Als polnische Truppen im Mai 1920 in die ukrainische Metropole Kiew einmarschierten, war die Reaktion der Bewohner verhalten, ja fast gleichmütig. Schließlich war es das elfte Mal seit 1918, dass die Besatzungstruppen in der Stadt wechselten. Und es sollte nicht der letzte Einmarsch bleiben. Denn in dem Bürgerkrieg, der nach der Machtergreifung der Bolschewiki in Russland 1918 ausbrach, gab es keine Fronten in herkömmlichen Sinn. Bewaffnete unterschiedlichster Provenienz zogen durchs Land und drangsalierten eine Bevölkerung, denen jegliche Ordnungsstrukturen abhanden gekommen waren.
Man hat den Russischen Bürgerkrieg daher auch als ein Laboratorium der entgrenzten Gewalt beschrieben, in dem Revolution, Terror, Beutezüge, Bauernaufstände, Seuchen und Hungersnöte bis zu 25 Millionen Opfer gefordert haben. Wenn andere Quellen von rund zehn Millionen Toten sprechen, sagt das einiges über die Quellenlage aus, die wiederum das allgemeine Chaos jener Jahre spiegelt.
Diesem diffusen „Konglomerat der Konflikte“ hat der Wiener Historiker Hannes Leidinger in seinem neuen Buch „Der Russische Bürgerkrieg 1917–1922“ einen Schwerpunkt gewidmet: „Auf den Straßen herumliegende Leichen verstörten bald niemanden mehr. Ebenso wenig schockierten Morde, die bisweilen aus geringfügigstem Anlass begangen wurden. Ein Menschenleben zählte so gut wie nichts.“ Schnell überstieg die Zahl der Opfer die des Ersten Weltkrieges, in dem das Zarenreich bis zum Sturz Nikolaus II. rund 1,4 Millionen Tote zu beklagen gehabt hatte.
Gemeinhin wird der Bürgerkrieg in drei Phasen unterteilt. Nachdem die Mittelmächte nach dem Waffenstillstand 1917 weite Gebiete bis in den Kaukasus hinein besetzt hatten, konnten sich dort die Weißen, wie die Gegner der Roten gemeinhin genannt werden, sammeln. In der zweiten Phase ab 1919 übernahmen Einheiten der Entente die Rolle, die die deutschen und österreichischen Truppen bis Ende 1918 gespielt hatten. Doch der Vormarsch der weißen Generäle wie Alexander Koltschak oder Anton Denikin scheiterte nicht zuletzt daran, dass sie sich als Konkurrenten verstanden und ihre Offensiven unkoordiniert vortrugen, sodass die von Leo Trotzki organisierte Rote Armee sie einzeln zurückschlagen konnte.
Ab 1920 ging die Rote Armee schließlich an allen Fronten in die Offensive. Zwar erlitt sie gegen Polen, dessen Armeen nach Weißrussland und in die Ukraine eingedrungen waren, im August 1920 vor Warschau eine schwere Niederlage. Aber bis 1924 gelang der Sowjetmacht die – höchst blutige – Wiedereinsammlung aller Gebiete, die einst zum Zarenreich gehört hatten, mit Ausnahme Finnlands, Polens und der baltischen Staaten.
Leidinger stellt den Begriff des „Bürgerkriegs“ in Frage, schließlich kämpften nicht einfach nur verschiedene Fraktionen eines Gemeinwesens, sondern auch Nationalitäten, auswärtige Mächte und Klassen im Sinn der bolschewistischen Ideologie. So waren es nicht einfach nur Kriegszüge regulärer Armeen, die diesen Konklikt prägten. „Letztlich radikalisierten sich viele Parteien, Nationalitäten, Konfessionen und Gesellschaftsgruppen“, schreibt Leidinger. „Alte und neue Feindbilder, von Verachtung erfüllte Weltdeutungen, hasserfüllter Revanchismus, extreme politische Programme, menschenverachtende Ideale und rücksichtslose Strategien zu ihrer Durchsetzung trugen zur Entgrenzung der Gewalt bei.“
Diese Ideen und Emotionen entluden sich in einem Land, dessen Industrieproduktion 1920 auf 20 Prozent des Vorkriegsniveaus von 1914 gefallen war. Marodierende Truppen oder Banden zerstörten die Ernten, sodass die Versorgung mit Nahrungsmitteln zusammenbrach, die auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen oder nur noch im Tausch gehandelt wurden. Denn die Inflation fraß Löhne und Vermögen.
In den Städten brach die soziale Infrastruktur vollends zusammen. Wasserleitungen barsten, Hinterhöfe wurden zu Aborten, Ungeziefer vermehrte sich explosionsartig. Zwischen 1918 und 1920 sank die Bevölkerungszahl Moskaus um 50, die Petrograds (heute: St. Petersburg) sogar um 75 Prozent. Doch auch auf dem Land gab es keine Rettung. Allein in der Provinz Samara kämpften im Herbst 1921 zwei Millionen Menschen mit dem Tod durch Hunger oder Krankheit.
Leidinger verwirft die häufig angeführten Thesen von der „Verrohung der Russen“, die ein Ergebnis der latenten Reichskrise seit Ende des 19. Jahrhunderts gewesen sei. Vielmehr entluden sich gerade an der Peripherie des Landes ethnische und konfessionelle Antagonismen in blutigen Exzessen. Der Historiker sieht die Ursachen der gesteigerten Aggression in dem allgemein tobenden Existenzkampf, „der inmitten eines weitreichenden Staatszerfalls wenig Platz für geltende Ordnungsvorstellungen ließ“.
Ein Krieg „aller gegen alle“ war die Folge, in dem sich die Grenzen zur allgemeinen Gesetzlosigkeit auflösten. „Bandenwesen, Rebellenscharen und die Macht der Warlords sind Auswüchse dieser Anarchie“, die allerdings auch traditionelle Gewaltmuster eskalieren ließen. Der tief verwurzelte Antisemitismus in den Städten und auf dem Land entlud sich in zahlreichen Pogromen.
Dass die Bolschewiki schließlich als Sieger aus dieser Gewaltspirale hervorgingen, erklärt sich nicht nur durch die Inkompetenz ihrer weißen oder nationalistischen Gegner. Im Januar 1918 gegründet, zählte die Rote Armee 1919 bereits 1,5 und 1920 fünf Millionen Mann. Trotzki legte dabei eine bemerkenswerte Lernfähigkeit an den Tag, setzte er doch nicht allein auf das richtige revolutionäre Bewusstsein der Truppe, sondern nahm fast 50.000 Offiziere und 215.000 Unteroffiziere der zarischen Armee in den Dienst.
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Die Wahl von Offizieren, ein Relikt der Revolution, wurde abgeschafft. Disziplin mit brutaler Härte durchgesetzt. Meuterer wurden standrechtlich erschossen. Parallel dazu sorgten Kommissare für die weltanschauliche Schulung der Armee, die damit auch zu einer riesigen Bildungsanstalt wurde. Auch verfügten die Bolschewiki über den Vorteil der inneren Linie. Während ihre Gegner von der dünn besiedelten Peripherie aus angriffen, behielten sie den Zugriff auf die wirtschaftlichen und demografischen Ressourcen Russlands und konnten mit der Eisenbahn große Verbände in relativ kurzer Zeit verschieben.
Über alle Gewalttaten stand Lenins Regime wenigstens für das Versprechen einer neuen Ordnung mit Landreform und nationaler Selbstbestimmung, während die weißen Generäle das ruinierte Regime der zarischen Autokratie repräsentierten und zudem mit auswärtigen Mächten einen Pakt gegen die eigene Nation eingegangen waren. Gegen Andersdenkende agierte die Ende 1917 gegründete Tscheka auf blanken Terror, die 1921 bereits 137.000 Mitarbeiter zählte.
Die rote Geheimpolizei setzte in Sachen Brutalität neue Maßstäbe. Massenerschießungen waren noch die einfachste Übung ihres Repertoires. Gefangenen wurden Arme und Beine abgesägt, Schädel wurden mit Lederriemen zertrümmert, Käfige voller Ratten, befestigt an den Körpern der Gequälten, erhitzte man, damit sich die nach einem Fluchtweg suchenden Tiere durch die Eingeweide der Opfer fressen mussten. Andere übergoss man im Winter mit Wasser, damit sie zu Eis erfroren, schreibt Leidinger. Damit erprobte die Tscheka das Repertoire, mit dem sie dem totalitären Staat Josef Stalins das stählerne Korsett verschaffen sollte.
Hannes Leidinger: „Der Russische Bürgerkrieg 1917–1922“. (Reclam, Ditzingen. 159 S., 14,95 Euro)
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