aus Ost-Berlin“, die „Euch Kindern manchmal kleine Geschenke oder Geld in Eure Schuhe stecken“. Mitten im linksradikalen Epizentrum West-Berlins also hauptamtliche Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS).

Diese Wahrnehmung eines Kindes, veröffentlicht nach 48 Jahren, fügt sich ins Bild. Bisher schon wusste man, dass die Stasi die linksradikale Szene in West-Berlin und der Bundesrepublik seit 1966 massiv unterstützt hatte. Mit Geld ebenso wie Logistik und durch intensives Wegschauen, wenn von der Polizei in der Bundesrepublik gesuchte Personen über die Transitwege nach West-Berlin fuhren.

Aber bisher fehlten Belege dafür, dass die Staatssicherheit auch aktiv an der Gründung der linksextremistischen Terrorgruppe Rote Armee Fraktion beteiligt war, um die es bei diesen Treffen in Meinhofs Wohnung im Frühjahr 1970 ging. Natürlich kann die naturgemäß unscharfe Erinnerung eines kleinen Kindes keinen schriftlichen Beleg in den Stasi-Akten ersetzen. Aber fraglos wirft diese Notiz in Röhls Buch ein neues Licht auf die Frühgeschichte des politischen Terrorismus in Deutschland.

Die Autorin Bettina Röhl beiner Talkshow zum Thema "Die 68er - Befreier oder Zerstörer?"
Die Autorin Bettina Röhl beiner Talkshow zum Thema "Die 68er - Befreier oder Zerstörer?"
Quelle: picture-alliance/ ZB

Leider sind die mutmaßlich vielen einschlägigen MfS-Akten zu RAF-Kontakten wohl schon vor 1989 von der Stasi vernichtet worden; erhalten blieben nur Splitter und weniger relevante Unterlagen, etwa eine Analyse der Befreiung des Strafgefangenen Andreas Baader am 14. Mai 1970. Bei dieser Gelegenheit, die in Meinhofs Wohnung besprochen worden war, tauchte die ehemalige „Konkret“-Chefredakteurin selbst in der Illegalität ab – ganz konkret mit einem Sprung aus dem Fenster.

Für Bettina Röhl, eine ihrer beiden Zwillingstöchter, war dieser Sprung „der erste Akt eines sich lang hinziehenden Selbstmordes“ ihrer Mutter. Sie habe „Revolution, Staatsumsturz und Chaos“ haben wollen und sich „für Mord und Betrug und Selbstbetrug“ entschieden. Dabei habe sie ihre Kinder nicht „verlassen“, wie immer „so schön traurig“ gesagt werde. „Sie hat ihre Kinder mit in ihren Abgrund reißen wollen“. Das Ausmaß der geistigen Verwirrung Meinhofs zeigt sich in einem Brief, den sie später aus der Haft an ihre Töchter schrieb: „Die RAF hat euch lieb. Kenn ich mich ja wohl am besten aus.“

Das mit diesem Zitat betitelte Buch ist in doppelter Hinsicht eine bittere Abrechnung. Einerseits persönlich – wer die eigene Mutter ein „verlogenes Miststück“ nennt, muss wirklich tief verletzt sein; das sollte man bei der Lektüre dieses Buches unbedingt beachten. Andererseits aber auch politisch: Es gibt wohl keine so harsche Auseinandersetzung mit den Lügen und dem Selbstbetrug der 68er. Man darf Röhls oft tiradenhafte Ausführungen zwar nicht zum Nennwert nehmen – ein gewaltiger Fortschritt in der Dekonstruktion des Mythos 68 sind sie dennoch.

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Die Autorin schimpft auf die tatsächlichen oder vermeintlichen Sympathisanten der Terroristen in „gehobenen“ gesellschaftlichen Kreisen. Viele hätten nach dem Motto gehandelt: „Die RAF war nicht peinlich, die RAF war sexy.“ Dagegen erinnert Röhl zu Recht an die Opfer der RAF – die Toten und Verletzten des Terrors: Polizisten, Familienväter, US-Soldaten und Verlagsmitarbeiter. Schonungslos attackiert sie die seinerzeit verbreitete „Hätschelung von Terroristen“ durch Intellektuelle, beileibe nicht nur Böll, Sartre und Klaus Wagenbach. Sie erinnert an die „erschütternd perfekt funktionierende Vernetzung“ Meinhofs „in die deutschen Leitmedien“ und mit großen Teilen der „linken Society“.

Menschlich erschütternd sind Röhls Schilderungen über die Zeit nach dem Abtauchen der Mutter 1970. Ulrike Meinhof hatte ursprünglich vorgehabt, die Mädchen als Waisenkinder in einem palästinensischen Flüchtlingslager verschwinden zu lassen. Dann aber überließ sie die beiden unwilligen jungen Gesinnungsgenossen, die sie in ein primitives Barackenlager für Erdbebengeschädigte in Sizilien brachten. Relevant war für Meinhof allein, dass die Zwillinge weder dem Vater noch den Behörden übergeben wurden.

In dem Lager lebten Bettina und Regine Röhl unter unsäglichen Bedingungen. Erst der ehemalige „Konkret“-Redakteur Stefan Aust – später Chefredakteur des „Spiegels“ und heute WELT-Herausgeber – brachte sie zurück zu ihrem Vater. Diese Rettungsaktion brachte Aust den tödlichen Hass Meinhofs ein.

Röhls Zorn macht das Buch fesselnd, auch wenn die Wut sie allzu sehr mitreißt. Wichtig aber ist „Die RAF hat Euch lieb“ aus einem anderen Grund: Dank ihres Namens hatte Bettina Röhl Zugang zu vielen alt gewordenen Gesinnungsgenossen ihrer Mutter – bis hin zum heutigen Rechtsextremisten Horst Mahler, neben Meinhof dem zweiten „Paten“ der RAF. Und sie hatte, als Erbin ihrer Mutter, Zugang zu den Akten ihrer Anwälte.

Erschreckend ist insbesondere, wie Meinhof über viele Monate hinweg mit ihrem Verteidiger Heinrich Hannover umsprang – und dass es dieser in linken Kreisen sehr geachtete Jurist sich die Attacken seiner wichtigsten Mandantin gefallen ließ. Röhls Buch zeigt, dass die Mitwirkung der prominenten RAF-Anwälte, etwa des heutigen Immobilien-Magnaten Kurt Groenewold und des langjährigen Linksaußen der Grünen Christian Ströbele, dringend aufgearbeitet werden muss. Viel spricht dafür, dass ohne die Unterstützung dieser Juristen die RAF eine kurze blutige Episode geblieben wäre, statt mit einer „zweiten“ und einer „dritten Generation“ bis 1991 aktiv zu bleiben.

Die zweite Generation der Rote Armee Fraktion

Die RAF war verantwortlich für zahllose Morde und für die Schleyer-Entführung. Die sogenannte „Offensive 77“ sollte dazu dienen, inhaftierte RAF-Mitglieder freizupressen. Sie stürzte die Bundesrepublik in ihre schwerste Krise.

Quelle: N24

Ihre extrem persönliche Perspektive führt aber natürlich auch zu Verzerrungen. So beschreibt Bettina Röhl die ausgesprochen privilegierten Haftbedingungen ihrer Mutter in Köln-Ossendorf 1972/73 – hält aber zugleich an der RAF-Propagandalüge von der angeblichen Isolation oder gar „Vernichtungshaft“ fest. So ist ihr Buch als hemmungslos einseitige Abrechnung lesenswert, vor allem aber als Fundgrube für die weitere, dringend notwendige Auseinandersetzung mit dem Amoklauf der RAF gegen Demokratie und Rechtsstaat.

Bettina Röhl: „Die RAF hat Euch lieb“. (Heyne, München. 640 S., 24,00 Euro)

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