Normalerweise ist ein solches Urteil niederschmetternd, für den Angeklagten wie für seine Angehörigen: 20 Jahre Gefängnis ohne die Aussicht auf vorzeitige Entlassung, gerechnet ab dem Tag der Verkündung. Normalerweise.
Doch als am 1. Oktober 1946 der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg genau dieses Strafmaß gegen Baldur von Schirach verkündete, den langjährigen „Reichsjugendführer“ der NS-Bewegung, da reagierte seine Ehefrau Henriette von Schirach mit einem Freudenschrei, der im ganzen Haus in Nürnberg zu hören war, in dem sie sich aufhielt.
20 Jahre – das war natürlich eine lange Zeit, besonders für eine damals gerade erst 33-jährige Frau und ihren 39-jährigen Mann. Aber eben kein Todesurteil, mit dem die Tochter von Hitlers „Leibfotografen“ Heinrich Hoffmann offenbar gerechnet hatte. Nach der zu erwartenden Entlassung 1966 könnten der Familie von Schirach nach menschlichem Ermessen noch einige gemeinsame Jahre vergönnt sein.
Henriette von Schirach hatte wohl nicht zu hoffen gewagt, dass die Verteidigungsstrategie ihres Mannes bei den Richtern verfangen würde. Er hatte darauf gesetzt, „sich moralisch für schuldig zu erklären und sich auch als ehemaligen Antisemiten zu bekennen, hingegen frühes Wissen über die Schoah ebenso abzustreiten wie persönliche Einbindung in die Deportation und Verfolgung von Juden“, schreibt der Wiener Zeithistoriker Oliver Rathkolb in seiner sehr lesenswerten Biografie „Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler“, erstaunlicherweise der ersten wissenschaftlich fundierten Biografie des jüngsten Funktionärs in der Spitze der NS-Bewegung (Albert Speer war zwei Jahre, Reinhard Heydrich ein Jahr älter).
Drei der vier Großeltern Schirachs waren US-Amerikaner – obwohl er also väterlicherseits aus einer sorbischen Adelsfamilie stammte, war er zugleich durch seine Herkunft fast so etwas wie ein Kosmopolit. Schon mit 18 Jahren trat er – bald nach der Neugründung der NSDAP – mit Wirkung vom 29. August 1925 der NSDAP bei; seine Mitgliedsnummer lautete 17.251. Schon damals war der materiell wie intellektuell in großbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsene Gymnasiast überzeugter Antisemit. Er blieb es bis mindestens 1945.
Am 29. Oktober 1925 traf der junge Nationalsozialist zum ersten Mal den Anführer der braunen Bewegung: Hitler war zu Besuch ins Haus seines Vaters Carl von Schirach in Weimar gekommen. In seinen Memoiren „Ich glaubte an Hitler“ schrieb Baldur 1967, der Gast „hörte aufmerksam zu, fiel niemandem ins Wort. Es war eine völlig ungezwungene Teestunde“. Der Anführer der Splitterpartei aus München fragte den Sohn des Hauses, „was ich werden wolle. Ich hatte damals noch anderthalb Jahre bis zum Abitur und wollte dann studieren. Hitler sagte: ,Wenn Sie studieren, dann kommen Sie doch zu mir nach München.’“ Rathkolb urteilt treffend: „Ein Satz, der das Leben Schirachs bestimmen sollte.“
Doch zunächst sah es nicht danach aus. Schirach drängte nach seinem Abitur in die persönliche Nähe Hitlers, doch vorerst wimmelte ihn einerseits der „Sekretär des Führers“ Rudolf Hess ab, während andererseits auch die Familienbekannte (und enge Hitler-Freundin) Elsa Bruckmann keine erneute Begegnung arrangieren konnte.
Baldur begann ein Studium der Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte in München, doch die Universität war allenfalls Nebensache für ihn: „Im Zentrum stand bereits seine Parteiarbeit für die nationalsozialistische Bewegung.“ Mitte November 1927 erreichte der Student, dass Hitler ihn zu einem Gespräch in seine Wohnung in der Thierschstraße mitnahm und versprach, ihm einen Auftritt vor Studenten zu verschaffen, im Hofbräuhaus. Die Rede war ein großer Erfolg, „und Schirach hatte von nun an bei Hitler einen Stein im Brett: Er war der Mann, der ihm die Studenten gebracht hatte.“
Nun kam die Karriere des gerade erst 20-Jährigen in Gang: Er wurde Chef des NS-Studentenbundes in München, bald auch im gesamten Reich, 1931 Chef der Hitlerjugend (HJ), 1933 dann „Reichsjugendführer“. Zwischendurch hatte er Henriette geheiratet, die über ihren Vater zum engsten Hofstaat um den „Führer“ zählte. Die beiden waren so etwas wie das Traumpaar des Dritten Reiches, noch bevor die späteren Konkurrenten Speer und Heydrich in den engsten Kreis vorstießen.
Ab 1933 organisierte Baldur von Schirach ebenso effizient wie rücksichtslos den Umbau der HJ zur Staatsjugend, der deutlich mehr als 90 Prozent aller Jugendlichen angehörten. Sowohl Jungen wie Mädchen wurden hier im Sinne der NSDAP indoktriniert, ohne dass die Eltern viel dagegen tun konnten. Ziel war es, die nächste Generation frühzeitig zu völlig willenlosen Hitler-Anhängern zu machen.
Nach einem eher kurzen Kriegseinsatz 1940 nahm Schirach die nächste Karrierestufe, gab die HJ ab (für die er langsam zu alt wurde) und wechselte als Gauleiter nach Wien. Seinen Rang als Reichsleiter in der hierarchiesüchtigen NSDAP behielt er. Als faktischer Herrscher über „Großdeutschlands“ zweitgrößte und zweitwichtigste Stadt stand er nun endgültig in der Konkurrenz zum Chefpropagandisten und Berliner Gauleiter Joseph Goebbels.
Der Konflikt eskalierte schließlich bei den Bemühungen beider Männer, „ihre“ Stadt zuerst „judenfrei“ zu machen. Doch während sich Goebbels mit seinen Deportationsplänen Ende 1940 nicht durchsetzen konnte, gelang dies dem neuen Wiener Gauleiter: Hitler ordnete den Abtransport aller Juden aus der österreichischen Metropole noch während des Krieges an. 65.000 Menschen sollten ins besetzte, aber längst überfüllte Polen geschafft werden. Was in den dortigen Gettos mit ihnen geschehen würde, interessierte weder Goebbels noch Schirach. Von den aus Wien deportierten Menschen überlebten nur rund 2000.
Genau zeichnet Rathkolb nach, wie der Konflikt immer weiter eskalierte; die Goebbels-Tagebücher enthalten dafür viele Indizien. Es ging meist um Schirachs Kulturpolitik, die Goebbels als Einmischungen verstand. Mehrfach stutzte er ihn zurecht, ohne Hitler einzubeziehen, weil er wohl mit einer Attacke über den Diktator selbst noch gescheitert wäre. Die Überlegung, den früheren HJ-Chef als Gauleiter nach München zu versetzen, hatte Anfang Mai 1943 nur wenige Tage Bestand. Zufrieden diktierte Goebbels: „Von Schirach hat der Führer eine schlechte Meinung. Schirach ist in Wien verwienert worden.“
Ende Juni 1943 kam es dann zum Bruch zwischen Hitler und den Schirachs. Der Anlass war Henriette von Schirachs Kritik an Judenmisshandlungen in Amsterdam. Aber schon vorher war Baldur mit dem Diktator über Wiener Fragen aneinander geraten. Von diesem Tage an hatte das Paar keinen Zugang mehr zum innersten Kreis. Oliver Rathkolb bringt die Entwicklung auf den Punkt: Aus dem „jungen Kronprinzen“ war ein „Ablösekandidat“ geworden.
Vor Gericht in Nürnberg schilderte Baldur von Schirach den Konflikt ausführlich – und stellte sich so als vermeintlicher Dissident in der Spitze des Dritten Reiches dar. Zusammen mit der Anerkennung moralischer Schuld und seiner angeblichen Unkenntnis des Massenmordens im Osten reichte das, ihm den Strang zu ersparen. Ähnlich trickste Albert Speer, der seine führende Rolle bei der „Entjudung“ Berlins geheim halten konnte, dafür einen angeblichen Plan erfand, Hitler umzubringen, und ebenfalls moralische Schuld für den Holocaust übernahm. Beide wurden mit dem (gemessen an ihren Verbrechen) milden Urteil 20 Jahre bestraft.
Speer und Schirach kamen auch 1966 gemeinsam frei. Doch während der einstige Leibarchitekt eine erfolgreiche Vereinigung mit seiner Familie feierte, hatte sich Henriette 1950 von ihrem Mann scheiden lassen. Speer wurde Bestseller-Autor, Schirachs Buch fand keine nennenswerte Resonanz. Während Speer 1981 in London als begehrter Gesprächspartner in einem Hotelzimmer starb, lebte Schirach die letzten Jahre bis zu seinem Tod 1974 in einer heruntergekommenen Pension in Kröv an der Mosel. Sein Grab wurde nach 40 Jahren Liegezeit (normal ist in Deutschland die Hälfte) 2014 eingeebnet.
Oliver Rathkolb: „Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler“. (Molden-Verlag, Wien. 351 S., 32 Euro).
Sie wollen Geschichte auch hören? „Attentäter“ ist die erste Staffel des WELT-History-Podcasts.
Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.