BLOG | Die erste ‚Literaturarchivistin‘: Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach - Klassik Stiftung Weimar
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Die erste ‚Literaturarchivistin‘ Deutschlands

Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach

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Vor 200 Jahren wurde Großherzogin Sophie geboren. Sie erbte Goethes hand­schrift­lichen Nachlass, initiierte die erste Gesamtausgabe seiner Werke und gründete Deutsch­lands erstes forschungsbasiertes Literaturarchiv. Das Goethe- und Schiller-Archiv widmet ihr nun eine Sonderausstellung.

Reine Schreibtischarbeit lag Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach fern, meist stand sie mitten im Geschehen. Vor 200 Jahren in Den Haag geboren, kam die niederländische Prinzessin 1842 als Gattin des Erbgroßherzogs Carl Alexander nach Weimar. Als weltoffene und ästhetisch gebildete Frau begnügte sie sich jedoch nicht mit der traditionellen Rolle der Ehefrau eines Regenten. Aus­ge­stattet mit praktisch geschultem Blick und einem beachtlichen Privatvermögen aus ihrer Heimat, definierte sie die Rolle einer kulturellen Mäzenin neu und hinterließ ihre Spuren weit über die Klassikerstadt hinaus. Als gläubige Christin initiierte und unterstützte sie pädagogische und soziale Einrichtungen. So gründete sie eine Schwes­tern­schaft zur Krankenpflege, die 1886 das von ihr gestiftete, bis heute exis­tierende Weimarer Sophienhaus bezog. Mit privaten Mitteln setzte sie sich für die Restaurierung der Wartburg ein und förderte Künstler und Literaten.

Großherzogin Sophie erbt Goethes handschriftlichen Nachlass

Ihre wirkmächtigste Lebensleistung verdankt sich allerdings einer besonderen Hinterlassenschaft. Im April 1885 – Sophie war bereits 61 Jahre alt – erhielt sie als Alleinerbin den handschriftlichen Nachlass Johann Wolfgang von Goethes. Sein Enkel Walther, der letzte Nachfahre in direkter Linie, übertrug Sophie dieses Erbe tes­ta­men­tarisch „als Beweis tief empfundenen, weil tief begründeten Vertrauens“. Anders als ihr Ehemann Carl Alexander hatte Sophie Goethe nicht mehr persönlich ken­nen­ge­lernt. Neben ihrer persönlichen Vorliebe für seine literarischen Werke erkannte sie auch das politische Potenzial dieser Erbschaft: Im noch jungen Deutschen Reich wurde nationale Identität nicht ohne nationale Literatur gedacht und Goethe als geeignete Projektionsfigur zum ‚Olympier‘ stilisiert. Komplementär zur politischen Hauptstadt Berlin, so Sophies erklärtes Ziel, war Weimar nun als geistiges Zentrum Deutschlands und „als Mittelpunkt aller Bestrebungen“, die „den großen Namen Goethe betreffen“, zu etablieren.

Sophies Pionierarbeit: Goethes Nachlass für die Öffentlichkeit

In der Vergangenheit hatte sich Sophie neben anderen Interessenten um die Übernahme von Goethes Nachlass vergeblich bemüht. Seine Enkel Walther und Wolfgang hatten Sammlungen und Wohnhaus des Dichterfürsten bis zu ihrem Tod verschlossen gehalten. So nahm sich Sophie nach Antritt des Erbes vor, Goethes handschriftlichen Nachlass öffentlich zugänglich zu machen.

Bereits fünf Tage nach der Testamentseröffnung am 17. April 1885 ließ die Groß­herzogin die wertvollen Handschriften ins Weimarer Stadtschloss bringen und begann, sie persönlich in Augenschein zu nehmen. Anfang Mai entwarf sie einen ‚Masterplan‘, in dem sie die vor ihr liegenden Großaufgaben definierte: die Errichtung eines Goethe-Archivs, die wissenschaftliche Aufarbeitung von Goethes Nachlass und die Erstellung einer umfassenden Biografie „als eines wahrhaft monumentalen Werkes“, die den Ausnahmemenschen in seinen Rollen als Dichter, Na­tur­wis­sen­schaft­ler, Staatsmann und bildenden Künstler vorstellen sollte.

Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach: Denkschrift über die Aufgabenstellung des Goethe-Archivs und das in Weimar zu schaffende Zentrum der Goetheforschung vom 5. Mai 1885, Blatt 1, © Klassik Stiftung Weimar – Goethe- und Schiller-Archiv

Zur Unterstützung dieser Vorhaben empfahl sie die Gründung einer Goethe-Gesellschaft als „eine positive und patriotische Aufgabe“ an. Interessiert begleitete sie deren erste Schritte, war doch das Vorbild für diese Vereinigung die bereits 1864 gegründete Shakespeare-Gesellschaft, deren Protektorin sie war.

Das größte Gemeinschaftsprojekt der Germanistik: Die „Weimarer Ausgabe“

Zu Sophies erstem und engstem Berater im Umgang mit dem Goethe-Nachlass wurde Gustav von Loeper, ein hoher Berliner Regierungsbeamter. Sophie hielt ihn für den kompetentesten Goethe-Kenner ihrer Zeit. Mit Blick auf ihr Vorhaben empfahl er ihr, die erste Gesamtausgabe von Goethes Werken, welche die literarischen Arbeiten, die naturwissenschaftlichen Schriften, seine Tagebücher und Briefe umfassen sollte, zu realisieren. Sie sollte als Weimarer Ausgabe in die Geschichte eingehen.

Ein schnell gebildetes Redaktorenteam, bestehend aus renommierten Goethe-Forschern und Editoren wie Erich Schmidt, Herman Grimm und der zum Ar­chiv­di­rek­tor berufene Bernhard Suphan zählten, rekrutierten Wissenschaftler aus allen Teilen des Deutschen Reichs und darüber hinaus. Mit vereinten Forscherkräften gelang es ihnen in beachtlich kurzer Zeit, das nationale Großprojekt in die Praxis umzusetzen: Bereits 1887, zwei Jahre nach Erhalt des Erbes, erschienen fünf Bände der Weimarer Ausgabe. Bis 1919 wurde ganze 143 Bände in vier Abteilungen publiziert, die Goethes literarischen und naturwissenschaftlichen Werke sowie seine Tagebücher und Briefe umfassten. Nie wieder arbeiteten so viele renommierte Gelehrte am bis heute größten Gemeinschaftsprojekt der Germanistik zusammen. Viele Forscher waren in ihren Heimatorten aktiv, einige vor Ort in Weimar. Die meisten der in Weimar Tätigen erachteten ihre Arbeit als äußerst beanspruchend. Die Abgabefristen waren strikt einzuhalten, dadurch erhöhte sich der Leistungsdruck.

Gedruckte Aufforderung zur Abgabe von Manuskripten mit der Handschrift des Archivdirektors Bernhard Suphan, © Klassik Stiftung Weimar – Goethe- und Schiller-Archiv

So erarbeitete Rudolf Steiner in sechs Jahren die beachtliche Anzahl von sechs Bänden der naturwissenschaftlichen Schriften. Nach ebenfalls sechs arbeitsreichen Jahren entschied sich wiederum Eduard von der Hellen seine Mitarbeit an Goethes Briefen zu beenden, um sich anderen Aufgaben zu widmen: Er wollte mehr Zeit für eigene literarische Texte haben. Verständnisvoll genehmigte Sophie sein Ent­las­sungs­ge­such. Mit kräftezehrender Ausdauer koordinierte Archivdirektor Bernhard Suphan alle Arbeitsprozesse vor Ort.

Stets behielt Sophie die Kontrolle über das komplexe Projekt, galt doch ihre Devise „daß die Herrn Redactoren keinen wichtigen Schritt thun ohne mein Vorwissen und mein Einverständniss […].“ Um ihre Ziele zeitnah zu verwirklichen, griff sie hin und wieder selbst in den Redaktionsprozess ein: Herman Grimm etwa musste das von ihm verfasste Vorwort zweimal ändern, um die Goethe-Nachfahren in ein besseres Licht zu rücken. Ganze Handschriften beziehungsweise Passagen aus Goethes erotischen Schriften, etwa den Venetianischen Epigrammen und Römischen Elegien, hielt sie vor der Veröffentlichung zurück. Auf Anraten Gustav von Loepers ließ sie allen nicht an der Weimarer Ausgabe beteiligten Forschern den Zugang zu Goethes Handschriften verwehren, um den Exklusivanspruch der Gesamtausgabe nicht zu gefährden.

Ein Monument für Literatur: Der Bau des Goethe- und Schiller-Archivs

Mit der Schenkung von Schillers Nachlass 1889 und dem Hinzukommen weiterer Bestände ins zwischenzeitlich umbenannte Goethe- und Schiller-Archiv wuchs der Bedarf an einem eigenen Archivgebäude. Sophie entschied sich gegen einen reinen Zweckbau. Neben der Funktionalität setzte sie auf den repräsentativen Charakter des Gebäudes. Finanziert aus ihrer Privatschatulle, ließ sie den Bau nach dem Vorbild des Petit Trianon in Versailles, einem frühklassizistischen Lustschloss, errichten. Ma­jes­tä­tisch thront er über Schloss und Stadt. Mit seiner exponierten Lage sym­bo­li­siert er die Überlegenheit der Literatur über die Macht des Souveräns und des Volks. Sophie sah von Beginn an vor, neben Arbeitszimmern für Forscher auch drei Hand­schrif­ten­sä­le einzurichten, um die historischen Autografen für Besucher*innen zugänglich zu machen. Ihren kleinen, repräsentativen Salon, dessen Ausstattung sich vom schlich­ten frühklassizistischen Stil des Hauses unterschied, platzierte Sophie mit herr­schaft­li­chem Gestus vor dem Zimmer des Direktors. Mit der feierlichen Ein­weih­ung des Hauses am 28. Juni 1896, deren Gäste politisch und ökonomisch wohl bedacht geladen wurden, öffnete das erste forschungsbasierte Literaturarchiv Deutschlands seine Türen.

[1] Das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar

[2] Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach: Notizzettel zur Übergabe des Schlüssels des Archivgebäudes an den Direktor Bernhard Suphan, © Klassik Stiftung Weimar – Goethe- und Schiller-Archiv

Anders als die beiden nationalen Großprojekte Archiv und Weimarer Ausgabe wurde die geplante Goethe-Biografie trotz umfangreicher Vorarbeiten Gustav von Loepers nie realisiert. Vermutlich erwies es sich als schwierig, die unterschiedlichen Per­spek­ti­ven der einzelnen Forscher zu einer in sich geschlossenen Biografie zu formen. Zudem waren einige der angefragten Wissenschaftler zu stark in die Er­ar­beit­ung der Weimarer Ausgabe eingebunden.

Die Ausstellung Sophie. Macht. Literatur zeigt mit dem Fokus auf Sophies politisch ausgerichtetem Agieren, dass Archive selbst zu Medien der Geschichtsschreibung werden, die als gesellschaftspolitisch beeinflusste und wirkende Instanzen unser kollektives Gedächtnis prägen. Mit den nationalen Großprojekten zur Bewahrung und Erschließung von Goethes handschriftlichem Nachlass schuf eine Niederländerin die Voraussetzung dafür, dass die UNESCO diesen 2001 in die Liste des Welt­do­ku­men­ten­er­bes Memory of the World aufnehmen konnte.

Ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Lesungen und anderen Veranstaltungen flankiert die Ausstellung.
Gegen Ende ihrer Laufzeit, im Oktober 2024, erscheint der Sammelband Sophie. Macht. Kultur zum Leben und Wirken der Großherzogin Sophie, den das Goethe- und Schiller-Archiv herausgibt.
 

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