August Diehl: „Russen und Deutsche sehen einander wieder als Bedrohung – eine Tragödie“

Schauspieler August Diehl: „Russen und Deutsche sehen einander wieder als Bedrohung. Das ist eine Tragödie“

Der Berliner spielt in der Neuverfilmung von Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“ den Teufel. Ein Gespräch über Russland, Deutschland und richtiges Verhalten im falschen System. 

„Was würde ich tun, wenn Deutschland jetzt wieder ein Kriegstreiber wäre?“, fragt sich der Schauspieler August Diehl in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung. 
„Was würde ich tun, wenn Deutschland jetzt wieder ein Kriegstreiber wäre?“, fragt sich der Schauspieler August Diehl in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung. Markus Wächter/Berliner Zeitung

August Diehl spielt in der neuen Verfilmung von Michail Bulgakows Romanklassiker „Der Meister und Margarita“ die Teufelsfigur Woland. Der Film, der noch vor dem russischen Angriff auf die Ukraine von dem in den USA lebenden Russen Michael Lockshin („Silver Skates“) gedreht wurde, läuft derzeit höchst erfolgreich in den russischen Kinos. Ob er auch in Deutschland erscheinen wird, ist noch unklar. Als er 2021 entstand, war das zumindest geplant. 

Wir treffen uns mit dem gebürtigen West-Berliner August Diehl in einem Café am Alexanderplatz, um mit ihm über die Aktualität von Bulgakows Roman zu sprechen. Und wir wollen uns mit dem 48-Jährigen über die uralte Verbindung zwischen Deutschland und Russland austauschen. 

Herr Diehl, „Der Meister und Margarita“ von Bulgakow, auch „russischer Faust“ genannt, wird in Russland in der Schule gelesen. In Deutschland kennen viele das Buch nicht. Worum geht es in dieser Geschichte für Sie, und warum könnte sie heute auch für die Deutschen interessant sein?

Bulgakow schrieb das Buch von 1928 bis zu seinem Tod 1940, doch es konnte in der damaligen Sowjetunion erst in den 1960ern mit vielen Zensur-Anmerkungen veröffentlicht werden. In England, Frankreich, aber auch in Deutschland bekam es schnell Kultstatus. Es geht um den Teufel, der nach Moskau kommt und die damalige stalinistische Gesellschaft durcheinanderwirbelt. Die Menschen verstehen plötzlich durch den Teufel ihr System.

Es ist ein vielschichtiges Buch. Es gibt noch eine große Liebesgeschichte zwischen dem Schriftsteller, dem „Meister“, und Margarita. Der Roman ist psychedelisch, teilweise mit Fantasy angereichert. Unser Film ist eine wunderbare, seltsame Mischung aus Blockbuster und Arthouse, die es so im westlichen Kino nicht gibt. Es ist sehr erfrischend. Wir haben versucht, einen guten Film zu machen, und trotzdem ist es für uns eher eine Überraschung, dass die Verfilmung in Russland ein Erfolg ist.

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Das liegt wohl daran, dass der Film, so vielschichtig er ist, auch eine aktuelle systemkritische Komponente hat. Der Teufel, ein Fremder mit Akzent, erinnert an einen „ausländischen Agenten“. Die Verfolgung des Meisters sei ein erschreckendes Abbild der Mechanismen, die für die russische Kultur in jüngster Zeit zur Normalität geworden seien, schreibt ein Filmkritiker. Radikale Patrioten haben sogar ein Verbot des Films gefordert, auch weil der Regisseur Lockshin sich öffentlich gegen das System stellt.

Wenn eine Systemkritik, die über 100 Jahre alt ist, immer noch greift, bedeutet das, dass das System sich nicht geändert hat. Und vielleicht gibt es eine kleine Sehnsucht danach, dass der Teufel wieder vorbeikommt und alles durcheinanderwirbelt, sodass wir wieder zu uns selbst finden. Das ist alles sehr fein symbolisiert bei Bulgakow, weil er natürlich auch Angst vor Repressalien und Zensur hatte.

Aber die Russen, wie ich sie kennengelernt habe, verstehen Symbole besser als viele. Das Schlüsselzitat aus dem Buch, dass Manuskripte eben nicht verbrennen können, steht dafür, dass das geistige Eigentum der Menschen, das in Russland so stark ist, nicht zerstört werden kann.

August Diehl als Woland im Film „Der Meister und Margarita“ des Regisseurs Michael Lockshin.
August Diehl als Woland im Film „Der Meister und Margarita“ des Regisseurs Michael Lockshin.amediafilm

Die These, dass die russischen Klassiker mit schuld am Ukrainekrieg sind, wurde von Ukrainern aufgestellt, deutsche Medien berichteten darüber. In den Werken von Tolstoi und Dostojewski suchte man nach den Ursprüngen der Brutalität. Wie sehen Sie diese Vorwürfe?

Nein, der Ursprung kann nie in der Literatur liegen. Die Literatur spiegelt nur die Welt wider. Es ist verständlich, wenn die Ukrainer als Opfer in diesem Krieg alles Russische erstmal ablehnen. Aber ich halte das für eine Katastrophe. Das darf auf keinen Fall passieren. Es gibt sehr viele Russen, die emigriert sind und jetzt künstlerisch im Ausland arbeiten. Die Kunst hat keine Grenzen oder Nationalitäten, und das ist das Schöne daran.

Eine derartige Verfilmung von Bulgakows Buch wäre heute, wie andere gemeinsame Projekte zwischen Russland und Deutschland, unmöglich. Finde Sie das schade?

Es ist eine Tragödie für Russland. Aber so war es jedes Mal in der Vergangenheit. Immer, wenn ein Land totalitär und gewalttätig wird, trocknet es kulturell aus. Und alle großen Künstler und Komponisten müssen dann mit Symbolen oder versteckt arbeiten, wie eben Bulgakow zu Stalin-Zeiten. Es kommt so viel Großartiges aus Russland, und es ist eine riesige Tragödie, dass Menschen sich wegen Kriegen nicht mehr künstlerisch austauschen können. Denn Kollegen aus Russland haben eine unglaublich tolle Art, Filme zu drehen.

Sie haben im November 2021 in einem Interview in Russland gesagt, dass Deutschland und Russland eine historische Verbindung hätten, bedingt durch die Kultur, aber auch die Tragödien des 20. Jahrhunderts.

Es ist unglaublich, was da zerstört wurde. Der erste große Teil wurde durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg zerstört. Jetzt ist der zweite Teil dran. Ich bin in meinem Leben vielen Russen begegnet, habe den Eindruck gewonnen, dass sie eine Liebe zu Deutschland und der deutschen Kultur entwickelt haben. Und dass sie vielleicht sogar das Volk sind, das die Deutschen am allermeisten versteht. Die Russen haben historisch vieles an Frankreich verehrt, aber das blieb unerreichbar, während das Deutsche erreichbar war. Und dass die beiden Völker einander jetzt wieder als Bedrohung sehen, ist auch eine Tragödie.

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Markus Wächter/Berliner Zeitung
Zur Person
August Diehl (48) ist deutscher Schauspieler. Der gebürtige West-Berliner spielte in Filmen wie Kalt ist der Abendhauch, Was nützt die Liebe in Gedanken, dem Oscar-prämierten Die Fälscher, Freischwimmer, Dr. Aleman, Buddenbrooks, Quentin Tarantinos Inglourious Basterds, in Philip Noyces Salt sowie in Theatern in Berlin, Hamburg, Zürich oder Wien. Zu seinen letzten Projekten gehören die Filme The Ice Tower/ La Tour de Glace von Lucile Hadzihalilovichtba (2024) sowie The Disappearance of Mengele von Kirill Serebrennikow (2023).

Glauben Sie, diese Verbindung lässt sich irgendwann wiederbeleben? Die Russen haben nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Sympathien für Deutsche entwickelt.

Dinge heilen schneller, als wir glauben. Man hätte es nie für möglich gehalten, dass die deutsch-russische Freundschaft trotz des Zweiten Weltkriegs so stark aufblühen würde. Man hat über Russland durch die Maueröffnung wieder im positiven Sinne geredet, und selbst noch 2018 bei der Fußball-WM haben viele Deutsche positiv aus Russland berichtet.

Es war möglich und es ist immer noch möglich, wenn auch nicht jetzt. Und das gilt nicht nur für Russen und Deutsche, sondern ich glaube auch daran, dass Russland sich mit dem Rest der Welt wieder versöhnen wird. Aber es müssen immer beide Seiten dazu bereit sein. Im Moment ist es einfach traurig, wieviel zerstört wird und wieviel Misstrauen wieder hochkommt.

Haben nicht auch die länger bestehenden westlichen Ressentiments gegen die Russen dieses Misstrauen verstärkt, zusätzlich zu den negativen Entwicklungen in der russischen Gesellschaft?

Ich weiß es nicht, ich bin kein Spezialist, was dieses Thema angeht. Aber es gibt wohl kaum ein anderes Land, wahrscheinlich auch wegen der Größe, wo die Klassenunterschiede nach wie vor so stark ausgeprägt sind, wo die Hierarchie über das Menschenleben bestimmt. Und jetzt wird dieses Menschenmaterial im Krieg zerschossen.

Es liegt wohl auch daran, dass Russland grundsätzlich keine Demokratie-Erfahrung gemacht hat. In der Provinz ist noch stark das Bewusstsein verankert, dass man einfacher Lehrer oder Bauer sei, und Putin der Politiker, der es besser weiß.

Hinzu kommt natürlich auch die stark verankerte orthodoxe Religiosität, vor allem in der Landbevölkerung, nach der Art: Was, wenn mir etwas Schlimmes widerfährt? Wenn ich viele Kinder verliere? Dann will Gott das. Mit so etwas kann die Regierung unglaublich viel machen, weil nach der Logik alles, was von der Regierung kommt, vom Gott gewollt ist. Und das ist unglaublich.

Der Film endet mit einem Goethe-Zitat: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Auch bei Bulgakow sind die Grenzen zwischen Bösem und Gutem verschwommen. Erwarten Sie von Ihren russischen Kollegen, dass Sie sich öffentlich gegen den Krieg und Putin stellen?

Ich erwarte überhaupt nichts von ihnen. Das darf man nicht fordern. Jeder muss selber entscheiden. Ich muss mich oft fragen: Was würde ich tun, wenn Deutschland jetzt wieder ein Kriegstreiber wäre? Würde ich in dem Land bleiben oder würde ich weggehen? Das weiß ich erst, wenn es so weit ist, wenn ich in dieser Situation bin.

Und ich glaube, es ist überhaupt nichts Einfaches, ein Land und sein Haus zu verlassen, vor allem wenn man Kinder und Familie hat. Ich würde nie jemandem einen Vorwurf machen, dass er in Russland bleibt. Nein, das ist deren Heimat. Ich verstehe sowohl die Leute, die emigrieren, als auch die Leute, die bleiben.

Ich frage Sie auch deswegen, weil Sie im Sommer bei den Salzburger Festspielen auftreten. Der griechisch-russische Dirigent Teodor Currentzis, ein häufiger Gast in Salzburg, ist mit seinem Orchester in Russland geblieben und hat sich öffentlich nicht klar vom Krieg distanziert. Die Wiener Festwochen haben Currentzis nun auf Drängen der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv ausgeladen. Zu Recht?

Was das Gute und was das Böse ist, entscheiden letztendlich nicht die öffentlichen Erwartungen, sondern jeder Einzelne mit dem eigenen Gewissen. Wie lange kannst du in einem System weiter arbeiten, ohne dass du dich selbst verrätst? Ich glaube, die schlimmsten Dinge, die sich Menschen gegenseitig antun, passieren nicht beabsichtigt, sondern aus Bequemlichkeit.

Es gehört auch die Einstellung dazu, dass man zumindest zu Hause ist. Nach der Logik: Das Regime ist böse, aber das ist mein Russland, wo ich vielleicht noch gebraucht werde. Im Westen braucht mich niemand, da bin ich fremd.

Ja, da ist etwas dran. Deswegen würde ich das niemals verurteilen. Wenn jemand sich für diesen Krieg ausspricht, dann kann man über die Beendigung der Beziehung reden. Aber solange jemand dirigiert oder nur Kunst macht, schadet er wohl niemandem.

Dieses Dilemma zeigt auch der Film „Taking Sides – Der Fall Furtwängler“.

Es ist ein uraltes Thema: Wie verhalte ich mich in welchem System? In einem System, in das ich vielleicht hineingeboren wurde, ohne etwas dafür zu können, aber das ich aus Bequemlichkeit bediene? Wir alle bedienen ein System aus Bequemlichkeit, auch im Westen. Und das ist, glaube ich, der Teufel, der nach Hause kommt. Das ist die Gewohnheit. Der Teufel bei Bulgakow ist eigentlich ein guter Teufel, weil man ihn sieht. Aber es gibt auch den Teufel, den man nicht sieht und nicht spürt. Aber wie soll man sonst leben, wenn man noch nie anders gelebt hat? Das ist das größte Dilemma unserer Zeit.

In Deutschland sorgen sich viele Menschen über einen erstarkenden Rechtsextremismus.

Es ist ein Wahnsinn, wie sich die Geschichte anscheinend immer wiederholt. Es wäre schön, wenigstens mal ein neues Problem zu kriegen, aber es sind immer dieselben.

Was lässt sich dagegen tun? Nicht alle Unzufriedenen sind rechtsextrem. Wie lassen sie sich noch abholen?

Die Stärkung der Demokratie würde vielleicht helfen. Ich glaube, die Demokratie ist kein System, das für uns gemacht wird, sondern ein System, das wir jeden Tag neu machen müssen.

Was meinen Sie mit „Stärkung der Demokratie“? Beobachten Sie eine Verengung der öffentlichen Debatte, die zusätzlich dazu führt, dass einzelne Bevölkerungsschichten sich radikalisieren?

Das stimmt, das kommt hinzu. Aber es läuft eine Menge schief. Das liegt auch daran, dass der soziale Aspekt der Politik immer schwächer wird. Und dadurch entstehen solche Parteien. Das war immer so, die Rechten wurden immer stark, wenn die Linke schwach war. Und sehr viele Menschen sind wütend. Viele, die damals die NSDAP gewählt haben, waren einfach wütend. Sie waren nicht unbedingt rechts. Das entbindet sie natürlich nicht von der Verantwortung für ihre Wahl, aber so funktioniert das Böse. Deswegen hat die NSDAP das Sozialistische so missbraucht.

Daher finde ich es sehr erfrischend, wenn Filme für die Gesellschaft und die Regierungen noch unbequem werden können. Das heißt, dass Kunst immer noch einen Einfluss auf diese Welt hat.

Ist das Böse immer schlecht, oder ist es manchmal genau das Richtige für uns?

Letztendlich ist das Böse auch ein Grund dafür, warum wir frei sind. Wenn alles nur gut wäre, dann gäbe es keine Anstrengung. Und das zeigt Bulgakows Roman. Es ist letztlich auch die lustige Pointe, dass der Teufel auch die Liebe zwischen dem Meister und Margarita möglich macht. Er macht es möglich, dass sie zusammenkommen.

Vielen Dank für das Gespräch.

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