Westerland. Westerland als das Nizza des Nordens? Noch wildere Pläne verfolgte einst der Lister Bürgermeister Horst Günther Hisam.

Manchmal möchte man dem Sylter Nebel dankbar sein – dann ist weder von Norden noch von Süden, ja nicht einmal in Westerland selbst die groteske Skyline zu sehen, die den Sylter Zentralort seit mehr als 50 Jahren verschandelt. Das 13 Stockwerke hohe Neue Kurzentrum, erbaut zwischen 1966 bis 1969 entzückt vielleicht Retro-Fans, aber kaum Urlauber.

In den Sechzigerjahren hingegen waren Hochhäuser ein Versprechen auf die Zukunft, die Zeitungen schwärmten von einer Abrisswelle („Die Zwiebeltürme sind gefallen“) und versprachen den freien Blick nach Helgoland von Kurzentrum. Charakteristische Altbauten wie die Villa Roth, das Haus Flora oder das Haus Osbourne gingen verloren. Vom Reiz vergangener Tage erzählen nur noch alte Filme und Postkarten.

Sylt: Hochhaus hätte Westerland in Schatten gehüllt

Doch es hätte alles noch viel schlimmer kommen können: Denn Westerland träumte einst davon, das „Nizza des Nordens“ zu werden: Alles sollte groß, modern und zeitgeistschön werden. Der Stuttgarter Bauunternehmer Bense, der zuvor das Kurzentrum errichtet hatte, wollte Westerland an der Stelle, wo heute die Sylter Welle steht, ein doppelt so hohes Appartementhaus in den Sylter Sand setzen.

Ein Wolkenkratzer, nach ersten Planungen 100 Meter hoch, später auf 80 Meter abgespeckt, mit 751 Appartements für 3000 Gäste sollte entstehen, 1500 Autos in einer gigantischen Garage verschwinden. 100 Millionen Mark wollte der Stuttgarter Bauunternehmer investieren, 22 Millionen sollte allein das neue Kurmittelhaus kosten. Bis Oktober 1970 hatte Bense schon 250 der nie gebauten Appartements verkauft. Das Haus wäre so hoch geworden, dass es Teile Westerlands am Nachmittag in Schatten getaucht hätte.

Stelzenhäuser für List

Noch wildere Pläne verfolgte der Bauunternehmer und Lister Bürgermeister Horst Günther Hisam. Er wollte zwischen der Siedlung „Sonnenland” und List gleich einen ganz neuen Stadtteil errichten – im Wattenmeer sollten auf Stelzen Hochhäuser für bis zu 5000 Urlauber entstehen. Das Großprojekt mit dem Namen „Hunningen-Sand“ umfasste Hotels, Pensionen, Appartements und einen Wassersporthafen. List wollte uns sollte im aufgespültem Vorland der Blidselbucht Westerland Konkurrenz machen. Um die Kurgäste schnell ans Meer zu bringen, sollte eine Seilbahn bis zum Weststrand gebaut werden.

Diese komplette Zerstörung der Insel scheiterte, weil immer mehr Insulaner und Gäste Front gegen die immer verrückteren Pläne des „Nizza des Nordens“ machten. Bernhard Grzimek, damals Beauftragter der Bundesregierung für Naturschutz, schrieb dem auf Sylt (ausgerechnet in einem Haus von Hisam) urlaubenden Kanzler Willy Brandt und machte darauf aufmerksam, dass Sylt für Fehlentwicklungen im Naturschutzes stehe.

Spekulation erfasst Sylt

Vor allem die Pläne für Atlantis empörten die Insulaner. Die Gegner sammelten über 18.000 Unterschriften, 1000 Menschen kamen im November 1971 zu einer Demonstration. Auch in den überregionalen Medien wuchs die Kritik: „Und nun, so scheint’s, wachsen den Leuten von Sylt die Hochhäuser über den Kopf. Beton nimmt ihnen den Raum, Autoabgase nehmen die Luft weg. Kleine Hotels werden abgerissen, um Platz für Appartementhäuser zu gewinnen. Die Nächte werden lärmender. Die Unberührtheit geht verloren“, mäkelte die „Zeit“ 1971.

Und der Schriftsteller Walter Jens seufzte: „Ach Sylt, schön muss es hier einmal gewesen sein, auch im Sommer, bevor die Spekulation über die Kampener Heide und der Kapitalismus, Anschauungsunterricht erteilend, über das Land zwischen den Meeren triumphierten.“

Trotz dem anschwellenden Klagegesang stimmten die Westerländer Stadtvertreter immer wieder für den Bau von Atlantis – obwohl die überwältigende Mehrheit im Ort dagegen war. Auch Ernst-Wilhelm Stojan, bis 1973 Bürgervorsteher in Westerland, bekämpfte das Großprojekt. Er werde nicht seine Hand heben, „um den Sterbeprozess einer Stadt einzuleiten“, wetterte er.

Sylter Bürger dagegen, Politik dafür

Doch er blieb in der Minderheit: Gegen den erbitterten Widerstand der Bürger, der Kommunalaufsicht und der Industrie- und Handelskammer winkten die Stadtvertreter am 24. November 1971 in einer stundenlangen Sitzung das Mammutprojekt durch. Die Volksvertreter, die hier nicht das Volk vertraten, fürchteten Regressforderungen in Millionenhöhe durch Investor Bense.

Fünf Monate später versenkte dann die Landesregierung Atlantis: Der Westerländer Bebauungsplan 25 sei mit der Zielsetzungen der Landesregierung auf dem Gebiet des Fremdenverkehrs auf der Insel Sylt nicht zu vereinbaren, hieß es aus Kiel. Maßgebend waren „Gesichtspunkte des Umweltschutzes, der mangelnden Verkehrserschließung und die Gefahr einer Überlastung des Naturraumes.“

Claus Andersen, der Vorsteher des Amtes Landschaft Sylt, kommentierte die Entscheidung des Ministerpräsidenten Gerhart Stoltenberg (CDU), dass nun jede Bebauung auf den Prüfstand gehöre. „Jede Plan- und Zügellosigkeit ist unverantwortlich und schadet der Bevölkerung.“ Auch einen Bebauungsplan für neue Baugebiete in Morsum kippte die Landesregierung im Oktober 1972.

Zu der Zeit waren auf Sylt fast 4000 Ferien- und Zweitwohnungen in Planung. „Es muss jedem Sylter klar sein, dass ein fortschreitender Bauboom, wie er sich verstärkt an der Ostküste abzeichnet, die Existenzgrundlage der Insulaner vernichtet“, warnte Andersen 1972. Wenig später starb auch das Projekt Hunningen-Sand bei List.

„Atlantis ist tot – es lebe Sylt“

Der ganz große Bauboom, der die Insel in den Sechzigern erfasst hatte, er ebbte ab, gestoppt wurde er nicht. Die Probleme sind geblieben: Einheimische werden verdrängt, Neubauten nützen nur den Gästen, nicht den Einheimischen. Stojan erinnert sich in einem Buch kurz vor seinem Tode 2018, dass trotz des Aus für Atlantis auf der Insel nicht umgedacht wird: Zwar sei das gigantische Vorhaben verhindert worden, aber es entstanden „enorm viele kleinere Bauten mit so viel Zweitwohnungen, dass wir heure unseren Einwohnern und Arbeitskräften keinen ausreichenden und vor allem bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellen konnten.“

Zu Atlantis schreibt Stojan: „Noch heute bin ich fassungslos, dass die träumerischen und illusionistischen Versprechungen des Bauherren Bense zur Entwicklung zu einem Weltbad uns seine „Zuwendungen“ stärker waren als klare Fakten.“ Ein Sylter kommentierte des Ende von Atlantis in den Kieler Nachrichten damals so knapp wie treffend: „Atlantis ist tot – es lebe Sylt.“