Werner Heisenberg wurde im ersten Jahr des 20. Jahrhunderts geboren, und der Moment, in dem sein Leben außerhalb des Mutterleibs beginnt, wurde in einer Geburtsurkunde höchst genau dokumentiert. Die Auskunft lautet: Es ist Donnerstag, der 5. Dezember 1901, als um 16:45 Uhr Werner Karl Heisenberg in Würzburg zu Hause in der Wohnung seiner Eltern das Licht der Welt erblickt, wie man gerne sagt. Dabei halten Neugeborene gewöhnlich noch die Augen geschlossen, kurz nachdem sie sich den sie erwartenden Personen gezeigt haben. Die von Heisenberg betretene Welt wird sich noch wundern, was der kleine Knabe ihr über das Licht zu sagen hat, wenn er sich ihm und den Atomen, die es aussenden, als junger Physiker zuwendet und einen Blick auf seine unvergänglichen Geheimnisse lenkt. Bis dahin müssen aber noch die zwei Jahrzehnte von Heisenbergs Kindheit und Jugend vergehen (Abb. 3.1), wobei man nur darüber staunen kann, was in diesem Zeitraum alles passiert, und zwar in kultureller und politischer Hinsicht, wie auf den folgenden Seiten wenigstens skizzenhaft erzählt werden und in die Erinnerung zurückgebracht werden soll.

Abb. 3.1
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Werner in den Armen von Mutter Annie, 1902. (© B. Blum-Heisenberg)

Bevor diese Geschichte einsetzt, soll noch ein Hinweis zu dem Neugeborenen selbst und seinem Vornamen gegeben werden. Der erste, Werner, stand damals ganz oben auf der Hitliste deutscher Eltern von Söhnen, und der zweite, Karl, stammte aus der Familie von Werners Vater August. Dessen jüngerer Bruder hieß Karl, und es lohnt sich deshalb auf diesen Kerl hinzuweisen, weil er das berühmte schwarze Schaf der Familie wurde. Er trieb sich eine Zeit lang ziellos herum und scheute sich nicht einmal, seinen Schwestern Geld zu stibitzen. Dafür wurde er allerdings von den eigenen Leuten erst verachtet und dann vertrieben, sodass es ihn schließlich nach New York verschlug. Hier konnte Karl zur allgemeinen Überraschung sein unternehmerisches Glück mit Uniformknöpfen machen, und auf diese Weise stand der Familie während der inflationären Zeiten, die in Deutschland bald anbrechen würden, ein reicher Onkel in Amerika zur Verfügung, der ihnen als ein unter diesen Umständen nicht mehr verbannter Verwandter mit Geld in harter Währung unter die Arme greifen konnte und dies auch bereitwillig tat. Werner konnte als Träger seines Vornamens ebenfalls von den amerikanischen Dollars des „Goldonkels“, wie er ihn nannte, profitieren, und zwar oftmals dann, wenn es für ihn ein wenig eng wurde.

Die spätere Knappheit und kommenden finanziellen Engpässe waren noch nicht abzusehen, als der kleine Werner geboren wurde. Sein Erscheinen fand eher in einer Zeit des großen Glücks für die Familie Heisenberg statt, nicht nur weil mit Werner ein zweiter gesunder Knabe – nach dem im Mai 1900 geborenen Bruder Erwin (Abb. 3.2, Abb. 3.3) – ihren Kreis erweiterte, sondern weil der Vater August zum Ende des Jahres 1901 eine große Stufe auf der Leiter des von ihm angestrebten sozialen Aufstiegs bewältigen und damit mächtig stolz sein konnte. Das bayerische Innenministerium ernannte den als Gymnasiallehrer für klassische Sprachen tätigen August Heisenberg zum Dozenten an der Universität Würzburg. Und zehn Jahre später sah Werner Heisenbergs Vater sogar seinen Lebenstraum in Erfüllung gehen. Er konnte eine volle Professur an der Universität München antreten und unterrichtete und forschte von 1910 an als Ordinarius für mittel- und neugriechische Philologie. So heißt es amtlich korrekt, was man sich insgesamt als klassische Studien merken und vorstellen kann, zu deren Durchführung einige Reisen in das südeuropäische Ausland nötig wurden. August Heisenberg war jetzt gleich in zweifacher Hinsicht am Ziel, nämlich in der bayerischen Landeshauptstadt und am obersten Ende der von ihm gewählten sozialen und akademischen Karriereleiter. Er hatte mit ihrem Besteigen schon als Jugendlicher in seiner Geburtsstadt Osnabrück begonnen, in der sein Vater – also Werners Großvater – es als gelernter Schlossermeister zu Ansehen und bis in den Mittelstand der städtischen Gesellschaft geschafft hatte und von ihr als wahlberechtigter Bürger anerkannt wurde.

Abb. 3.2
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Werner (links) und Erwin (rechts) mit dem Großvater Wilhelm Heisenberg in Osnabrück, 1906. (© B. Blum-Heisenberg)

Abb. 3.3
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Die Familie Heisenberg bei einem Ausflug nahe Würzburg, 1907. (© B. Blum-Heisenberg)

Solche Sätze klingen für Ohren von Menschen, die rund einhundert Jahre nach Werner Heisenberg geboren worden sind und im 21. Jahrhundert aufwachsen, möglicherweise merkwürdig, haben sich doch inzwischen die demokratischen Gepflogenheiten geändert und konnten sich soziale Strukturen entwickeln, die weit durchlässiger und offener sind, als sie es damals waren. Inzwischen fühlen sich viele junge Menschen und ihre Familien weniger einer bestimmten Randschicht zugehörig – etwa der Arbeiterschicht oder gar dem Adel –, und die meisten denken sich in einer breiten Mittelschicht aufgehoben, in der sie sich genügsam einrichten. Sie entwerfen ihren Lebensplan auch kaum noch unter derselben Vorgabe wie Werners Vater, der sich vorgenommen hatte, unbedingt weiter als seine Eltern aufzusteigen und aufgrund seiner Lebensleistung in die höheren Stände zu gelangen. Er wollte in die akademischen Kreise hinein, die damals in einem bildungsorientierten Bayern mit anerkannten Elitegymnasien hohes Ansehen genossen – eine Einstellung, die inzwischen ebenfalls aus der Zeit gefallen zu sein scheint und jungen Menschen von heute eher ein Lächeln entlockt. Bildung, das war früher einmal, während heute die modernen Lehrplanreformer von Kompetenzen reden, die es zu erwerben gilt.

In den Jahren, in denen August Heisenberg aufwuchs und seine Familie gründete, hielt die Gesellschaft zum einen die allgemeine Bildung hoch, und sie achtete zum anderen deutlich auf Standesunterschiede, in denen jeder seinen festen Platz einnahm. Schließlich lebte man in Deutschland – im Deutschen Reich – in einer Monarchie mit einem Kaiser an der Spitze, der sich gern in prächtiger Uniform zeigte. Ihn umgaben dabei viele ebenfalls militärisch ausgeschmückte Männer des Adels, die hohe Posten in der Armee bekleideten und mit ihren Familien eine undurchlässige Oberschicht bildeten, in der sie unter sich blieben. Diese gab dem Staat ein stabiles Gepräge und wirkte fast wie von Gott gegeben und gewollt. Zu dieser adligen Oberschicht schauten Bürger wie August Heisenberg gerne und stolz auf, und seine Familie fühlte sich entsprechend wohl und lebte gern in einem Deutschen Reich, das seit seiner Gründung 1871 durch Fürst Bismarck ungewöhnlich stark geworden war und wirtschaftlich und technisch enorm expandiert hatte. Sowohl Reich und Kaiser als auch August Heisenberg wollten in dieser Situation höher hinaus. Werners Vater brach deshalb mutig mit der Familientradition und riskierte einen neuen Lebensweg. Er verzichtete auf eine Handwerkerlehre und besuchte dafür das Gymnasium, um sich langfristig auf eine Karriere an der Universität vorzubereiten. Und dieser Traum seiner Jugend fing an, in Erfüllung zu gehen, als der zweite Sohn, Werner, zur Welt kam.

3.1 Die Ruhe vor den Stürmen

Der kleine Heisenberg kam in einer Zeit zur Welt, die in Deutschland auf den ersten Blick stabile gesellschaftliche Strukturen und verlässliche staatliche Institutionen erkennen ließ, die durch ihre traditionelle Solidität dem Leben der Familien Halt und Ordnung geben konnten. Bis 1914 wuchs der Knabe Werner in einem sich kultiviert gebenden und kaisertreuen Umfeld mit Bürgern auf, die zufrieden schienen und mit Freude dem Land dienten, das in der Mitte Europas lag und sich von einem Agrar- zu einem Industriestaat wandelte. Das Deutschland dieser Tage suchte nicht nur nach seiner Rolle im Verbund der europäischen Staaten, sondern entwickelte ab 1888, nachdem Kaiser Wilhelm II. den Thron bestiegen hatte, seine Weltmachtträume.

Diese Ambitionen sorgten dafür, dass sich die angenehme und wohlig wirkende Situation, die die Familie Heisenberg bei Werners Geburt erlebte, nach seinem zwölften Geburtstag vollständig und dramatisch umkehrte. Den entscheidenden Einschnitt liefert dabei der Erste Weltkrieg, mit dessen Beginn im Jahre 1914 eine lange Periode des Friedens in Europa zu ihrem bitteren und blutigen Abschluss kam, und nach dessen Ende die geliebte alte Ordnung der Monarchie sang- und klanglos verschwunden war, ohne dass sich eine neue Konstellation zu erkennen gab. In den Jahren 1918 und 1919 herrschten vielfach chaotische Zustände nicht nur in den Städten – dabei besonders intensiv in München –, sondern auch im ganzen Land, und für Werner Heisenberg und seine Kameraden gab es keinerlei Ruhe mehr, und zwar nirgends, weder außen noch innen. Das heißt, die Jugend des Landes, die in dieser Zeit jedes Vertrauen in die alte Ordnung verloren hatte, fasste sich ein Herz und unternahm Versuche, sich eine eigene Orientierung zu geben, selbst wenn damals niemand sagen konnte, wie die entsprechenden Strukturen auszusehen hatten. Wie noch erzählt wird, schloss sich Werner Heisenberg mit Feuereifer dem dazugehörigen Treiben – der romantischen Jugendbewegung – an, und er war zu dieser Entscheidung gekommen, nachdem in ihm bei dem früh erlernten und emsig betriebenen Umgang mit Musik und Mathematik ein elementares Vertrauen erwacht war. Auf diesem Terrain konnte er unmittelbar erleben, wie sich die geliebte und gelebte Kultur um einen „zentralen Bereich“ bildete und entfaltete, wie er es ausdrückte und wonach ihn verlangte. Und er spürte, wie diese maßgebende und unerschütterliche Mitte den Menschen helfen konnte, ihnen viele der äußeren Beunruhigungen zu nehmen.

Dieses tiefe Vertrauen in den zentralen Bereich der Kultur hielt Heisenberg sein Leben lang bei, und er sollte es benötigen und musste es immer wieder bemühen, denn die Zeiten wurden leider nicht ruhiger, nachdem sich in den 1920er-Jahren mit der Weimarer Republik eine neue Staatsform herausgeschält hatte, die an die Stelle der fast ohne Gegenwehr und eher feige aufgegebenen Monarchie getreten war. Im Gegenteil – es sollten weitere höchst unruhige politische Jahrzehnte für Heisenberg folgen, der nach dem Ende der Weimarer Republik zusehen musste, wie zu seinen Lebzeiten bereits eine dritte Regierungsform die Zügel der Macht in die Hände bekam. Gemeint ist die Diktatur, die von den Nationalsozialisten ausgeübt wurde und mit der das Land zwölf schreckliche Jahre erleben musste – das Land, das Heisenberg so liebte und als seine Heimat nicht verlassen wollte, vor allem nicht, nachdem er dort eine wachsende Familie gegründet und das schönste Fleckchen Erde für das Haus gefunden hatte, in dem seine Kinder aufwachsen sollten. Er hielt Deutschland bis zum bitteren Ende die Treue – bis zur Zerstörung der deutschen Städte durch alliierte Bombardierungen –, um in den sich anschließenden drei Jahrzehnten – den letzten seines Lebens – zwar in einem geteilten Land zu leben, hierbei aber in der seit 1949 bestehenden Bundesrepublik sowohl auf demokratische als auch auf stabile Verhältnisse zu treffen. Heisenberg hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg um die Entwicklung und Organisation der Forschung in Deutschland gekümmert, und in den späten 1950er-Jahren ging endlich auch sein seit langem gehegter und unter den Nationalsozialisten verwehrter Wunsch in Erfüllung – in München tätig zu sein und leben zu können. Hier ist er 1976 einem Krebsleiden erlegen.

3.2 Am Anfang des 20. Jahrhunderts

Die dramatische Verwandlung der Welt, die Werner Heisenberg in seiner Schulzeit und besonders als Gymnasiast ab 1914 erlebte, schloss sich an ein Jahrhundert an, das selbst eine solch enorme Verwandlung erlebt hatte, wie Historiker in Büchern darüber erzählen und wie gleich vorgestellt wird. Diese Dynamik der Geschichte sorgte dafür, dass es im Leben der Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts stärker rumorte, als die äußerlich behäbige politische Lage saturierter Bürger zu erkennen gab. Es lohnt daher, einen Blick auf „die Verwandlung der Welt“ zu werfen, die sich zwischen 1800 und 1900 feststellen lässt und sich besonders auf das Alltagsleben ausgewirkt hat. Es ähnelt in dem Jahr von Heisenbergs Geburt schon sehr dem, das wir heute führen, und so kommt es, dass es leichter ist, sich in die Menschen zu versetzen, die um 1900 lebten, als es die ersten Nobelpreise für die Wissenschaften gab, als in die Menschen, die um 1800 ihrem Tagwerk nachgingen, als Goethe noch unter ihnen weilte und an seinen Dichtungen arbeitete. Zwischen den beiden genannten Daten entstehen zum Beispiel viele der staatlichen Ordnungen in Europa, die nach wie vor Bestand haben, und es sorgen technische Entwicklungen in aller Welt dafür, dass der Alltag immer mehr mit den Geräten und Gegenständen bereichert wird, die sich bis heute bewähren.

Was die Erzähler der Geschichte mit dem großen Ausdruck von der Verwandlung der Welt meinen, kann man sich an einfachen Beispielen vor Augen führen. Während im Jahre 1800 gerade einmal eine erste klobige Batterie konstruiert und vorgeführt wurde, die einen winzigen Strom ans Laufen brachte, konnten bis zum Ende von Goethes Lebenszeit erste Stromgeneratoren konstruiert und bereits wenige Jahrzehnte später viele Haushalte von Elektrizitätswerken so gut mit Strom versorgt werden, dass neben den Glühbirnen immer mehr elektrische Geräte dort Einzug hielten – Schreibmaschinen, Staubsauger und Bügeleisen zum Beispiel, und die Menschen konnten zur Jahrhundertwende sogar mithilfe elektrischer Straßenbahnen und Aufzüge ihre Wohnungen erreichen.

Während um 1800 erste Dampflokomotiven – zunächst noch auf Straßen und dann auf Schienen – eingesetzt wurden, wandelte sich die schwerfällige Dampfmaschine zum eleganten Verbrennungsmotor, mit dem Automobile gebaut und angeboten wurden, wobei es den ersten Mercedes in dem Jahr gab, in dem Werner Heisenberg geboren wurde. Dieses Kraftfahrzeug benutzte als Treibstoff Benzin, das aus Erdöl stammte, nach dem inzwischen immer erfolgreicher gebohrt wurde.

Und während um 1800 die damaligen Ärzte vorsichtig mit ersten Impfungen versuchten, Pockeninfektionen einzudämmen, entwickelte sich im Bereich der Medizin auf der einen Seite die neue Wissenschaft der Bakteriologie, die nach den Ursachen von Cholera und Tuberkulose fragen konnte und systematisch nach heilenden Antibiotika suchte. Hierbei half auf der anderen Seite das Aufblühen der pharmazeutischen Industrie, die 1899 ihren ersten Triumph feierte, als sie ein Medikament namens Aspirin auf den Markt brachte, das bis heute angeboten wird.

Als das Jahr 1900 heranrückt und vor der Tür steht, lässt die Berliner Zeitung ihre Leser eine Bilanz ziehen, und die gefragten Menschen zeigen sich begeistert von der Eisenbahn, der Elektrizität, der Dampfkraft, der Narkose, der Nähmaschine, dem Filmprojektor und vielen anderen Bereicherungen ihres Daseins. „Es ist eine Lust zu leben“, rufen einige von ihnen aus, und sie beginnen von Blitzzügen und elektrischen Fernsehern zu träumen, mit deren Hilfe sie hoffen, das Bild einer fernen Geliebten in ihre Wohnstube schaffen zu können. Mit dem neuen Jahrhundert sieht die Frankfurter Zeitung die Menschheit zur gleichen Zeit gar kurz vor dem großen Ziel, das sie als die „Beherrschung der Natur und Herstellung des Reiches der Gerechtigkeit“ bezeichnet. Und wenn man sich heute auch über solche Visionen nur wundern kann, bleibt trotzdem festzuhalten, dass dies die Stimmung der Zeit war, in der Werner Heisenberg geboren wurde. Die Geschichtsbücher und ihre Verfasser sprechen hierzulande gerne vom Wilhelminischen Deutschland und meinen damit die Epoche, in der Kaiser Wilhelm II. an der Spitze des Landes stand, in dem sich ein optimistisches Vertrauen in die Fähigkeiten von Wissenschaft und Technik ausbreitete. Die Bewunderung für die Forschung wurde selbst in Familien gepflegt und spürbar, in der sich die Väter wie bei Heisenbergs eher mit den alten Sprachen beschäftigten oder musizierten.

Eher unbemerkt blieb bei dieser allgemeinen Zuneigung zur Wissenschaft zunächst die Tatsache, dass ihre so erfolgreichen und sich stolz präsentierenden Disziplinen, die Radiowellen herstellen und empfangen konnten und deren Fortschritte es erlaubten, erste Telefone und Kühlschränke herzustellen und Farbfotografien anzufertigen, inzwischen auf merkwürdige Erscheinungen gestoßen waren, die sich ihrem alten Erfolgsmodell des Erklärens entzogen und immer geheimnisvoller wurden. Gemeint sind zum Beispiel die Röntgenstrahlen und die Radioaktivität, die sich beide als unsichtbares Licht mit hoher Energie zu erkennen gaben. Gemeint ist aber vor allem das Auffinden von unbegreiflichen Quantensprüngen in Atomen, was eigentümlicherweise besonders ihren Entdecker, den von allen verehrten Max Planck, zur Verzweiflung brachte. Seit den Tagen von Heisenbergs Geburt nahmen die Kopfschmerzen unter den Physikern zu, und in ihrer Wissenschaft breiteten sich nach und nach Unruhe und Unzufriedenheit aus, weil weder das Licht noch die Atome den Forschern den Gefallen taten, sich mit den gewohnten Denkmustern erklären zu lassen.

Es sollte noch einige Jahrzehnte dauern, bis diese wissenschaftlichen Unsicherheiten immer mehr Chaos produzierten und ihre Höhepunkte erreichten, und bemerkenswerterweise passierte dies in denselben 1920er-Jahren, in denen auch die politischen Verwerfungen zunahmen, nachdem die solide staatliche Ordnung des Kaiserreichs verschwunden war, ohne dass sich etwas Vergleichbares an seine Stelle gesetzt hätte. Der Bruch, mit dem die Zerstörung der heilen Welt begann, in der das Kind Werner Heisenberg in seiner Familie aufwachsen konnte und seine ersten Talente entdeckte, und zwar in den Fächern Mathematik und Musik, ereignete sich im Jahre 1914. In seinem Sommer begannen die (oder das) Schlachten des Ersten Weltkriegs, und so sehr die Menschen in Deutschland aus diesem Anlass zunächst in Siegesstimmung gerieten und in Jubel ausbrachen, so sehr mussten sie in den folgenden Jahren sowohl durch schreckliche Hungerwinter büßen als auch verzweifelt und zunehmend hilflos bei dem millionenfachen sinnlosen Sterben ihrer Jugend zusehen. Als das massen- und grauenhafte Morden auf Europas Schlachtfeldern im Herbst 1918 endlich aufhörte, verschwand der Kaiser einfach aus Berlin, während in München, wo die Heisenbergs seit 1910 wohnten, das Ende der Monarchie verkündet und eine neue Republik ausgerufen wurde, die nur mühsam auf ihre Beine kam (Abb. 3.4).

Abb. 3.4
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Familie Heisenberg, 1917. (© B. Blum-Heisenberg)

3.3 Die Verwandlung der Welt im Kleinen

Als die alte Ordnung zusammenbrach, stand Heisenberg kurz vor seinem 17. Geburtstag. Er hatte bislang im Vertrauen in die Tugenden seines Vaters gelebt, die von dessen Schülern als „unerbittliche Pflichterfüllung, schärfste Selbstkontrolle und peinliche Genauigkeit“ aufgezählt wurden. Es ist anzunehmen, dass August Heisenberg seine Söhne ebenfalls unter diesen Vorgaben lenkte und leitete, nur dass seine Prinzipien nach dem Rückzug des Monarchen nur noch Fassade zu sein schienen, hohl wirkten und einer Belastungsprobe nicht standhalten konnten. Überhaupt fiel dem jungen Werner auf, wie vieles im Leben der Erwachsenen nur zum Schein veranstaltet wurde, etwa das Bekenntnis zum Christentum, das seine Eltern nur als leere Hülle kannten und ihres guten Rufes wegen abgaben, wozu dann auch gehörte, dass die Söhne getauft und konfirmiert wurden, und zwar in der evangelisch-lutherischen Kirche.

Werner Heisenberg muss in dieser Zeit gelernt haben, sich mehr in seine Innenwelt zurückzuziehen und hier den Ort zu finden, an dem er erst Vertrauen in seine Gedanken und Fähigkeiten entwickeln konnte, um sich dann mit dem gewonnenen Selbstbewusstsein in der Außenwelt zu zeigen. In die Innenwelt fand er am besten Eingang, wenn er am Klavier endlose Stunden mit Üben verbrachte. Den Zugang zum Musizieren verdankte er dabei seinem Vater, der zeitig dafür sorgte, dass seine Söhne wie alle wohlerzogenen Kinder im Kaiserreich Musikunterricht bekamen und lernten, die Meisterwerke der klassischen Komponisten zu spielen. August Heisenberg musizierte täglich mit seinen Söhnen, von denen Erwin die Geige und Werner das Cello spielte, bevor er sich mehr dem Pianoforte zuwandte. Der Vater setzte sich auch zu anderen Spielen mit seinen Söhnen zusammen, die er zumeist als Wettkämpfe inszenierte. Es ging dabei offenbar so weit, dass es verständlich ist, wenn Kenner und Biografen von Werner Heisenberg hier die Quelle für seinen lebenslangen unbändigen Drang vermuten, immer glänzend dazustehen und stets besser als andere abzuschneiden. Besser als sein älterer Bruder wollte er auf jeden Fall sein, in dem er seit Kindertagen einen unerbittlichen Konkurrenten sah, dem es möglichst oft eins auszuwischen galt. Dies gelang vor allem dann, wenn der Vater den beiden Brüdern beim gemeinsamen Spielen mathematische Aufgaben stellte, und Werner merkte, wie leicht er seinen älteren Konkurrenten übertrumpfen konnte. Und es ist offensichtlich und braucht nicht weiter betont zu werden, dass dieses Überlegenheitsgefühl Werners intellektuelles Vergnügen am Mathematischen nur steigern konnte.

3.4 Die Jahre in München vor dem Studium

Musik und Mathematik machten die frühe Welt – das Innenleben – von Werner Heisenberg aus, nachdem die Familie 1910 Würzburg verlassen hatte und nach München gezogen war. Dort wohnte man im Vorort Schwabing, der damals zum bevorzugten Wohngebiet der gesellschaftlichen Elite geworden war und der zudem noch als Kunstzentrum im Ansehen der Bürger stand. Werner tobte in der neuen Umgebung mit ihren Künstlern und Kneipen nicht viel mit Gleichaltrigen auf Sportplätzen herum – seine schlechtesten Noten als Schüler bekam er im Fach Turnen. Er blieb eher für sich und übte unermüdlich auf dem Klavier, nachdem er seine Schulaufgaben erledigt hatte. Diese forderten Heisenbergs Können kaum, obwohl er im September 1911 – also als Neunjähriger – auf ein Elitegymnasium gekommen war und dort in die A-Klassen gehen durfte (während sein Bruder im B-Bereich zu lernen hatte). Dem Maximilian-Gymnasium, auf das Heisenberg geschickt wurde, kommt in diesem Rahmen noch eine Besonderheit zu. Sie besteht darin, dass es von einem Mann namens Nikolaus Wecklein geleitet wurde, der Werners Großvater war. Leider ist über Werners Mutter, Weckleins Tochter Annie, nicht sehr viel bekannt. Sie muss eine vornehme und kultivierte Dame gewesen sein, die sich selbst beim Musizieren zurückhielt und sich ganz den Aufgaben des Haushalts und der Erziehung widmete. Allerdings konnte sie später einmal – in den Jahren des Nationalsozialismus – als Retterin in das Leben ihres berühmt werdenden Sohnes eingreifen, wie berichtet wird, wenn die Erzählung es bis dahin geschafft hat (Abb. 3.5).

Abb. 3.5
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Großvater Nikolaus Wecklein mit seinen beiden Enkeln Erwin (links) und Werner (rechts), 1915. (© B. Blum-Heisenberg)

Rektor Wecklein leitete das Max-Gymnasium, wie man es in dieser Kurzform allgemein nannte, bis kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Es war die Zeit, in der mit Ludwig III. ein letzter König in Bayern gekrönt wurde, was dem historischen Rückblick unübersehbar zu erkennen gibt, dass in den folgenden Jahren so manches in Deutschland zu Ende ging – zum einen das Kaiserreich und zum anderen das Gymnasium, an dem sich bald die Reformer der Bildungsanstalt vergriffen, wie sie es bis heute nicht lassen können.

Die folgenden Kriegsjahre mit schlimmen Hungerwintern, in denen der etwa 15-jährige Werner einem Wehrkraftverein seines Gymnasiums zugewiesen wurde, müssen für viele Menschen katastrophale Verhältnisse gebracht haben (Abb. 3.6). Sie wurden noch übertroffen durch die chaotischen Zeiten, die 1918 begannen, als auf den Straßen der Stadt München geschossen wurde, ohne dass zumindest der junge Heisenberg erkennen konnte, wer die Kämpfenden waren und gegen wen sie ihre Waffen richteten. Man hatte ihn zu einem Hilfsdienst in der bayerischen Landwirtschaft eingeteilt, und in dieser Umgebung hatte er nur verstanden, dass nicht nur im Reich, sondern auch in München die Monarchie beendet und eine Republik ausgerufen worden war. Sie nannte sich konkret „Räterepublik“, weil sie auf die Arbeit von Volksräten setzte, die es aber noch zu bestimmen oder zu wählen galt. Regiert wurde Bayern von dem sozialistisch eingestellten Politiker Kurt Eisner, der nicht zuletzt seiner jüdischen Wurzeln wegen im Februar 1919 ermordet wurde. Es braucht nicht betont zu werden, dass dieses Verbrechen keine Beruhigung der Lage mit sich brachte.

Abb. 3.6
figure 6

Ernteeinsatz in Miesbach (Oberbayern), 1918. Werner Heisenberg stehend in der Mitte des Fuhrwerks. (© B. Blum-Heisenberg)

Heisenberg fühlte sich äußerst unbehaglich in den Tagen der politischen Wirren, in denen auch die Schule ausfiel, die sonst seinem Leben Halt und Erfolg gab. Stattdessen wurden die halbstarken Jugendlichen von Kräften, die sich um Ordnung bemühten, mit dem Ziel eingesetzt, den Truppen zu helfen, die sich mittlerweile außerhalb von München formiert hatten und nun in die Stadt einrücken wollten, auch wenn nicht so recht zu erkennen war, wem dies nützen sollte.

Der 17-jährige Heisenberg war dabei einem Kommando zugeteilt worden, dessen Quartier in der Nähe der Universität lag, ohne dass es wirklich etwas zu tun gab, vor allem, nachdem die Kämpfe sich allmählich erschöpften. Dies bot endlich Gelegenheit, wieder an künftige und dann hoffentlich regelmäßige Schulstunden zu denken, und um sich darauf vorzubereiten, nahm sich der Teenager im Frühjahr 1919 seine griechische Ausgabe der Dialoge von Platon vor, die er auf dem Dach eines Priesterseminars las. Hierin fesselte ihn vor allem der als „Timaios“ bekannte Dialog, in dem sich das Gespräch nicht zuletzt um die kleinsten Teile der Materie drehte. Von ihnen behauptete Platon, dass sie als Dreiecke zu denken seien. In diesen Figuren vermutete der Philosoph einen rechten Winkel, was es ihm erlaubte, sie zu verschiedenen regelmäßigen Körpern zusammenzusetzen. Aus ihnen konnte man sich dann die Welt aufgebaut vorstellen.

Der junge Leser reagierte auf der einen Seite verärgert, weil ihm die Details allzu spekulativ und das Ganze absurd vorkamen. Er war auf der anderen Seite aber auch fasziniert, weil sich in diesem Denken die Möglichkeit andeutete, bei den kleinsten Teilen der Dinge auf etwas Mathematisches zu treffen. Insgesamt lockte ihn die Lektüre der platonischen Dialoge in das Innere der Materie, und Heisenberg verstand, dass dort keine einfachen Antworten auf die Frage warteten, woraus die Welt in ihrem Zentrum besteht und was sie dort auf welche Weise zusammenhält. Er empfand dabei so etwas wie eine innere Unruhe, die sich der allgemeinen äußeren Unruhe hinzugesellte, von der nicht nur er, sondern die Jugend seiner Zeit allgemein betroffen war.

3.5 Die romantische Jugendbewegung

Es benötigt nur wenig Fantasie, um sich vorzustellen, dass die Jahre, in denen alte Ordnungen auf breiter Front zusammenbrachen und keine Orientierung mehr boten, den Teenager Werner Heisenberg dazu brachten, sich nach einer Gemeinschaft umzusehen, die ihm so etwas wie die alte Geborgenheit zurückbringen konnte. Bald entschließt er sich, zur Jugendbewegung zu stoßen und sich einzureihen, und im Sommer 1919 übernimmt er in diesem Rahmen die Führung einer Gruppe von Jungen des Max-Gymnasiums. Sie wollten sich ihm anvertrauen, weil er als großer Naturfreund galt, der die heimischen Berge und Seen kannte, die ländlichen Gebiete Bayerns schätzte und sie gerne durchstreifte. Heisenberg ist 17 Jahre alt, als er stolz und selbstbewusst die Leitung der „Gruppe Heisenberg“, wie sie genannt wurde, übernimmt. In dieser Funktion entscheidet er zum ersten Mal in eigener Verantwortung, als er in München auf der Straße angesprochen und aufgefordert wird, zu einem Treffen zu kommen, das Anfang August 1919 auf dem mittelalterlichen Schloss Prunn stattfinden sollte. Der traditionelle, romantische Gefühle auslösende Ort der Versammlung im bayerischen Altmühltal ließ sich mit der Eisenbahn ansteuern, und so entschied der Anführer der „Gruppe Heisenberg“ mit seinen Kameraden auf das Schloss zu fahren.

Bevor von diesem für Heisenberg prägenden Treffen mit Lagerfeuer und Zelten berichtet wird (Abb. 3.7), das er selbst als ein Ereignis voller poetisch vermittelter Romantik beschrieben hat, soll noch etwas allgemein über die Jugendbewegung gesagt werden. Schon das Wort „Jugendbewegung“ deutet das dynamische Vorhaben der sich dort treffenden und nach einem neuen Lebenssinn suchenden Menschen an, wobei einem Historiker auffällt, dass bei allen diesen Unternehmungen der Jugendbewegung nur Männer zu finden sind, und zwar solche, die offenbar wirklich noch wenig Interesse am anderen Geschlecht haben. Ihre Gefühle leben sie vielmehr beim Singen und Musizieren aus, und sie ziehen dazu sooft es geht in die Natur – die Berge, Seen und Wälder – hinaus, in der man sich dann um ein Lagerfeuer versammelt und offen und mutig diskutiert, bevor man unter freiem Himmel Schlaf sucht und wahrscheinlich den Sternen zusieht. Hervorgegangen ist diese, ihre Anhänger wie Heisenberg zum inneren Glühen bringende Bewegung aus einer Initiative von Jugendlichen, die sich als Wandervögel trafen. Sie wollten den oftmals doch tristen und eher toten Industrieanlagen und -hallen entkommen und erneut die lebendige Natur erleben, die immer mehr zugebaut wurde, was die Menschen von Wald und Wiese, Berg und Hügel entfremdete. Zwar standen den Wandervögeln bald Jugendherbergen für Übernachtungen zur Verfügung, aber der Wille, dem streng strukturierten Leben bürgerlicher Familien mit klassischer Musik das offene Naturerleben mit Volksliedern an die Seite oder gegenüberzustellen, blieb bestehen und setzte sich in die nationale Jugendbewegung hinein fort, die Heisenberg begeisterte und zum Anführer der erwähnten Gruppe in München machte.

Abb. 3.7
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Zeltlager, 1916. Werner Heisenberg vorne in der Mitte. (© Jochen Heisenberg; mit freundlicher Genehmigung)

Es fällt leicht, solche Naturerfahrungen mit Campieren, Singen und Musizieren mit dem Beiwort „romantisch“ zu versehen und die Initiative der Wandervögel und die ihr nachfolgende Jugendbewegung ebenfalls so zu kennzeichnen. Aber wer vom Romantischen spricht, darf dabei nicht nur an die Eichendorff’schen Gedichte mit ihrem Schlüsselwort der „Sehnsucht“ denken, wie dies Heisenberg selbst in seinen Erinnerungen getan hat. Wer vom Romantischen spricht, sollte seinen Augen – seinem zweiten Augenpaar – den Blick durch die vordergründigen Tatsache erlauben, hinter oder unter denen der tiefe Gedanke lauert, der zum ersten die Jugendbewegung als Gemeinschaft bewegt und der zum zweiten von Heisenberg als „zentraler Bereich“ einer Kultur erfahren wird. Zu den Grundprinzipien des romantischen Denkens gehört die Idee einer Einheit, durch die Mensch und Natur zusammenfinden und die sich von und in einer Person erleben lässt. Zum Wesen der eben genannten Einheit gehört es, unteilbar zu sein, was den merkwürdigen Gedanken erlaubt, dass die romantische Philosophie ein makroskopisches Atom der besondere Art hervorgebracht hat, nämlich das grundlegende Ganze, das aus einem Beobachter und dem besteht, was er beobachtet. Ein Phänomen entsteht erst dadurch, dass man es beobachtet, wie Heisenberg und seine Kollegen als große Physiker in den 1920er-Jahren erkennen und verkünden. Es lohnt sich, den romantischen Ursprung dieser zugleich physikalischen und philosophischen Einsicht anzuerkennen, und es war bei dem nächtlichen Treffen auf Schloss Prunn im Altmühltal, als Heisenberg darauf stieß und es seine Seele erfasste.

Er war mit seiner Gruppe im Sommer 1919 dort hingefahren, nachdem er über Gerüchte und persönliche Mitteilungen erfahren hatte, dass sich „die Jugend“ dort treffen und überlegen wollte, „wie alles weitergehen soll“. Schloss Prunn steht als eine Burg hoch auf einem senkrecht abfallenden Felsen, und als Heisenberg mit seiner Gruppe dort nach umständlicher Eisenbahnfahrt und längerem Fußmarsch im Schlosshof ankam, trafen sie auf Scharen von Gleichgesinnten, die bald pathetischen und patriotischen Reden lauschen konnten. Sie erreichten und beschäftigten Heisenberg eher weniger, doch als die mondhelle Nacht hereinbrach, war die Bühne bereitet für das große Erlebnis, das Heisenberg selbst so schildert:

Auf dem Balkon über dem Schlosshof erschien „ein junger Mann mit einer Geige, und als es still geworden war, erklangen die ersten großen d-moll-Akkorde der Chaconne von Bach über uns. Da war die Verbindung zur Mitte auf einmal unbezweifelbar hergestellt. Das vom Mondlicht übergossene Altmühltal unter uns wäre Grund genug für eine romantische Verzauberung gewesen; aber das war es nicht. Die klaren Figuren der Chaconne waren wie ein kühler Wind, der den Nebel zerriss und die scharfen Strukturen dahinter sichtbar werden ließ. Man konnte also vom zentralen Bereich sprechen, das war allen Zeiten möglich gewesen, bei Plato und bei Bach, in der Sprache der Musik oder der Philosophie oder der Religion, also musste es auch jetzt und in Zukunft möglich sein.“

Und warum sollte dies nicht auch in der Sprache der mathematischen Naturwissenschaften und der theoretischen Physik gelingen, die Heisenberg doch so gut beherrschte und die ihn derart verlockend anzog? Es dauerte jetzt nicht mehr lange, bis er sich entschied, dieser inneren Stimme zu folgen und Physik zu studieren, um selbst Zugang zu dem inneren Bereich der Kultur zu finden.

3.6 Die Entscheidung für die Physik

Als sich Werner Heisenberg im Jahre 1920 für das Studium der Physik entschied und sich an der Universität in München einschrieb, stand er dem Vernehmen nach vor einem Problem, das schon den Erfinder des Quantensprungs, den inzwischen legendären Max Planck, beschäftigt hatte. Als Planck im Jahre 1875 mit seinen Studien beginnen wollte, wusste er zunächst nicht, ob er der Musik oder der Physik den Vorzug geben sollte. Zwar riet ihm der damalige Lehrstuhlinhaber, ein Mann namens Phillipp von Jolly, von einer Beschäftigung mit der Physik ab, da in der Wissenschaft keine großen Sprünge mehr zu erwarten seien und es nur noch gälte, kleinere Unebenheiten zu korrigieren und verbliebene Stäubchen zu entfernen. Doch Planck entschied sich trotzdem für das von ihm im Jahre 1900 schließlich umwälzend veränderte Fach, und obwohl er selbst keinen triftigen Grund dafür in seinen Erinnerungen anführt, kann man annehmen, dass ihm die Persönlichkeit des Lehrers und die Atmosphäre an seinem Institut gefallen und zu seinem Schritt beigetragen haben – abgesehen davon gab es auch noch physikalische Fragen, die Planck offen schienen, etwa die, wie die Zeit ihre Richtung bekommt.

Bei dem jungen Heisenberg kann man etwas Ähnliches wie bei dem Studienanfänger Planck beobachten. Auch er schwankte zwischen der Musik und der Physik, wobei in seinem Fall noch die Mathematik als weitere Alternative hinzukam. Und seinen Erinnerungen zufolge trug zur Wahl der exakten Naturwissenschaft, die in diesen Tagen auch erste Lehrstühle für eine theoretische Abteilung – eine Theoretische Physik – besetzen konnte, ebenfalls die Persönlichkeit des Lehrers bei, dessen Vorlesungen Heisenberg besuchen wollte. Gemeint ist in diesem Fall Arnold Sommerfeld, von dem schon die Rede war und der im anschließenden Kapitel eine wesentliche Rolle spielen wird. Es gibt allerdings einen wesentlichen Unterschied bei den Unterredungen der beiden Physikheroen, Planck und Heisenberg, und der besteht darin, dass Plancks Lehrer davon sprach, dass fast alles verstanden sei, während Sommerfeld den knabenhaften Heisenberg durch die Bemerkung lockte, „in der Atomphysik gibt es eine Fülle von noch unverstandenen experimentellen Ergebnissen“. Sommerfeld fügte hinzu, der Lehrer und seine Kollegen tappten auf diesem Terrain „noch im dichtesten Nebel herum“, wobei Heisenberg bei diesen Worten vielleicht an den kühlen Wind der Chaconne dachte und hoffte, etwas von dieser Art der Wissenschaft von den Atomen einhauchen zu können, um die Sicht auf die Atome freizumachen.

Sommerfelds Sätze klangen allzu verlockend für den mutigen und abenteuerlustigen Heisenberg, der zwar die Musik und das Klavierspiel über alles liebte, aber natürlich nicht übersehen konnte und das Gefühl hatte, dass dieser Teil der menschlichen Kultur ihm im 20. Jahrhundert „in ein merkwürdig unruhiges und vielleicht etwas schwächliches Experimentierstadium“ geraten zu sein schien, wie er es selbstsicher und keck in seiner Autobiografie ausdrückt.

An dieser Stelle vertritt der Verfasser noch die Ansicht, dass zu den genannten Aspekten noch ein weiterer gehört, der das Thema der anderen Dimension erfasst, das durchgängig in Heisenbergs Leben auszumachen ist. Als sich der Abiturient und Gruppenführer bei Sommerfeld vorstellte und sich zum Studium der Physik anmeldete, da bewohnte er die romantische und emotionale Welt der Jugendbewegung, in der Trios von Schubert gespielt und Gedichte von Eichendorff rezitiert wurden. Es war eine Welt voller Pathos und glühendem Erleben, aber mit dieser einen Dimension wollte Heisenberg sich trotzdem nicht zufrieden geben. Ihn verlangte es wie stets nach dem anderen Freiheitsgrad, und der bestand in diesem Fall aus dem „abstrakt-rationalen Bereich der theoretischen Physik“, wie er es einmal genannt hat. Heisenberg wusste, dass ihn auch die zweite Sphäre in einen Zustand höchster Spannung versetzen konnte und ihm ein intensives Leben gestatten würde. Wie kaum ein zweiter verkörpert er das Wechselspiel von sachlich abgebrühter Aufgeklärtheit und emotional erlebter Romantik, zu dem alle Menschen befähigt sind. Heisenberg hat in beiden Welten gelebt und in jeder sein Glück gefunden. Er wurde zum Wanderer zwischen diesen Welten, wie es sich für einen romantischen Geist gehört.