Der Zugriff erfolgte kurz vor 16 Uhr. Nach knapp dreieinhalb Stunden Geiselnahme in der Commerzbank-Filiale am Hamburger Steindamm schickte der Täter nacheinander drei Geiseln zum bereitstehenden Fluchtwagen. Dann folgte er selbst, offenbar ein junger Mann, aber vermummt mit einem schwarzen Tuch, mit einem vierten Mann vor sich, dem er ein Messer an den Hals hielt. Auf seinem Kopf trug der Bankräuber eine Polizeimütze, und gerade, als er auf der Stufe zum Bürgersteig stand, warf er die Mütze mit seiner Pistolenhand hoch.
Offenbar wollte er so bereit liegende Scharfschützen verwirren. Doch genau diesen Moment nutzten drei Beamte des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) der Hamburger Polizei, die anderthalb Meter entfernt im nächsten Hauseingang gewartet hatten. Der vorderste zielte genau auf den Kopf des Täters, schrie etwas – und im nächsten Moment drückte er ab. Weitere Schüsse knallten, dann lag der Bankräuber tot auf dem Pflaster. Andere Beamte sprangen hinzu und brachten die vier Geiseln in Sicherheit, drei aus dem Wagen und den durch einen Brustschuss verletzten Kassierer Rolf L., den der Räuber bis zuletzt bedroht hatte.
Dieser Einsatz von Schusswaffen mit Tötungsabsicht durch die drei MEK-Beamten am 18. April 1974 war das erste Mal, dass in der Bundesrepublik gezielt tödliche Gewalt gegen einen Geiselnehmer angewandt wurde. Innensenator Hans-Ulrich Klose, der kommende Mann der Hamburger SPD, begründete kurz angebunden: „Es ging hier darum, eine Entscheidung zu treffen, die angemessen ist. Das ist geschehen.“
Noch zwei Jahre zuvor hatte ziemlich genau das Gegenteil gegolten: Polizisten im Rechtsstaat durften zwar Gewalt gegen Straftäter einsetzen, wenn sie auf frischer Tat ertappt wurden – aber nur mit dem Ziel, sie handlungsunfähig machen. Denn das war rechtlich gedeckt durch das Prinzip der Nothilfe. Auf keinen Fall aber konnte ein Vorgesetzter einen Beamten anweisen, jemanden vorsätzlich zu töten. Selbst wenn es sich um einen Schwerstkriminellen oder Mörder handelte.
Genau dieses Dilemma beschäftigte am 5. September 1972 die Polizei in München. Palästinensische Terroristen hatten Mitglieder der israelischen Mannschaft im Olympischen Dorf als Geiseln genommen. Ausgebildete Eingreifkräfte gab es nicht, also schickten die Polizeiführer ihre besten Leute, die Sturmgewehre mit Zielfernrohren bekamen. Aber der Befehl, bewusst zu töten, also die Täter gezielt mittels Kopfschüssen auszuschalten, durfte nicht erteilt werden – das wäre rechtswidrig gewesen.
Am Ende wurde doch geschossen, auf dem Bundeswehr-Flugplatz Fürstenfeldbruck bei München, allerdings schlecht vorbereitet und ohne klare Weisungslage für die Schützen. Bei dem Feuergefecht töteten die Terroristen alle verbliebenen neun Geiseln und einen Polizisten; fünf der acht Geiselnehmer starben ebenfalls – ein Desaster.
Als Konsequenz daraus gründete der BGS-Oberstleutnant Ulrich K. Wegener auf Weisung von Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) eine spezielle Antiterrortruppe, die GSG9. Außerdem diskutierte die Innenministerkonferenz erstmals am 21. September 1972 über eine gesetzliche Regelung, durch die gezielte Todesschüsse auf Befehl zulässig werden könnten.
Die Mühlen der Gesetzgebung in Deutschland mahlten auch schon in den 1970er-Jahren langsam. Daher lag erst Anfang 1974 im Rahmen des Entwurfes für ein einheitliches Polizeigesetz von Bund und Ländern eine Formulierung für das juristisch und ethisch schwierige Problem vor, dass Behörden Tötungen anordnen können sollten.
In den entsprechenden Abteilungen der Länderinnenministerien und den Polizeiführungen der Großstädte ging die Diskussion über das angemessene Vorgehen jedoch auch ohne gültige gesetzliche Regelung weiter. Zumindest die praktisch orientierten Fachleute waren sich rasch einig geworden, dass im Falle einer Geiselnahme (bei möglichen gezielten Tötungen ging es seinerzeit nur um solche Lagen, seit den 2000er-Jahren sind drohende Selbstmordanschläge hinzugekommen) das „Problem an Ort und Stelle zu lösen“ sei.
Das war auch die Ansage, die das Hamburger MEK, als eine der ersten polizeilichen Spezialeinheiten nach dem Olympia-Desaster gegründet, von den verantwortlichen Politikern an diesem 18. April 1974 bekommen hatte. Es gelte, „Rundreisen“ des oder der Täter mit Unbeteiligten um fast jeden Preis zu verhindern; die Entscheidung solle möglichst „am ersten Tatort gesucht“ werden.
Dieser erste Tatort in Hamburg war die Zweigstelle St. Georg der Commerzbank am Steindamm 50, keine 500 Meter vom Hauptbahnhof entfernt. Gegen 12.23 Uhr an diesem kühlen Frühlingsdonnerstag war ein mit einem Tuch maskierter und einer Pistole bewaffneter Räuber in die Bank eingedrungen. Ein Angestellter hatte den stillen Alarm ausgelöst, doch der Täter hörte das Martinshorn des ersten heranbrausenden Streifenwagens.
Darin saßen die Beamten Peter B. und Uwe F. Sie stoppten schräg vor der Eingangstür, sprangen heraus und liefen zum Eingang. Doch als sie den Schalterraum betraten, schoss der Bankräuber ohne zu zögern. Er traf Peter B. in den rechten Arm, aber der 31-Jährige konnte sich noch im Eingangsbereich fallen lassen und so in Sicherheit bringen.
Sein Kollege Uwe F. suchte Schutz hinter einer Säule im Schalterraum, doch fünf Kugeln aus der Waffe des Täters fetzten Risse in die Säule. Dann, nach einer winzigen Pause, traf ein sechstes Geschoss den Polizeibeamten in den Rücken. „Er röchelte und kippte wie ein Stein um“, sagte ein Augenzeuge später. Der Bankräuber murmelte nach dem Schuss immer wieder: „Der hat selbst Schuld, selbst Schuld.“
Nun begann ein stundenlanges Spiel. Verschiedene Beamte bis hinauf zum Kripochef telefonierten mit dem Täter; speziell geschulte, psychologisch versierte Verhandler gab es noch nicht. Das inzwischen angerückte MEK befreite den Filialleiter aus einem Nebenraum der Bank, sodass es einen Zeugen gab, der von den Zuständen berichten konnte.
Der Räuber verlangte in gebrochenem Deutsch: „Ich will haben Fahrzeug mit Funk und Fahrer.“ Ein weißer, viertüriger Ford wurde um 15.40 Uhr vor die Bank gestellt, der Fahrer trug nur eine Badehose. Acht Minuten später trat die erste Geisel heraus. Die Frau setzte sich in den Wagen und besprühte die Scheiben von innen mit schwarzer Farbe, dann ging sie in die Commerzbank zurück. Um 15.56 Uhr kamen sie und zwei männliche Geiseln wieder heraus und setzten sich in den Wagen. Kurz darauf folgte der Täter, der Rolf L. das Messer an den Hals hielt.
Im selben Moment erhielt ein MEK-Mann über Funk eine Anweisung, die wenige Sekunden später umgesetzt wurde: der erste „finale Rettungsschuss“ in der Geschichte der Bundesrepublik, auch wenn es diesen eigenwillig gedrechselten Begriff 1974 noch gar nicht gab.
Innensenator Klose und Hamburgs Polizeipräsident lobten den Einsatz ihrer Beamten und kümmerten sich ansonsten um die Hinterbliebenen des toten Uwe F. Für den Täter, laut einem Studentenausweis der 28-jährige Humberto Emilio Martin-Gonzales aus Kolumbien, interessierte sich niemand. Ein Mörder und Geiselnehmer war bei der Rettung vierer Unschuldiger umgekommen – nicht mehr und nicht weniger.
Offen Fragen blieben trotzdem: Wessen Kugel verletzte Rolf L.? War der erste Schuss auf den Kopf des Täters tödlich oder konnte doch er noch auf seine Geisel gefeuert haben? Spezialeinheiten der deutschen Polizei zogen daraus Konsequenzen: Finale Rettungsschüsse werden seitdem möglichst nur mit Waffen abgegeben, die den Täter tatsächlich unmittelbar töten – in der Regel mit militärischen Scharfschützengewehren und angepasster Munition.