Schon im Jahr 1879 hat August Bebel sein Buch "Die Frau und der Sozialismus" veröffentlicht, das kurz darauf verboten wurde. Er verband darin die "Frauenfrage" und "soziale Frage", und er brandmarkte Vorurteile und Diskriminierungen. Ein wichtiges Thema war dabei für ihn auch die Prostitution. Eine neue Lektüre dieses Klassikers.
Von Joachim Kasten
Sexarbeiterin, Hure, Prostituierte – welche Bezeichnung ist politisch korrekt und gibt die soziale Realität angemessen wieder? Diese Fragen bewegen Gesellschaften und Medien in konjunkturellen Wellenbewegungen. Spiegel-Titelgeschichten und Fernsehdokumentation dazu sind Legion. „Jede Frau hat das Recht, mit Sex Geld zu verdienen“, las man kürzlich wieder auf der Wirtschaftsseite der Süddeutschen Zeitung. Im Gespräch mit einer Sexarbeiterin, die sich selbst als Marxistin und Feministin charakterisierte, ging es auch um die "Erotik des Geldes".
Oft wird das Gewerbe jedoch bestimmt vom Geschäft mit dem schnellem Sex, von Zwang und Frauenhandel, von gewalttätigen Zuhältern und Freiern. Kein Wunder also, dass es zahlreiche Bücher zu dem Thema gibt. Zu den klassischen Autoren dieses Genres gehört für viele überraschend auch der legendäre Vorsitzende der noch jungen SPD August Bebel. Für die allermeisten symbolisiert sein Name den Kampf der Arbeiter für soziale und politische Gerechtigkeit im deutschen Kaiserreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Weniger bekannt ist seine Rolle als früher Feminist und Impulsgeber für die Emanzipation und Gleichberechtigung von Frauen sein.
August Bebel war aus der Sicht des damaligen Etablissements ein gefährlicher Aktivist. Mehrfach verstieß er gegen das Gesetz "gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der deutschen Sozialdemokratie", wenn er versuchte, die Interessen der Arbeiterschaft zu organisieren. In mehreren Prozessen wurde er zu Gefängnisstrafen wegen Hochverrat oder Majestätsbeleidigung verurteilt. Doch Bebel war nicht nur aktiver Politiker für die Belange der Arbeiterschaft, sondern hatte gleichzeitig eine Gabe, Ungerechtigkeiten und Widersprüche der damaligen bürgerlichen Gesellschaft intellektuell zu durchdringen.
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Zu einer Art Ikone sozialwissenschaftlicher Literatur avancierte sein erstmals 1879 erschienenes Buch "Die Frau und der Sozialismus". In viele Sprachen übersetzt ist es ein Meilenstein im Bestreben um Kampf für Frauenrechte und gegen männlich geprägte Vorurteile. Bebel schrieb an gegen einen patriarchalischen Zeitgeist, der Frauen „natürliche“ Rollenmuster als Hausfrau und Mutter zuwies. Mit empirischer und historischer Genauigkeit belegte er, dass dieses Idealbild nicht die vorgefundene Wirklichkeit mit Millionen von schlecht entlohnten Erwerbsarbeiterinnen abbildete.
Als eine der geistig-kulturellen Quellen vieler diskriminierender Vorurteile klagte Bebel auch religiöse Einflüsse an. So zitierte er in seinem Buch den Apostel Paulus, der im Korintherbrief den Mann als das Oberhaupt der Frau darstellte. Sein Fazit: Jeder noch so einfältige Mann kann sich für besser halten als die ausgezeichnetste Frau. Bebels Zuspitzung verfehlte ihre provozierende Wirkung nicht.
In mehreren Kapiteln widmet sich Bebel dem gefühls- und tabu-beladenen Themenkreis Prostitution. Dabei umfasst er die historischen Dimensionen von der griechischen Tempelprostitution über Frauenhäuser des Mittelalters bis zu seiner eigenen Gegenwart mit halblegalen Bordellen. Prägnant analysiert er die über viele Epochen wirksamen Muster einer männlich dominierten Doppelmoral. Dabei beschreibt Bebel etwa die Verhältnisse im frühchristlichen Rom, das er als "europäische Hauptstadt der Unsittlichkeit" charakterisiert, in der zölibatäre Kirchenführer ihre sexuellen Bedürfnisse bei Huren auslebten. Bereits damals stand die reine christliche Sittlichkeitslehre im heftigen Kontrast zu den realen Ausschweifungen mancher ihrer Vertreter. Kritisch notiert er, dass dabei die männlichen Nachfrager regelmäßig geschützt waren. Frauen konnten sich indessen gegen moralische Diskriminierung und die Willkür staatlicher Verfolgung kaum zur Wehr setzen. Ein Grundproblem, das die Zeiten überdauert.
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"Wo Männer in Masse zusammenkommen, scheinen sie ohne Prostituierte sich nicht vergnügen zu können", schreibt August Bebel mit Blick auf das Deutsche Schützenfest in Berlin 1890. Für ihn sind es letztlich unhaltbare Zustände und Widersprüche, die er mit den Worten kommentiert, dass sich die Männer schämen sollten für ihre unwürdige Rolle in diesem Geschäft.
In den heutigen Rotlichtvierteln Hamburgs, Berlins oder Frankfurts ist der Kauf sexueller Dienstleistungen schon seit 2001 nicht mehr durch Unsittlichkeits- oder Kuppeleiparagraphen unter Strafe gestellt, sondern durch das Prostitutionsschutzgesetz reguliert. Frauen können den "Liebeslohn" einklagen und haben als Erwerbstätige das Recht zur Anmeldung bei Sozialversicherungen. Zu den letzten Reformelementen von 2018 gehört auch ein sogenannter Hurenpass, der den legalen Status von Sexarbeiterinnen offiziell belegen soll. Mehr Transparenz im Gewerbe gilt dabei als Waffe zur Abwehr von Zwangsprostitution. Ergänzt wurden außerdem Rechte und Pflichten zur regelmäßigen Gesundheitskontrolle. Ob und wie die Prostituierten ihre Schutzrechte in Anspruch nehmen können und wollen, ist indessen selbst unter Fachleuten umstritten.
Diese Art der deutschen Liberalisierung des Sexmarktes folgt allerdings auch weiterhin der Werteorientierung, nach der Prostitution, wie es bereits Bebel beschrieb, als "notwendiges Übel" eingestuft wird. Unverändert ist außerdem seine Beobachtung, nach der "ehrbare Familienväter" mit ihrem Geld dazu beitragen, das System der Prostitution aufrecht zu erhalten. Die Verantwortung dafür wird ihnen bis heute großzügig erlassen.
Auch milieutypische Konsequenzen wie Frauenhandel, psychische Verelendung, die Abhängigkeit von "Bordellwirten" sowie Illusionen junger Frauen vom schnellen Geld thematisierte der frühe Feminist August Bebel. Diese Aspekte haben auch 150 Jahre nach ihm nicht an Brisanz verloren. Offen bleiben muss jedoch die Frage, ob etwa das bekannte schwedische Modell eines Verbots der Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen, in seinen Augen eine neue Werteorientierung repräsentieren könnte.
DGB/Heiko Sakurai
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