1 Autor und Genese des Werkes

Auguste Comte (1798–1857) ist der Erfinder des Wortes Soziologie und der eigentliche Begründer dieser ‚Wissenschaft von der Gesellschaft‘. Allerdings kann man ihn kaum als Klassiker seines Faches bezeichnen, denn Comte gilt als verschrobener Sonderling. Finden seine frühen Arbeiten, in denen er seine als ‚soziale Statik und Dynamik‘ moderner Gesellschaften angelegte Soziologie entwickelt, noch Anerkennung, so gilt sein religiöses Spätwerk als skurril und ridikül. Entsprechend selten wird es thematisiert.

Der aus einer kleinbürgerlichen Beamtenfamilie im eher königstreuen Montpellier stammende Comte, der von seiner gläubigen Mutter katholisch erzogen wurde, sich aber schon in seiner Jugend von Religion und Kirche lossagte, wurde 1817 Sekretär des Grafen Henri de Saint-Simon (1760–1825). Hier kam er mit soziologischen Fragestellungen und dem Plan eines auf den Naturwissenschaften und dem produzierenden Gewerbe aufruhenden Nouveau Christanisme in Berührung, der in der Lage sein sollte, die seit 1789 unter permanenter Unruhe leidende französischen Gesellschaft durch die gleichzeitige Beendigung und Vollendung der Revolution (terminer la révolution) dauerhaft zu befrieden. Mehrere Schriften Saint-Simons gehen wesentlich auf Comte zurück, der in dieser Zeit auch sein berühmtes Dreistadien-Gesetz aufstellte, dem zufolge die Menschheitsgeschichte – ähnlich wie die geistige Entwicklung des Einzelnen – vom ‚theologisch-fiktiven‘ über das ‚metaphysisch-abstrakte‘ zum ‚positivistisch-wissenschaftlichen‘ Stadium fortschreitet, in dem sie ihre Vollendung findet.

Nach dem Bruch mit Saint-Simon begann Comte, mit seiner Frau Caroline Massin in ungesicherten Verhältnissen lebend und schweren körperlichen und seelischen Krisen ausgesetzt, mit der Ausarbeitung seiner positivistischen Soziologie, die er zwischen 1830 und 1842 in den sechs Bänden des Cours des philosophie positive vorlegte. Darin beschrieb er die Gesellschaft in Anlehnung an Einsichten der Biologie als einen sich historisch entwickelnden sozialen Organismus, der seine Individuen vor allem durch zunehmende Arbeitsteilungsprozesse miteinander verbindet. Dabei betonte er vor allem den organischen Vorrang des Ganzen vor seinen Teilen, den er gegen den rationalistischen Gestaltungsoptimismus der Aufklärungsphilosophie in Stellung in Stellung brachte.

Im Oktober 1844 lernte Comte die fünfzehn Jahre jüngere tuberkulosekranke Clothilde de Vaux kennen, der er im Mai 1845 seine Liebe gestand. Er geriet in dieser Zeit in eine mystisch-religiöse Verzückung und schrieb ihr täglich zwei Briefe, bevor sie im April 1846 starb. Nach ihrem Tod richtete er zeitlebens tägliche Gebete an sie. Ihr verdankte er, wie er erklärte, den Weg von der Begründung einer wissenschaftlichen Soziologie zur Etablierung einer neuartigen Religion des Grand-Ȇtre der Humanité und der kultischen Verehrung des Altruismus gefunden zu haben. Diese Religion, der Comte sein gesamtes Spätwerk widmete, galt ihm als das einzige System, welches als „endgültige Synthese“ (Comte 1891, S. 32) der bisherigen Entwicklungsgeschichte der Menschheit „die Ordnung mit dem Fortschritt gründlich in Einklang zu bringen vermag“ (ebd.). Comte wollte damit eine eigene positivistische Kirche als Nachfolgerin der katholischen Religion begründen und europaweit etablieren, wobei er sich selbst als den Hohepriester dieser Religion ausrief. Ihre endgültige Entfaltung scheint er noch für das späte 19. Jahrhundert erwartet zu haben.

Nachdem das Religionsmotiv schon im sechsten Band des Cours eine wichtige Rolle gespielt hatte, begann Comte im Jahr 1844, sein „umfassendes religiöses Werk“ (ebd., S. 13), den zwischen 1851 und 1854 in vier Bänden erscheinenden Système de politique positive zu konzipieren. Es steht unter dem Motto ‚Die Liebe als Prinzip, Die Ordnung als Grundlage, der Fortschritt als Ziel‘ und erklärt das ‚Für andere leben‘ zur zentralen Maxime. Nach der Fertigstellung des zweiten Bandes des Système begann Comte – nach dem Vorbild des Catéchisme des industriels Saint-Simons – mit der Arbeit am Catéchisme positiviste, den er zwischen Juli und September 1852 niederschrieb und der im Oktober in etwa 1000 Exemplaren erschien. Im Jahr 1859, zwei Jahre nach seinem Tod, erschien eine zweite, von Pierre Lafitte (1823–1903) besorgte Ausgabe, die den ursprünglichen Text unverändert ließ, aber diejenigen Umstellungen in der Reihenfolge und der Anzahl der einzelnen Kapitel vornahm, die Comte 1854 in der Vorrede zum vierten Band des Système angekündigt hatte. Diese zweite Ausgabe, die bereits 1858 in englischer Sprache erschien, wurde 1891 zum ersten und einzigen Mal auch in einer deutschen Übersetzung vorgelegt. Sie erlebte bis heute keine weiteren Auflagen.Footnote 1

2 Zentrale Inhalte und Aussagen des Werkes

Comte bezeichnet seinen Catéchisme als „kleine Nebenarbeit“, um seine Religion des Grand-Ȇtre „wahrhaft volkstümlich“ zu machen (1891, S. 13). Nach einer ausführlichen „Vorrede“ (ebd., S. 3–42) gliedert sich der aus dreizehn Unterredungen zwischen dem ‚Weib‘ und dem ‚Priester‘ bestehende Text in drei Teile, die von einer Einleitung und einem Schluss gerahmt werden. Den beiden Gesprächen der Einleitung (ebd., S. 43–75, mit den Titeln: „Allgemeine Theorie der Religion“ und „Theorie der Menschheit“) folgen im ersten Teil drei Gespräche unter der Überschrift „Die Verehrung“ (ebd., S. 76–151). Der zweite Teil enthält drei Unterredungen unter dem Titel „Die Lehre“ (ebd., S. 152–256). Drei weitere Unterredungen finden sich unter dem Titel „Die Lebensordnung“ im dritten Teil (ebd., S. 257–349). Den Schluss (ebd., S. 350–404) bilden zwei Gespräche unter der Überschrift „Allgemeine Geschichte der Religion“.

Als Katechumene fungiert Clothilde de Vaux. Ihr sei es zu verdanken, dass Comte, wie er schreibt, „der Laufbahn des Aristoteles jene des heiligen Paulus“ habe folgen lassen können und zur „Begründung der allumfassenden Religion“ gelangt sei (ebd., S. 20). Diese sei dazu berufen, die überlieferten Religionen ebenso wie die Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts aus dem gesellschaftlichen Leben zu verdrängen und die sittlichen Grundlagen für die „Wiedergeburt des Westens“ (ebd., S. 8) zu legen. Sie ziele darauf, „jede Einzelnatur zur regeln und alle Individuen zu sammeln“ (ebd., S. 44), wobei die „nothwendige Mitwirkung des Herzens und des Geistes“ (ebd., S. 49) im Zentrum stehen müsse. Für dieses Projekt einer neuen Religion entwirft Comte hier nicht nur ihre Inhalte und Prinzipien; er schreibt auch ihre Organisationsstrukturen und ihre privaten und öffentlichen Kultverrichtungen bis ins Detail penibel und autoritativ fest.

Der Catéchisme richtet sich vor allem an „würdige Proletarier“ und „ungelehrte Frauen“, die Comte für besonders geeignet hält, sich „der beständigen Pflege des Herzens“ anzunehmen (ebd., S. 27). Denn gegen den „Gährstoff umstürzlerischer Ideen“ (ebd., S. 30) helfe nur „das natürliche Vorhandensein der selbstlosen Gemüthsregungen“ (ebd., S. 31), die seit jeher „das weibliche Empfinden“ kennzeichneten; und diesem werde sich, so Comtes Hoffnung, „bald die Einsicht des Proletariats hülfreich zugesellen“ (ebd., S. 30). Comtes Projekt einer spirituellen Reorganisation der Gesellschaft zur gleichzeitigen Beendigung und Vollendung der Revolution setzt also auf die Frauen und die große Masse der Proletarier, die „unseren politischen Streitigkeiten fremd geblieben“ seien, obwohl sie „dem sozialen Ziel der großen Revolution unwillkürlich anhängen“ (ebd.).

Comte distanziert sich dabei von den katholisch-restaurativen Kräften seiner Zeit und ihren „verbrauchten Theorien“ (ebd., S. 7). Diese seien unfähig, „die Führung der praktischen Politik inmitten einer Anarchie zu übernehmen, welche ihr Dasein in erster Linie der endgültigen Ohnmacht der alten Glaubenslehren verdankt“, denn man könne sich nicht mehr „von Anschauungen leiten lassen, welche offenbar nicht bewiesen werden können“ (ebd.). Deshalb habe die westliche Welt „die systematischen Grundlagen ihrer geistigen und sittlichen Gemeinschaft außerhalb jeder Theologie oder Metaphysik zu suchen“ (ebd., S. 10), d. h. im Positivismus, der sich zunächst auf die äußere Ordnung, auf den Bereich der Naturwissenschaften und die im Cours entfaltete Soziologie bezogen habe, nun aber zur positiven Religion ausgebaut werden müsse. Und diese habe nicht nur der Verstandeseinsicht und der Nützlichkeit der Arbeit, sondern auch den sozialen Empfindungen der Individuen zu entsprechen. Die bisherige Religion, die „die Vollendung in eine überirdische Absperrung“ verweise, „die wohlwollenden Neigungen als etwas unserer Natur Fremdes“ behaupte, „im Weibe die Wurzel alles Uebels“ sehe und „die Würde der Arbeit soweit verkennt, daß sie diese auf einen göttlichen Fluch zurückführt“ (ebd., S. 11), müsse deshalb ersetzt werden. An ihre Stelle habe „das edle Streben einer bewiesenen, eine friedliche Thätigkeit leitenden Religion“ (ebd., S. 7) zu treten, die einen „Zustand vollkommener Einheit“ (ebd., S. 44) des individuellen wie des sozialen Daseins der Menschen anstrebt, „jeden übernatürlichen Glauben verwirft“ (ebd., S. 43) und „jedes Forschen nach sogenannten ersten oder Final-Ursachen“ außerhalb der Grenzen der physischen Welt und der Geschichte der Menschheit für „völlig außerhalb unseres Könnens liegend“ hält (ebd., S. 54).

Im Zentrum dieser Religion müsse das gesellschaftsimmanente Konzept eines kontinuierlich anwachsenden Grand-Ȇtre der Humanité stehen, das Comte als eine in der Gesellschaft existierende soziale Entität fasst, dessen

soziologische Geschicke sich fortwährend unter der nothwendigen Herrschaft biologischer und kosmologischer Verhängnisse entwickeln. Um dieses wahre Große Wesen, der unmittelbaren Kraftquelle jedes Einzel- oder Gesammt-Daseins, vereinigen sich unsere Gefühle ebenso unwillkürlich wie unsere Gedanken und unsere Handlungen (ebd., S. 60).

Gemeint ist also nicht ein moralisches Menschheitsideal, sondern die „Vorstellung eines unermeßlichen und ewigen Wesens“ (ebd.), das aus der „Gesammtheit der menschlichen Wesen, der vergangenen, zukünftigen und gegenwärtigen“ (ebd., S. 70) bestehe, dem die gerade lebenden Individuen alles verdankten, was sie sind und haben. Zu dieser Humanité gehören für Comte aber nicht alle Individuen, sondern nur diejenigen, die zu „einer wahrhaften Mitarbeit an dem gemeinsamen Dasein“ (ebd.) fähig waren oder sind.

Da sich die Humanité aus den Mühen und Leistungen der vergangenen Generationen speise, führe der Geschichtsverlauf grundsätzlich dazu, „den Todten eine immer größere Macht über die Lebenden zu verleihen“ (ebd., S. 73). Die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des Grand-Ȇtre sei dabei ausschließlich „von den freiwilligen Diensten seiner verschiedenen Kinder abhängig“ (ebd., S. 75). Die Vollendung des einzelnen menschlichen Lebens sieht Comte dementsprechend in der „Erhaltung und Vervollkommnung des Großen Wesens, das wir erkennen, lieben und dem wir zugleich dienen sollen“ (ebd., S. 172). Denn fern von Selbstkasteiung und Missachtung der eigenen Bedürfnisse bestehe die „Hauptaufgabe des Menschen“ darin, „das soziale Element dem persönlichen gegenüber allmählich überwiegen zu lassen, obwohl letzteres von Natur aus das vorherrschende ist“ (ebd., S. 50).

Für Comte leben die würdigen Menschen, die während ihres Lebens der Humanité gedient haben, im Grand-Ȇtre gewissermaßen weiter durch ihre gesellschaftsdienlichen Leistungen und altruistischen Taten, an die sich ihre Nachfolger dankbar erinnern. In diesem Sinne werden sie Comte zufolge zu Organen der Humanité, sodass für jeden „wirklichen Diener der Menschheit“ gelte, dass er etwas „in dem Herzen und in dem Geiste Anderer fortbestehen läßt“; und dies sei die

würdige, nothwendigerweise unkörperliche Unsterblichkeit, welche der Positivismus unserer Seele zuerkennt, indem er diesen köstlichen Ausdruck beibehält, um die Gesammtheit der geistigen und sittlichen Thätigkeiten zu bezeichnen, ohne jedwede Anspielung auf eine entsprechende Wesenheit (ebd., S. 72).

Mit dem Konzept des Grand-Ȇtre weitet Comte seine soziologische Theorie der Arbeitsteilung, die er in der sozialen Statik und Dynamik des Cours entwickelt hatte, also auf das Gebiet der Emotionalität, der Moral und der Religion aus. Denn weil in hocharbeitsteilig organisierten Gesellschaften jeder Einzelne „in der Regel für Andere arbeitet, so entfaltet diese Daseinsart, richtig gewürdigt, nothwendig die sympathischen Regungen“, wobei „diesen arbeitenden Dienern der Menschheit allein ein vollkommenes und geläufiges Bewußtsein ihres Daseins“ fehle (ebd., S. 61). Die Arbeitsteilung sei nämlich „in Wahrheit stets sozialer Natur“, „da der Antheil des Persönlichen sich in ihr beständig dem untrennbaren Zusammenwirken der Zeitgenossen und Vorfahren unterordnet. Alles an uns gehört somit der Menschheit, denn Alles erhalten wir von ihr – Leben, Vermögen, Talent, Bildung, Zartgefühl, Thatkraft u.s.w.“ (ebd., S. 292). Vor diesem Hintergrund werde das vivre pour autrui für „jedem von uns eine beständige Pflicht, die unerbittlich aus den nicht zu bestreitenden Thatsachen des ‚durch Andere leben‘ folgt“ (ebd., S. 294). Die Religion der Humanité kenne dementsprechend kein anderes Recht als dasjenige, „stets seine Pflicht zu thun“ (ebd., S. 315). Darüber hinaus stellt Comte die Maxime auf: „Der Starke weihe sich dem Schwachen, der Schwache ehre den Starken“ (ebd., S. 322) – und genieße ansonsten „das Glück, welches sich aus einer entsprechenden Unterwerfung und einer begründeten Unverantwortlichkeit ergiebt“ (ebd., S. 331).

Der Catéchisme positiviste entwirft eine neue europaweite république occidentale, die sich „durch gleiche Erziehung, gleiche Sitten und gemeinsame Feste“ (ebd., S. 340) kennzeichnet. In ihr sollen – unter der geistlichen Leitung des in Paris residierenden Hohepriesters – die bedeutendsten Bankiers die jeweiligen weltlichen Regierungen bilden. Die Konzentration der Reichtümer bei den Industriellen wird dabei gutgeheißen. Allerdings sollen sich die Unternehmer unter dem heilsamen Einfluss der spirituellen Macht der Frauen und der Priester als ‚öffentliche Funktionäre‘ verstehen und vorbehaltlos in den Dienst der Humanité stellen. Zu den vornehmsten Aufgaben der positivistischen Priesterschaft gehöre es dabei, dem Patriziat „die berechtigten Ansprüche“ (ebd., S. 329) der arbeitenden Klassen vorzulegen, zu denen Comte vor allem positivistische Bildung, gesicherte Arbeitsplätze und die Möglichkeit zum Erwerb von Eigentumswohnungen rechnet.

Für den neu zu schaffenden Kult des Grand-Ȇtre entwirft der Catéchisme detaillierteste Anweisungen. So soll jedes Individuum täglich drei private, von emotionalen ‚Gefühlsergüssen‘ begleitete Gebete der Dankbarkeit an die Humanité richten. Darüber hinaus will Comte einen ‚positivistischen Jahreskalender‘ mit verschiedenen Festtagen zur Verehrung der Humanité einführen, der das Jahr in 13 Monate gliedert, die jeweils großen weltgeschichtlichen Persönlichkeiten der Humanité gewidmet sind (von Moses über Homer und Aristoteles bis zum französischen Anatomen Xavier Bichat, dem Begründer der Histologie). Zudem stellt er eine ‚positivistische Bibliothek‘ mit 150 Titeln auf, die von allen Gesellschaftsmitgliedern mit Andacht gelesen werden sollen, während alle anderen Bücher vernichtet werden können.

Der Lebenslauf der Einzelnen soll durch neun soziale Sakramente strukturiert werden, die „für jedes Herz eine natürliche Stufenfolge“ schaffen und „unsere wohlbegründete Dankbarkeit“ (ebd., S. 112) zum Ausdruck bringen. Dazu gehört – neben dem Sakrament der Ehe – zunächst die den Ritus der christlichen Taufe ablösende Darbietung (présentation), in der sich die Eltern vor dem positivistischen Priester verpflichten, das neu geborene Kind für den Dienst an der Humanité zu erziehen. Ihr folgt für das männliche Geschlecht zum 14. Lebensjahr die Einführung (initiation) und zum 21. Jahr die Zulassung (admission) zu diesem Dienst. Mit dem 28. Lebensjahr folgt die Einführung in den eigentlichen Beruf (destination), der sich im 42. Jahr die Reifeerklärung (maturité) anschließt. Zum 63. Lebensjahr steht dann der Rücktritt aus dem Berufsleben (retraite) und unmittelbar nach dem Tod das Sakrament der Verwandlung (transformation) an, das die Aufnahme ins Grand-Ȇtre in Aussicht stellt, die dann nach einer entsprechenden Prüfung durch den Priester sieben Jahre nach dem Tod mit dem feierlichen Sakrament der Einverleibung (incorporation) symbolisch vollzogen wird.

3 Einordnung in das Fachgebiet, Rezeption und Würdigung

Der Catéchisme positiviste gehört an prominenter Stelle in das nicht eben kleine Kabinett religiöser Schriften und Theorien des ‚postaufklärerischen‘ 19. Jahrhunderts, das sich – im Vergleich zu den stark kirchenkritisch geprägten Mentalitätslagen der Literatur und Philosophie des 18. Jahrhunderts – nicht nur durch die katholisierende Romantik, sondern auch durch eine breite Präsenz religioider Themen und Motive jenseits des kirchlich verfassten Christentums kennzeichnet. Comtes Catéchisme zählt dabei zu den frühen Versuchen, das Phänomen des Religiösen auf historisch-soziale Gegebenheiten zurückzuführen und eine spezifische Religiosität des Sozialen in den Blick zu nehmen. Anders als den rationalistischen Bemühungen der Revolutionszeit, rituelle Praktiken der überlieferten Religion für die Legitimationsbedürfnisse der neuen Republik in Anspruch zu nehmen (etwa Robespierres ‚Kult des Höchsten Wesens‘ u. a.), geht es Comtes soziologischer Religion des Grand-Ȇtre nicht um ein der Gesellschaft von außen als verpflichtend angesonnenes moralisches Prinzip. Es geht ihr vielmehr um die religiös-moralische Emotionalität, die dem Sozialen in seinen arbeitsteilig vermittelten Verpflichtungs- und Dankbarkeitszusammenhängen innewohnt und die nach einer angemessenen, kultisch und rituell verbindlich organisierten Artikulation drängt. Comte sollte mit diesem Blick auf das Emotional-Religiöse am Sozialen den Diskurslagen der erst Jahrzehnte später entstehenden Religionssoziologie – insbesondere derjenigen Émile Durkheims und seiner Schüler – durchaus den Weg bahnen, auch wenn die zahlreichen Skurrilitäten des Catéchisme einer produktiven Aufnahme dieses zentralen Theoriemotivs der Religionssoziologie im Wege standen. Befremdlich ist dabei vor allem, dass Comte in seinem Spätwerk – gegenläufig zu seiner frühen soziologischen Kritik am revolutionären Artifizialismus und Gestaltungsoptimismus der geschichts- und gesellschaftsvergessenen Aufklärungsphilosophie – ganz selbstverständlich davon überzeugt war, die bisher noch fehlende Religion des arbeitsteilig organisierten Sozialen am Reißbrett der Gelehrtenstube künstlich entwerfen und der Gesellschaft dann religions- und ideologiepolitisch ‚von oben‘ verordnen zu können.