(PDF) Atheismus im Christentum? Ernst Blochs Versuch einer Beerbung der religiösen Traditionen. | René Buchholz - Academia.edu
René Buchholz Atheismus im Christentum? Ernst Blochs Versuch einer Beerbung der religiösen Traditionen Vortrag, gehalten am 30. September 2013 in Tübingen. Die vorliegende erweiterte Fassung wurde veröffentlicht in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 98 (2014), 181-194; aktualisiert: Juni 2018. 181 182 „Und steht nicht für den späteren Gott des Dornbuschs kein Präsens, sondern ein daraus rettendes Futurum, ein ‚ich werde sein, der ich sein werde’ als Sprengung in der angeblichen Gottesvorstellung selber?“ (AC, 241) 1. Vom Opium des Volkes zum Hoffnungspotenzial L etzte Worte über historische Phänomene sind in ihrem Anspruch, alles Entscheidende sei nunmehr gesagt, oft falsifiziert worden und erwiesen sich als vorletzte Worte. Das trifft auch auf das berühmte Diktum Marxens zu, für Deutschland sei die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt2. Dem stehen nicht nur die durchaus eigenständigen religionskritischen Versuche Schopenhauers, Nietzsches und Freuds entgegen, sondern auch die eingehendere Beschäftigung mit Religion, insbesondere mit dem Christentum, beim späten Friedrich Engels, bei Karl Kautsky und vor allem bei Ernst Bloch. Offensichtlich dämmerte sehr bald schon, dass Religion sich nicht auf die simple Bestimmung reduzieren lässt, „Seufzer der bedrängten Kreatur“ und „Opium des Volkes“ zu sein; Religion enthielt auch herrschaftskritische Elemente, welche in einem emanzipatorischen Interesse zu beerben waren. Bereits Marx hatte der Religion bescheinigt, nicht nur Ausdruck, sondern auch „Protestation gegen das wirkliche Elend“ zu sein3. Anders als Marx und manche heutigen Vertreter des 1 2 3 Die Schriften Ernst BLOCHs werden unter einem Kürzel des Titels mit Seitenzahl im fortlaufenden Text belegt: SP: Spuren (11930), erweiterte Ausgabe (Gesamtausgabe, Band 1), Frankfurt/M. 1969. EZ: Erbschaft dieser Zeit (11935), erweiterte Ausgabe (Gesamtausgabe, Band 4), Frankfurt/M. 1962. PH: Das Prinzip Hoffnung (Gesamtausgabe, Band 5), 2 Bände, Frankfurt/M. 1959. NMW: Naturrecht und menschliche Würde (Gesamtausgabe, Band 6), Frankfurt/M. 1976. MP: Das Materialismusproblem. Seine Geschichte und Substanz. Erweiterte Ausgabe (Gesamtausgabe, Band 7), Frankfurt/M. 1972. SO: Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel. (Gesamtausgabe, Band 8), Frankfurt/M. 1962. PM: Politische Messungen. Pestzeit, Vormärz (Gesamtausgabe, Band 11), Frankfurt/M. 1970. TEP: Tübinger Einleitung in die Philosophie (Gesamtausgabe, Band 13), Frankfurt/M. 1970. AC: Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs (Gesamtausgabe, Band 14), Frankfurt/M. 1968. EM; Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringes, Praxis (Gesamtausgabe, Band 15), Frankfurt/M. 1975. GU: Geist der Utopie. Faksimile der Ausgabe München-Leipzig 1918 (= Gesamtausgabe, Band 16), Frankfurt/M. 1971. TLU: Tendenz – Latenz – Utopie (Ergänzungsband zur Gesamtausgabe), Frankfurt/M. 1978; LM: Logos der Materie. Eine Logik im Werden. Aus dem Nachlass 1923-1949, hrsg. von Gerardo CUNICO, Frankfurt/M. 2000. WF: Widerstand und Friede. Aufsätze zur Politik, Frankfurt/M. 1968/2008. Karl MARX, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosphie. Einleitung, in: ders. / Friedrich ENGELS, Gesamtausgabe (MEGA), hrsg. vom Institut für Marxismus/Leninismus beim ZK der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und beim vom Institut für Marxismus/Leninismus beim ZK der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, I. Abteilung, Band 2, Berlin 1982, 170-183, hier: 170. Zitate: ebd., 170f. René Buchholz: Atheismus im Christentum? ‚neuen Atheismus‘ hatte Engels ein reges Interesse an Fragen der Bibelkritik und der religionsgeschichtlichen Entwicklungen, freilich ohne die frühere Religionskritik abzuschwächen oder gar zu revozieren 4 . Er hatte 1894 in seiner Schrift Zur Geschichte des Urchristentums dem „Seufzer der bedrängten Kreatur“ mehr Aufmerksamkeit gewidmet und einen überschüssigen, die bloße Verklärung des irdischen Elends überschreitenden Zug ausfindig gemacht. Es waren, anders als in der damaligen Exegese, vor allem die proletarischen Anfänge und nonkonformistischen Elemente des frühen Christentums, die apokalyptisch gefärbten Texte mit ihrer ‚Counter-History‘ und nicht zuletzt der so genannte ‚urchristliche Kommunismus‘, die das besondere Interesse Engels‘ auf sich zogen; ja Engels erklärte gar, die „Geschichte des Urchristentums bietet merkwürdige Berührungspunkte mit der modernen Arbeiterbewegung. Wie diese, war das Christentum im Ursprung eine Bewegung Unterdrückter: es trat zuerst auf als Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen, der von Rom unterjochten oder zersprengten Völker. …In der Tat, der Kampf gegen eine anfangs übermächtige Welt und der gleichzeitige Kampf der Neuerer untereinander, ist beiden gemeinsam, den 183 Urchristen wie den Sozialisten. Beide große Bewegungen sind nicht von Führern und Propheten gemacht – obwohl Propheten genug bei beiden vorkommen –, sie sind Massenbewegungen.“5 Engels widerspricht hier der Idee des ‚Religionsstifters‘, als wären einzelne Personen in der Lage, eine ganze Bewegung ins Leben zu rufen. Diese entstehen auf der Basis objektiver gesellschaftlicher Bedingungen, und esbedarf lediglich einer charismatischen Figur oder einer Lehre, welcher es gelingt, diese Bedingungen über einen Kreis von Intellektuellen hinaus transparent zu machen. Ersteres träfe nach Engels auf das frühe Christentum zu, letzteres auf den Marxismus und die Arbeiterbewegung. Ähnlich urteilte 1895 Karl Kautsky im ersten Teilband seiner Vorläufer des neueren Sozialismus. Allerdings unterschied sich nach Kautsky der ‚urchristliche Kommunismus‘ vom modernen schon dadurch, dass er – entsprechend dem damaligen Stand der Produktion – „Privateigenthum und Kommunismus miteinander“ vereinigte: Man beließ es beim Privateigentum an Produktionsmitteln und forderte „blos den Kommunismus des Genießens und Gebrauchens“6. Auch das frühe Christentum konnte nicht einfach die ökonomischen Bedingungen seiner Zeit ignorieren; zugleich aber fehlt ihm jede Fetischierung der Arbeit, wie sie das moderne Bürgertum kennt und die von Teilen 4 5 6 Vgl. Gustav MAYER, Friedrich Engels, Den Haag 1934, Band II, 321f. Friedrich ENGELS, Zur Geschichte des Urchristentums, in: Karl MARX / Friedrich ENGELS, Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus/Leninismus beim ZK der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Band 22, Berlin 1963, 447-473, hier: 449 und 460. Karl KAUTSKY, Vorläufer des neueren Sozialismus = Die Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen, Band I, Stuttgart 1895, 21-39, hier: 26. __________________________________________________________________________________________________________ ____ 1 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? der Sozialdemokratie übernommen wurde. Was Kautsky in der früheren Schrift nur grob umrissen hatte, gewann in der Monographie Ursprung des Christentums (1908) deutlichere Konturen. Ausführlich werden die gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Bedingungen des frühen Christentums dargestellt, um erst im letzten Kapitel sich der urchristlichen Gemeinde und der Verkündigung Jesu zuzuwenden7. Dass im Zentrum seiner Predigt die zeitliche Nähe des Gottesreiches stand (Mk 1,15), das im Gegensatz zu Harnacks Deutung nicht spiritualisiert werden darf, stand für Kautsky ebenso außer Zweifel wie der (später notdürftig übermalte) rebellische, ja revolutionäre Charakter seiner Lehre, die schließlich auch zu seiner Hinrichtung führte8. Die oft ins Heterodoxe verdrängte nonkonformistische, rebellische Seite des Christentums interessierte Kautsky auch über die religionsgeschichtlichen Ursprünge hinaus bis hin zu den Wiedertäufern und Thomas More9. Wenn Ernst Bloch im Rückblick die allzu schematische Anwendung marxistischer Kategorien in Kautskys Schriften mit Recht rügt (vgl. MP, 387-389; TEP, 28-30), so ist doch nicht zu übersehen, dass auch Engels und Kautsky sich als ‚Erben‘ zumindest der kritischen Traditionen des Frühjudentums und des frühen Christentum sahen; Blochs Projekt ist also innerhalb des Marxismus nicht schlechthin präzedenzlos. Aber es führt kein gerader Weg von Engels und Kautsky zu Blochs Geist der Utopie und zum Prinzip Hoffnung. Nicht nur war Blochs Projekt breiter angelegt, es war, im Unterschied zu den marxistischen ‚Klassikern‘, von Anfang an auch zu messianischen und mystischen Motiven vermittelt. So gehörten zu Blochs Gewährsleuten sowohl Autoren der Romantik 184 wie Baader und der späte Schelling, als auch eher unorthodoxe Sozialisten wie der frühe Georg Lukács, Martin Buber und Gustav Landauer, dem die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft10 ebenso suspekt blieb wie der Technik- und Fortschrittsglaube der Sozialdemokratie seiner Zeit 11 . Über diese verschlungenen Pfade und nicht etwa über frühe religiöse Sozialisation gelangte Bloch zum jüdischen Messianismus. Nicht nur Bloch entdeckte „le messianisme et la mystique 7 8 9 10 11 Karl KAUTSKY, Ursprung des Christentums, Stuttgart 1908, bes. 338-493. Zum Thema Christentum und Sozialdemokratie äußert sich Kautsky, Gedanken Friedrich Engelsʼ aufgreifend, am Schluss des Buches, vgl. ebd., 493-508. Vgl. ebd., 374-392. Vgl. KAUTSKY, Vorläufer des neueren Sozialismus (Anm. 6), 239-436; 437-511; ders., Thomas Morus und seine Utopie, Stuttgart 21907. Vgl. Friedrich ENGELS, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: Karl MARX / Friedrich ENGELS, Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus/Leninismus beim ZK der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Band 19, Berlin 41973, 177-228. Vgl. Gustav LANDAUER, Aufruf zum Sozialismus, 2. Aufl. (Revolutionsausgabe), Berlin 1919; zu LANDAUER vgl. auch den Nachruf Margarete SUSMANs, in: dies., „Das Nah- und das Fernsein des Fremden“. Essays und Briefe, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Ingeborg NORDMANN, Frankfurt/M. 1992, 129-139. __________________________________________________________________________________________________________ ____ 2 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? juive par la médiation d’un Baader, d’un Schlegel ou d’un Molitor“, und diese Umwege kennzeichnen, wie Michael Löwy schreibt, das Denken vieler jüdischer Intellektueller, „issue de familles entièrement assimilées“12. Auf die assimilierten Elternhäuser reagierten Autoren wie Gershom Scholem, Walter Benjamin oder Ernst Bloch mit Ablehnung und Kritik, doch hatte biographisch und philosophisch diese Kritik unterschiedliche Konsequenzen. Während Scholem sich bewusst dem Judentum und seiner Geschichte zuwandte, inspirierten die eher diffusen religiösen Motive bei Bloch eine Philosophie der Hoffnung, die aus unterschiedlichen Quellen schöpfte und 1918 in der ersten Fassung seines Buches Geist der Utopie ihren das gesamte spätere Werk prägenden Ausdruck fand: „Denn das, was ist, kann nicht wahr sein, aber es will durch die Menschen zur Heimkehr gelangen. Was also darin wirkt und arbeitet, fortarbeitet, nach dem Grundsatz aller kategorialen Anwendung und transzendentalen Beziehung: ‚begonnen ist der Weg, vollende die Reise!‘, ist nicht mehr die Frage, was die Dinge im jeweils Gegenwärtigen seien, in ihrer empirischen Verhaltungsregel und deren einzelwissenschaftlicher Kodifizierung, sondern es ist, anders betont, und mit dem nicht Entsagenwollen religiöser Art, die Frage, was die Dinge, Menschen und Werke in Wahrheit seien, nach dem Stern ihres utopischen Schicksals, ihrer utopischen Wirklichkeit gesehen.“ (GU, 338f) Hatte nach der marxistischen Wendung Blochs – die auch eine Antwort war auf den schon im Utopie-Buch konstatierten Konkurs der bürgerlich-liberalen Ära im I. Weltkrieg (vgl. GU, 9) und den Aufstieg der extremen Rechten – das Utopie-Buch in der Fassung von 1923 eine nicht unerhebliche Überarbeitung erfahren, so blieb er doch den hier ausgedrückten Motiven mehr oder weniger treu13. Er sammelt schon in seinem frühen Utopie-Buch wie später im opus magnum die verstreuten Hinweise auf eine erfüllende Zukunft ein wie die heiligen Funken in der lurianischen Kabbala14. „Wir müssen“, schreibt 1919 Margarete Susman in ihrer Rezension des Werkes, „darauf hinleben, daß die Welt für die messianische Tat reif werde. Wir müssen trachten, alles in uns mitzunehmen, überall auf Wahrheit drängen, nichts darf uns zu gering sein, es zu begreifen und mit emporzuführen; 185 und da alles in der Zeit ist, kommt uns auch alles hier entgegen. ‚Jedes Ding hat seinen utopischen Stern im Blut‘“15 Susman bezeichnet 12 13 14 15 Michael LÖWY, Rédemption et Utopie. Le judaïsme libertaire en Europe centrale, Paris 1988, 179; vgl. auch Jürgen HABERMAS, Ein marxistischer Schelling. Zu Ernst Blochs spekulativem Materialismus, in: ders., Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Neuwied-Berlin 31969, 336-351, hier: 342-344. Theodor W. ADORNO, der den Geist der Utopie 1921 mit siebzehn Jahren las, nannte mit Recht das Buch „Blochs erstes und alles Spätere tragendes“; es sei „eine einzige Revolte gegen die Versagung, die im Denken, bis in seinen pur formalen Charakter hinein, sich verlängert. Dies Motiv, allem theoretischen Inhalt vorausgehend, habe ich mir so sehr zugeeignet, daß ich meine, nie etwas geschrieben zu haben, was seiner nicht, latent oder offen, gedächte.“ (ders., Noten zur Literatur = Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann u.a., Band 11, Frankfurt/M. 31990, 556-566, hier: 557) Vgl. auch Hermann SCHWEPPENHÄUSER, Reale Vergesellschaftung und soziale Utopie. Ernst Bloch als Sozialphilosoph, in: ders., Vergegenwärtigungen zur Unzeit? Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Lüneburg 1986, 206-221. Zur lurianischen Kabbala vgl. Gershom SCHOLEM, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957, 267-314. SUSMAN, „Das Nah- und das Fernsein des Fremden“ (Anm. 11), 22-30, hier: 25f. __________________________________________________________________________________________________________ ____ 3 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? hier ein Motiv, das über das Frühwerk hinaus noch das Prinzip Hoffnung beseelt. Was Susman eine „treibende, reißende, rufende Kraft ohnegleichen“ nennt, die sich nach Bloch „durch die Welt“ bewege16, deutet für einen anderen Leser der Schriften Blochs, Gershom Scholem, auf eine apokalyptisch-messianisch gefärbte Mystik. Kabbalistische Texte und Vorstellungen waren, wie nicht erst der Schluss von Geist der Utopie zeigt, Bloch – wenn auch keineswegs aus erster Hand – vertraut (GU, 444f). Sie spielen zusammen mit den messianischen, wie Scholem zeigte, vom Frühwerk Blochs bis zu den marxistisch geprägten späteren Schriften teils offen teils subkutan eine nicht zu unterschätzende Rolle 17. Seit der ersten Fassung vom Geist der Utopie (1918) schenkten Scholem und Benjamin den Publikationen Blochs ihre Aufmerksamkeit und kommentierten sie kritisch18. Der junge Bloch war, so Scholem, „ein das Barocke nicht scheuender Stürmer in die Apokalypse und in die Vision“ und der Geist der Utopie „war ein überwältigender Einbruch der Mystik in die philosophische Weide, mit der Bloch deren Hüter ansprang“19. Wie schon angedeutet, ist für den späteren Bloch diese Phase nicht einfach abgetan, sie wird aber in das marxistische Denken auf unorthodoxe Weise integriert. Mit Scholem mag man zweifeln, ob die religiöse Valenz der Begriffe und Vorstellungen vollständig auch in einen nicht doktrinär verhärteten Marxismus übersetzt werden kann; Bloch war offenbar von der Realisierbarkeit dieses Projekts überzeugt. Der emanzipatorische, durchaus aufklärerische Gehalt religiöser und ästhetischer Bilder muss der reaktionären, auf Betäubung und Rausch zielenden Instrumentalisierung abgerungen werden. Der These Walter Benjamins, in jeder Epoche müsse versucht werden, die Überlieferung dem Konformismus abzugewinnen 20 , hätte auch Bloch zustimmen können. Kunst (PH, 242-258) und Religion mögen Schein sein, so sind sie doch Vorschein eines Anderen, Besseren. Das Substrat der Kunst (und ähnliches ließe sich auch von der Religion sagen) ist „utopischer Natur und kein an16 17 18 19 20 Ebd., 26. – Zu SUSMANs Beziehung zu BLOCH vgl. Elisa KLAPHECK, Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie, Berlin 2014, 193-198. Vgl. Gershom SCHOLEM, Wohnt Gott im Herzen eines Atheisten? Zu Ernst Blochs 90. Geburtstag, in: Der Spiegel, Heft 29 vom 28. Juli 1975, 110-114; Auszüge in Gershom SCHOLEM, Briefe, Band III, hrsg. von Itta Shedletzky, München 1999, 379f, Anm. 4 und 7. Die englische Übersetzung findet sich in Gershom SCHOLEM, On the Possibility of Jewish Mysticism in Our Time and Other Essays, edited by Avraham Shapiro, Philadelphia-Jerusalem, 1997, 216-223; vgl. LÖWY, Rédemption et Utopie (Anm. 12), 179-183. Vgl. schon Walter BENJAMINS Brief an Gershom SCHOLEM vom 15. September 1919, in: ders., Gesammelte Briefe, Band II, 1919-1924, hrsg. von Christoph GÖDDE und Henri LONITz, Frankfurt/M. 1996, 43-45. SCHOLEM, Wohnt Gott im Herzen eines Atheisten? = ders., Briefe III (Anm. 17), 379; engl.: ders., On the Possibility of Jewish Mysticism in Our Time (Anm. 17), 217f. „Die elaborierte marxistische Montage seines zweiten Werkes [des Prinzip Hoffnung, R.B.]”, heißt es an anderer Stelle, „steht in schlechtverhohlenem Widerstreit zu der mystischen Inspiration, der Blochs beste Einsichten im wesentlichen verpflichtet sind und die er durch einen wahren Dschungel marxistischer Rhapsodien nicht ohne Mut hindurchgerettet hat.“ (ders., Judaica 1, Frankfurt/M. 1963, 13, Anm. 1) Walter BENJAMIN, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band I/2, Frankfurt/M. 31990, 691-704. __________________________________________________________________________________________________________ ____ 4 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? derer als der utopisch konkrete Begriff wird ihr gerecht; die Kunst ist durchaus nicht nur Ideologie der jeweils herrschenden Klasse oder gar ihre propagandistische Magd“ (TEP, 101). Dass sich im Schein das Scheinlose verspricht, wie Adorno in der Negativen Dialektik schrieb21, wird für Bloch weit über das Versprechen hinaus zur Gewissheit. Nicht zu erschüttern blieb sein Vertrauen in den „wirklichen Gang der Dinge“: dass er nämlich doch noch „gut zu werden verspricht“ (LM, 170) Blochs Spurensuche reicht freilich noch weiter: von den Hoffnungsgestalten der Musik, das „Hellhören“, das bereits im Geist der Utopie einen breiten Raum einnimmt 186 (vgl. GU, 79-234, hier; 233), über Kunst, Literatur, die religiösen, mystischen, philosophisch-rationalistischen und nicht zuletzt die politischen Emanzipationsbestrebungen bis zur Dynamik der Materie, die ihm weder bloß mechanisch klappernde Bewegung ist, noch reine Passivität, sondern „ebenso der Schoß wie der unerledigte Horizont ihrer Gestalten“ (MP, 469; PH, 271). Materie ist auf der Seite der Potentialität niemals nur leere, abstrakte Möglichkeit, sondern „unvollendete Entelechie“ (MP, 470-478; PH, 802-813, TEP, 202209) oder „Materie nach vorwärts“ (PH, 241). Die Terminologie verweist schon auf Blochs Sympathien für die von ihm so genannte „aristotelische Linke“ wie Avicenna oder Averroes und den dynamischen Materiebegriff eines Ibn Gabirol (vgl. MP, 470-546). Nicht dem mechanischen Materialismus des 18. Jahrhunderts, für den Holbachs „beflaggte Weltfabrik“ steht (MP, 181), oder dem Materialismusstreit des 19. Jahrhunderts22 dämmerten diese entscheidenden Aspekte, sondern dem Idealismus Schellings. Materie – wie Natur insgesamt – entfaltet nach Bloch ihr Potential nicht in einem subjektfreien Automatismus, sondern erst im Prozess bewusster menschlicher Praxis (vgl. LM, 235). Nur in diesem Sinne kann Bloch sagen, „die Weltmaterie ist selber noch nicht abgeschlossen, befindet sich in in utopisch-offenem, das heißt, noch nicht selbstidentisch manifestiertem Stand“ (TEP, 102) Trotz dieser an den nicht-ontologischen Materialismus Marxens23 gemahnenden These ist das spekulative Moment unübersehbar, so dass Jürgen Habermas zutreffend Bloch einen „marxistischen Schelling“ nannte24, und in der Tat erhalten sich bis in letzten Schriften Blochs hinein Motive Schellings und der Romantik, die Georg Lukács in seinem späten Werk Die 21 22 23 24 Vgl. Theodor W. ADORNO, Negative Dialektik = ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann u.a., Band 6, Frankfurt/M. 41990, 397. Vgl. hierzu Kurt BAYERTZ / Myriam GERHARD / Walter JAESCHKE (Hg.), Naturwissenschaft, Philosophie und Weltanschauung im 19. Jahrhundert, Band 1: Der Materialismus-Streit, Hamburg 2007. Zum nicht-ontologischen Charakter des Marxschen Materialismus vgl. Alfred SCHMIDT, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx (Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Band 11), Frankfurt/M. 1962, 12-41. Vgl. HABERMAS, Ein marxistischer Schelling (Anm. 12), bes. 344-347; Gershom SCHOLEM nennt das Prinzip Hoffnung paradox eine „Theosophie des Bolschewismus“ (SCHOLEM, Briefe III [Anm. 17], 379). __________________________________________________________________________________________________________ ____ 5 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? Zerstörung der Vernunft orthodox-marxistisch pauschal der Reaktion und dem Irrationalismus zuwies25. Bloch mied derart klare Fronten in der Philosophiegeschichte, die vielleicht die Zensurbehörden, nicht aber den autonomen Gedanken zufriedenstellen mochten, und erkannte im Denken dieser ‚Reaktionäre‘ ein subversives Hoffnungspotential, das es präzise herauszuarbeiten galt. Blochs Interesse an den unausgeschöpften Bildern und Wünschen nicht nur der Religion ist abzugrenzen von der Archetypenlehre eines Carl Gustav Jung. Scharf wandte sich Bloch – darin einig mit Walter Benjamin – gegen Jungs Archaisierung von Geschichte, Religion und Kultur. Über Jung, der das Unbewußte Freuds auf der ganzen Linie generalisiert und archaisiert“ hat (PH, 69; vgl. EZ, 344-351), leert Bloch die Schalen seines Zorns. Der antirationalistische Affekt, die „‘heilig dunkle Urnacht‘, gefüllt mit Blutschein und Bildorgie“ (PH, 70), das affirmative Verhältnis zum „Archaisch-Kollektiven“ (ebd.), weist in Blochs keineswegs unbegründeter Deutung auf die Nähe zu 187 zeitgenössischen autoritären Ideologien, Bloch kennt durchaus „Archetypen, die nicht im Abgrund hausen“ (ebd., 197); während aber „der faschistisch-mystifizierende Jung“ (ebd., 70) sie in eine schicksalhafte Vergangenheit projiziert, versucht Bloch deren Hoffnungsgehalt transparent zu machen. Geschichte und Vorgeschichte generierten ein großes Reservoir an Bildern, die bis heute zu uns sprechen und darauf warten, gedeutet zu werden. Ihre Deutung bezieht sich aber nicht auf in ihnen angeblich enthaltene zeitlose kollektive Strukturen, welche die Geschichte verzaubern oder vielmehr den Bann, der auf ihr liegt, verstärken, sondern umgekehrt auf ein Erwachen. Es sind „nicht nur archetypische Bilder immer wieder neu der Geschichte entsprungen (man denke an den Tanz auf den Trümmern der Bastille), sondern auch die wirklich alten zeigen oft mitten im Mythischen einen völlig hellen, drängend-utopischen Sinn (man denke an die verklärte Erinnerung: goldenes Zeitalter, als verschüttetes oder aber von der Zukunft noch zukommendes gedacht). Letztere Art Archetypen ist an sich schon deutlich utopisch …Eine große Zahl anderer verkapselter Archetypen ….muß auf ihren Utopischen Gehalt gleichsam erst aufgeknackt werden.“ (TEP, 99f) Während Walter Benjamin gegen Jung seine Theorie des dialektischen Bildes pointierte26, überprüft Bloch die Bilder des Vergangenen auf ihr nicht ausge25 26 Vgl. Georg LUKÁCS, Die Zerstörung der Vernunft (zuerst Berlin 1954 = Werke, Band 9), Neuwied-Berlin 1962; zu Schelling vgl. ebd., 114-172. Die frühen Schriften LUKÁCS‘ (Die Seele und die Formen [1911], Theorie des Romans [1916/1920]) wiesen durchaus Einflüsse der später als irrationalistisch verfemten Autoren auf; vgl. auch die harsche Kritik Theodor W. ADORNOs an Georg LUKÁCS: Noten zur Literatur (Anm. 13), 251-280, bes. 251f. Vgl. Rolf TIEDEMANN, Mystik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Walter Benjamins, München 2002, 163f; René BUCHHOLZ, Die "kopernikanische Wendung des Eingedenkens". Mythos, Erinnerung und Erwachen im Spätwerk Walter Benjamins, in: Paul PETZEL / Norbert RECK (Hg.), Erinnern. Erkundungen zu einer theologischen Basiskategorie, Darmstadt 2003, 162-178, hier: 170f __________________________________________________________________________________________________________ ____ 6 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? schöpftes Potential: Das unerfüllte Imperfekt erheischt ein es erfüllendes Futurum. Statt die prekären Zustände auf die Vorgeschichte zu verweisen, betreibt Bloch eine Spurensuche des Noch-Nicht: „Die Menschen sind nicht fertig, also auch ihre Vergangenheit nicht. …Die Entdeckung der Zukunft im Vergangenen, das ist Philosophie der Geschichte, also auch der Philosophiegeschichte.“ (SO, 517) – und fügen wir im Sinne Blochs hinzu: der Religionsgeschichte. 2. Zum religiösen „Protuberanzenausbruch der Hoffnung“ E rst in diesem Zusammenhang lässt sich die hohe Bedeutung der Religion für Bloch angemessen interpretieren. Sie ist, wie schon der Hinweis auf die teleologische Struktur materieller Dynamik zeigt, nicht der einzige Topos der Hoffnung, wohl aber ein besonders ausgezeichneter. 1964 hatte Bloch, schon im Rückblick auf sein Werk, in einem Interview mit Jürgen Rühle betont, Religion sei „der stärkste Protuberanzenausbruch von Hoffnung und war es immer, mit vielen Optativen, mit viel Wunschträumen, Wunschzeiten, Wunschräumen, die Platz hatten“ (TLU, 347). So heißt es auch in seiner Studie Atheismus im Christentum: „Wo Hoffnung ist, ist auch Religion; nicht gilt freilich, in Ansehung der von Himmel und Obrigkeit verhängten Religion, die Umkehrung: Wo Religion ist, ist auch Hoffnung.“ (AC, 23; TLU, 34727) Die wichtige Einschränkung dieser „Exodus-Losung“ (AC, 23) macht deutlich, dass Bloch die Religionskritik von der Aufklärung bis zu Feuerbach und Marx nicht einfach revoziert. Der Verdacht, Religion diene der Vertröstung der unmündigen Massen auf ein ungewisses Jenseits, findet vielfach Nahrung. Aber dies ist nicht das letzte Wort; Religion verdient vielmehr eine über Marx hinausgehende potenzierte Kritik: Die Aufgabe besteht darin, das auch von Marx übersehene aufklärerischere Potenzial der biblischen und nachbiblischen Traditionen herauszuarbeiten – eben „jenen Schatz der Bibel, der nicht von Rost und Motten, am wenigsten vom Lessinglicht der Aufklärung gefressen worden ist“ (ebd.) – und gegen die konformistische Lesart zu pointieren, was Blochs Aufmerksamkeit wie schon im Utopie-Buch auch auf heterodoxe Autoren lenkt28. Dass „der Blick nach vornhin den Blick nach Oben“ ablöst (ebd., 346), ist ein Prozess, der bereits in den biblischen Schriften begann. Sie als bloß ‚faulen Zauber‘ und ‚Opium‘ anzusehen, greift zu kurz; „aller geglaubte Zauber wäre ja unter flachen Betriebmachern 188 verwunderlicher als der Zauber selbst“, wie 27 28 In TLU, 247 ohne den kritischen zweiten Teil des Zitats und dem Prinzip Hoffnung zugeschrieben. Dies schloss auch Autoren wie MARCION ein. BLOCHs Sympathien für MARCION (vgl. PH, 1499f) provozierte mit Grund Kritik; vgl. Micha BRUMLIK, Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung der Menschen, Frankfurt/M. 1992, 90f. __________________________________________________________________________________________________________ ____ 7 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? Bloch konstatiert (AC, 38). Etwas in ihnen muss über bloße Jenseits-Vertröstung hinausweisen. Die Exodus-Tradition, das Murren und Hadern des Volkes mit seinem Gott (ebd., 57f), die eschatologische Predigt und Praxis Jesu und die „apokalyptische Weltverwandlung“ sind religionsgeschichtlich exzeptionell und konterkarieren eine affirmative Lektüre der Bibel (PH, 1504). Sie weisen, wie die messianische Idee insgesamt, nicht nach oben, sondern nach vorne in die Zukunft (AC, 61). Dabei konstatiert Bloch auf den ersten Blick einen geradezu gnostisch anmutenden Dualismus zwischen Schöpfung und Exodus; erstere steht für einen „Herrengott“, letzterer für einen „Äon ohne Elend und Herrschaft“ (ebd.) und den auf Zukunft ausgerichteten „Gott des Dornbuschs“ (ebd., 24). Schöpfung steht hier für die Festsetzung einer göttlich legitimierten Ordnung und für die scheinbar unaufhebbare ‚Rück-Bindung (re-ligio)‘ alles Seienden an eine transzendente Macht (ebd., 23), die immer nur überwältigende und knechtende Macht ist: Rudolf Ottos mysterium tremendeum et fascinosum29. Demgegenüber ist das Exodus-Motiv darauf angelegt, diese Scheinordnung, die sich in den Köpfen als unwandelbar festgesetzt hat, zu sprengen, und zwar mit der Perspektive einer künftigen (innerweltlichen) Vollendung: „Subversive, eschatologische Finalwelle genug, mit unternommenen Exodus, utopisches Reich am vollen Novum des Ufers.“ (AC, 24f) Was zu Beginn der Schrift Atheismus im Christentum programmatisch formuliert wurde, jenes Transzendieren ohne Transzendenz (AC, 23), hebt im Alten Testament an, erfährt aber einen Kulminationspunkt im Neuen. Die Gestalt Jesu ist für Bloch über jeden historischen Zweifel an ihrer Existenz erhaben. „Der Stall, der Zimmermannssohn, der Schwärmer unter kleinen Leuten, der Galgen am Ende,“ heißt es im Prinzip Hoffnung, „das ist aus geschichtlichem Stoff, nicht aus dem goldenen, den die Sage liebt.“ (PH, 1482) Jesus als Menschensohn und innerweltliche Transzendenz löst den Gottessohn ab. In der Tat ist in Jesus von Nazareth Gott Mensch – respektive Fleisch – geworden, aber so, dass alle Projektionen in eine dinglich-überweltliche Transzendenz der menschlichen Geschichte zurückerstattet werden. Die von der Priesterschrift festgehaltene Gottebenbildlichkeit des Menschen wird in der Menschensohn-Idee (einschließlich der Bilderwelt von Auferstehung und Himmelfahrt) in ihre Wahrheit gesetzt (AC 194f), indem der Mensch Züge des transzendenten Gottes als die eigenen, noch unvollendeten erkennt. Dieses ‚Beerbungsprojekt‘ sieht sich auch als kritische, d.h. nachidealistische Fortsetzung der Hegelschen Religionsphilosophie; sie „betrachtet ihren Gott nicht als Geist jenseits der Sterne, von außen stoßend, 29 Vgl. Rudolf OTTO, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 23-251936, 13-37, 42-52. __________________________________________________________________________________________________________ ____ 8 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? gar als Furchtgötzen aus der Barbarei. Sondern sie deklariert ihn als Geist in den Geistern, in der Tiefe der menschlich erlangten Subjektivität wohnhaft, statt in einer äußerlichen Höhe.“ (SO, 317) Die Mediatisierung des Absoluten in den Prozess der menschlichen Geschichte war nach Spinoza der bedeutendste Akt der Entmythologisierung des weltjenseitigen Herrschers, vor den der Mensch nur zitternd treten konnte. Die konservative Kritik der Hegelschen Religionsphilosophie warf ihr bekanntlich pantheistische Tendenzen vor, „während sie doch bedeutend mehr mit der Menschwerdung Gottes Ernst macht, mit dem, was Feuerbach nachher als ‚Anthropologisierung‘ der Religion vorgetragen hat“ (ebd.). 189 Blochs Atheismus im Christentum ist der Versuch, diesen kritischen Anfang fortzuschreiben, ja zu vollenden, ohne die subversiven Potentiale der Religion zu vergessen. Dass im religionsphilosophischen Hauptwerk Blochs das Christentum schon im Titel besondere Aufmerksamkeit erhält, hat seinen tieferen Grund, rückte es doch die Menschwerdung Gottes ins Zentrum seines Bekenntnisses. Der weltjenseitige Gott wird Mensch, und zwar, in Blochs Deutung, ohne jeden Rest, damit der Mensch nicht etwa Gott, sondern wahrhaft Mensch werden kann; ein Projekt, das seine Voraussetzungen bereits im Alten Testament hat und im Neuen weiter ausgeführt wird. Die späteren dogmatischen Entfaltungen mögen prima facie dahinter zurückfallen, doch eignet auch ihnen ein utopisches Potential. Bloch intendiert die Inversion, nicht die abstrakte Negation der orthodoxen Christologie; dies geschieht, indem die Menschwerdung Gottes ‚zu Ende‘ gedacht und die Differenz der Naturen, wie sie das Chalkedonense festhält, im Geist Feuerbachs zugunsten der menschlichen Natur aufgelöst wird. Einer ‚Natur‘ allerdings, die sich selbst noch nicht genügt, nicht sich im biologischen Befund erschöpft, ohne doch ihrerseits göttliche Attribute zu erhalten (AC, 282). Während bei Feuerbach die geschichtlich-gesellschaftliche Dynamisierung weitgehend fehlt (ebd., 281), ist für Bloch die Überführung von Theologie / Religion in Anthropologie 30 und Utopie ein Projekt, das jene eschatologischapokalyptische Dimension einbeziehen muss, welche Teile des Frühjudentums, die Predigt Jesu und das frühe Christentum entscheidend prägte31. Wenig kann Bloch den damals aktuellen Formen dialektischer Theologie abgewinnen: Karl Barths Modell steht für die Konstruktion eines autoritären, heteronomen und ungeschichtlichen Offenbarungsbegriffs (AC, 72-80), der „gegen alle Humanisierung des Glaubens, gegen alle ‚Sprech- und Denkbewegung der 30 31 „Die Religion ist die Reflexion, die Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst ... Gott ist der Spiegel des Menschen“ (Ludwig FEUERBACH, Das Wesen des Christentums = ders., Werke, Band 5, hrsg. von Werner SCHUFFENHAUER und Ludwig HARIG, Berlin 1984, 127, Kursivierung im Original). Vgl. hierzu auch Jürgen MOLTMANN, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie (BevTH 38), München 61966, 313-317. __________________________________________________________________________________________________________ ____ 9 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? Kreatur‘ das schlechthin theonome, das den Menschengeist schlechthin negierende Wort Gottes“ setzte (SO, 316). Für Bloch gehören Offenbarungsbegriff und Anthropologie Barths zu den autoritären Diskursen des frühen 20. Jahrhunderts. Immerhin weist Bloch der Theologie Barths gerade die Funktion eines „Antidoton“ zu. Sie hat nämlich – wenn auch um den Preis ihres despotischen, antiliberalen Charakters – „das Humanum, das Cur Deus homo, vor der Trivialität geschützt, in das es ein allzu umgänglicher Liberalismus gebracht hat“ (PH 1405). Barth mobilisiert gegen die liberale Theologie den nonkonformistischen Zug Kierkegaards und schützt so die christliche Theologie (freilich: indem er sie ins Absurde führt) vor der Akkomodation an das bürgerliche Selbstbewusstsein und damit vor ihrer Neutralisierung. Dieses kritische Element vermisst Bloch an Rudolf Bultmanns Programm der Entmythologisierung. Sie gibt den zeitlichen Charakter der Eschatologie zugunsten einer präsentischen preis. In seiner Kritik aller objektivierenden – eben mythischen – Rede von Transzendenz entgeht Bultmann der rebellische Charakter mythischer Sprache im Neuen Testament (AC 70), und so wird gleichsam das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Eschatologie ist Bultmann nicht etwa das Kommende, die Öffnung auf Zukunft hin, sondern die Gegenwart als Augenblick der Entscheidung, in welchem der Glaubende der Welt entnommen ist. So holt er das Eschaton „aus dem historischkosmischen Sprengraum und dem Christus, der so hochexplosiv darin eingelassen ist, gleichfalls in die einsame Seele und ihren Bürgergott zurück“ (ebd.). Der Radikalismus existenzialer Interpretation des Neuen Testaments – von Bloch „individualistische Heideggerei“ genannt (ebd., 72) – unterscheidet sich im Ergebnis nicht sonderlich von der Exegese der liberalen Väter. Es bleibt die Frage, ob Bultmanns „‘Entweltlichung‘ bei Belassung höchst unchristlicher Weltzustände nicht zum Schlupfwinkel, auch Alibi dessen gerät, was man heute einen Christen nennt“ (ebd.). Dies wäre für Bloch die böse Parodie dessen, was in den biblischen Schriften seinen hoffnungsvollen Anfang nahm: die Vollendung des noch offenen zur Welt vermittelten menschlichen Wesens, „denn der Mensch ist etwas, was erst noch gefunden werden muß“ 190 (SP, 32). Weil er bei aller Verwiesenheit auf seine physische Basis sich in dieser doch nicht erschöpft, sondern das Hic et Nunc transzendiert, ist sein ‚Wesen‘ noch nicht, vielmehr wird es noch. Das gilt allerdings nicht nur für den Menschen, sondern für die Welt, die sich ‚als ganze‘ noch nicht hat. Wie das Christentum bei allem Akzent auf der Gegenwärtigkeit des definitiven Anfangs doch das noch ausstehende Ende nicht aus dem Blick verliert und das Schicksal des Menschensohnes mit demjenigen der Schöpfung verbindet, so muss sich auch seine emanzipatorische Beerbung des __________________________________________________________________________________________________________ ____ 10 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? noch unvollendeten Charakters der Welt bewusst bleiben. „Das Eigentliche oder Wesen“, heißt es im Prinzip Hoffnung, „ist dasjenige, was noch nicht ist, was im Kern der Dinge nach sich selbst treibt, was in Tendenz-Latenz des Prozesses seine Genesis erwartet; es ist selber erst fundierte, objektiv-reale Hoffnung.“ (PH, 1625) Damit kehren die Überlegungen zurück zum Schöpfungsgedanken, zur Genesis. „Die wirkliche Genesis“, betont Bloch in Fortführung Marxscher Gedanken, „ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch.“ (ebd., 1628, vgl. ebd., 310) 3. „Hoffnung ist kein Prinzip“ Oder: Gibt es ein weltimmanentes Telos emphatischer Hoffnung? D ie Philosophie Blochs, die in den sechziger Jahren auch von Theologen wie Jürgen Moltmann, Karl Rahner und Johann Baptist Metz diskutiert wurde, dürfte heutige Rezipienten nicht nur wegen ihres Pathos befremden, mit dem sie vorgetragen wird32; ebenso fremd ist inzwischen auch die Idee einer Hoffnung, die weit über die kleinen Ziele des Lebens hinausweist und gegen den Weltlauf am aufrechten Gang des Menschen festhält (NMW, 13). In einer Epoche, in der jedes Unternehmen eine eigene ‚Philosophie‘ hat und die Strategien der Profitmaximierung zur Vision werden; in welcher das Subjekt als Verkaufsagentur mit dem Reich der Freiheit verwechselt wird und keine Innovation die von Markt und Konkurrenz bestimmte Welt transzendiert, scheint ein Buch wie Blochs Prinzip Hoffnung aus einer fernen Zeit zu stammen. Das beflügelt die wohl- 191 feile Kritik jener, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen stehen und sich jeden Gedanken an deren Veränderung verbieten. Diesen Dogmatismus zu verflüssigen, die Möglichkeit eines anderen nicht bloß zu wünschen, sondern auch zu denken, bleibt die Leistung Blochs angesichts 32 Allerdings gab es schon zu Lebzeiten BLOCHs Leser, die sich am Stil seiner Schriften stießen. So schreibt im Juli 1960 George LICHTHEIM an Gershom SCHOLEM: „Was mich [von der Lektüre des Prinzip Hoffnung, R.B.] abhält, ist nicht so sehr die Länge als der Stil, der eine fatale Ähnlichkeit mit dem Buberschen aufweist. Da jede Art von Verstiegenheit, Selbstgefälligkeit und Verschmocktheit, welcher ideologischen Färbung auch immer, mir unsympathisch ist, kann ich mich nur schwer zur Lektüre dieses Werkes entschliessen…“ SCHOLEM fügt postwendend hinzu: „Geben Sie nicht ohne Not Geld für Ernst Bloch aus. Sie werden es bereuen. Die unerträgliche expressionistische Prosa und der Ausverkauf aller bedeutenden Metaphern sämtlicher Religionen und Ideologien macht die Lektüre seiner Schriften zur Qual, wenn ich auch von der fatalen Ähnlichkeit mit dem Stil Bubers … noch nichts gemerkt habe.“ SCHOLEM, Briefe II (Anm. 24), 66, 67f. Das ist, wie so manches in seinen Briefen, bedeutend schärfer formuliert als in den zur Publikation bestimmten Vorträgen und Essays; vgl. etwa das mildere Urteil über BLOCH in SCHOLEM Judaica I (Anm. 19), 13, Anm. 1. __________________________________________________________________________________________________________ ____ 11 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? einer Gegenwart, in der die aktuelle Soziodizee (P. Bourdieu33) sich durch keine Krise erschüttern lässt. Denken, das mehr sein möchte als bloße Nachkonstruktion dessen, was ist, kann immer noch von Bloch lernen. Und im Zeitalter eines wachsenden Chauvinismus, eines aggressiven Fundamentalismus und einer ausgeprägten Denkfaulheit gilt ungeschmälert: „Jeder Intelligenzhaß dient der Reaktion…“ (PM 205). Hoffnung knüpft sich nicht an die Abdikation der Vernunft. Das gilt auch für eine Theologie, die Religion nicht als Droge versteht, sondern ihr Vernunft- und Hoffnungspotenzial herausarbeitet. Blochs „Phänomenologie des Hoffens“, schreibt Jürgen Moltmann, kann selbst noch in der „Hellsichtigkeit ihres Mißverständnisses“ der christlichen Hoffnung dazu verhelfen, „ihre eigene Sprengkraft und Sprengintention wiederzufinden“34. Solche Sätze klingen heute, fast fünfzig Jahre später, nachdem die einstigen Aufbrüche evangelischer wie katholischer Theologie erlahmt sind, ungewohnt und (wieder) neu. Indessen wird man zögern, Blochs Vertrauen in den Gang der Geschichte oder in die „Tendenz des Weltgeschehens“ (PH, 285) zu teilen. Seine Spurensuche erweckt zuweilen den Eindruck, als habe der Suchende immer schon gefunden; als müssten die Details in ein größeres Ganzes nur noch eingefügt werden. Die Ankunft jener Heimat, die, wie es in Aufnahme eines Motivs aus der ersten Fassung des Utopie-Buches am fulminanten Ende des Prinzip Hoffnung heißt, „in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“ (ebd., 1628), ist ihm allzu gewiss. Wird hier, wie Adorno, der ebenso emphatisch die uneingelösten Versprechen der Kindheit gegen den resignierten Konformismus der Erwachsenen festhielt, einwandte, Utopie nicht auf den Allgemeinbegriff abgezogen, „der jedes Konkrete subsumiert, das allein doch Utopie wäre“35? So nachdrücklich – mit Walter Benjamin – die Unabgeschlossenheit der Geschichte ausgesprochen wird, so gering ist, – im Unterschied zu Walter Benjamin – das Gewicht der Details historischer Erfahrung für die Entfaltung des Ganzen. Während Bloch in vielen, heute wenig beachteten Einzelbeiträgen Stellung nahm zum aktuellen geschichtlichen Stand – nicht zuletzt zum Sieg und Terror des Nationalsozialismus in den dreißiger Jahren (vgl. PM 87-259) – gewann das Prinzip Hoffnung Gestalt nahezu unbeeindruckt von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die den Glauben an das Telos der Geschichte hätten erschüttern können. „Hoff- 33 34 35 Die Soziodizee „legitimiert ein Herrschaftsverhältnis, indem sie es einer biologischen Natur einprägt, die selbst eine naturalisierte gesellschaftliche Konstruktion ist“ (Pierre BOURDIEU, Die männliche Herrschaft. Übersetzt von Jürgen Bolder, Frankfurt/M. 2005, 44). Die Funktion einer ‚naturalisierten gesellschaftlichen Konstruktion‘ konnte in vormodernen Gesellschaften auch eine göttlich sanktionierte Ordnung übernehmen. Jürgen MOLTMANN, Die Kategorie Novum in der christlichen Theologie (1965), in: ders., Perspektiven der Theologie, Gesammelte Aufsätze, München-Mainz 1968, 174-188, hier: 175. Theodor W. ADORNO, Blochs Spuren, in: ders., Noten zur Literatur (Anm. 13), 233-250, hier: 247. __________________________________________________________________________________________________________ ____ 12 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? nung“, so nochmals Adorno, „ist kein Prinzip.“36 Jenseits persönlicher Rivalitäten und Kränkungen ist damit die Differenz in der Sache zwischen Bloch und Adorno bezeichnet, wobei Adorno den Denk-Impuls des frühen Bloch gegen den späten verteidigt37. Wie Hegel geht Blochs teleologische Dynamik „hinweg über das, woran seine Erfahrung ihr Substrat hat, insofern ist er Idealist malgré lui. Seine Spekulation will, nach einer älteren Formulierung, Luftwurzeln treiben, ultima philosophia sein und hat doch die Struktur von prima philosophia, ambitioniert das große Ganze.“38 Nicht die spekulative, über das scheinbar Gegebene hinaustreibende Kraft seines Denkens wäre ihm vorzuwerfen, sondern die quasi-metaphysische Absicherung der Hoffnung, die, trotz seiner Kritik am Hegelschen Idealismus (SO, 453-473) auf die vorschnelle Versöhnung von Subjekt und Objekt, Natur und Kultur, Individuum und Gesellschaft im Prozess der Geschichte hinausläuft. Diese „Ontologie des Noch-Nicht-Seins“, wie es in der Tübinger Einleitung zur Philosophie heißt (TEP, 212-242), ist vom Gedanken der vollendeten Totalität – dem „Totum“ (PH. 326) als Telos dessen, was Bloch das „transzendenzlose Transzendieren“ (PH, 241) nennt – schwerlich zu lösen. Das Prinzip Hoffnung ist fundiert in der Konstruktion eines „universalen materiellen Agens“ (PH, 287) oder eines ‚Natursubjekts‘ (LM, 421; EM, 223-230). Mit Marx bedarf dieses „materielle “ (ebd.; TEP, 208f) der menschlich-tätigen Vermittlung, ohne von ihr gänzlich absorbiert zu werden. Bloch geht aber über Marx hinaus, insofern diese Basis den quasi-metaphysischen Grund objektiver Hoffnung bildet. Dem ‚Natursubjekt‘ wird die Aufgabe übertragen, die einst das Proletariat als historisches Subjekt und dessen Partei, der Bloch spät erst die Gefolgschaft kündigte, übernehmen sollte. Dass Hoffnung, wie Bloch in seinen Spätschriften einräumt, auch „enttäuscht werden kann“ (TLU, 336), gilt eher für ihre bestimmte Gestalt, und selbst die „Hoffnung mit Trauerflor“ (ebd.) 192 zweifelt nach der kurzen Zeit ihrer Shivah nicht ernsthaft an ihrem Ziel. Sie ist weit entfernt von Walter Benjamins Einsicht in den katastrophischen Charakter der Geschichte oder Max Horkheimers metaphysischer Trauer, die als Subtext das emanzipatorische Pathos der Neuzeit begleitet. Jenes emphatische „uns hilft kein Gott, kein höheres Wesen“, das die Internationale anstimmt, besitzt unterhalb der auf die etablierte Ordnung zielenden Polemik ein Bewusstsein der Verlassenheit: die Erfahrung, wie Horkheimer sie formulierte, „daß die Gebete der Verfolgten in höchster Not, daß die der Unschuldigen, die 36 37 38 Ebd., 248; vgl. hierzu auch Detlev CLAUSSEN, Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt/M. 2003, 349-356. So auch in seiner Erinnerung an BLOCHs Geist der Utopie, vgl. oben, Anm. 13. ADORNO, Blochs Spuren (Anm. 13), 248; vgl. auch SCHMIDT, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx (Anm. 15), 135-141. __________________________________________________________________________________________________________ ____ 13 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? ohne Aufklärung ihrer Sache sterben müssen“ 39 , unerhört bleiben. „Was den Menschen, die untergegangen sind, geschehen ist“, heißt es im Bergson-Aufsatz (1934), „heilt keine Zukunft mehr“40, und kein Prinzip Hoffnung bietet ihnen Trost. Das Hoffnungspotential der Neuzeit ist schmaler als Bloch dachte und haarscharf an dem von ihm wenig geschätzten Pessimismus (WF, 29-33) angesiedelt. Dieser Einsicht folgend bleibt Adornos Begriff der Hoffnung negativ bestimmt. „Ist Rettung der innerste Impuls jeglichen Geistes“, schreibt Adorno in der Negativen Dialektik, „so ist keine Hoffnung als die der vorbehaltlosen Preisgabe, des zu rettenden wie des Geistes, der hofft.“ 41 Die Preisgabe des Prinzips der Selbstbehauptung um der Hoffnung willen intendiert kein sacrificium intellectus, sondern den Verzicht auf Herrschaft, welche Hoffnung in ihren Dienst nimmt und so ins Gegenteil verkehrt. Die Kritik an Blochs identitätsphilosophischen Affinitäten im entfalteten Begriff der Hoffnung lässt auch die Integration der biblischen Religionsgeschichte in das Prinzip Hoffnung als „Religion im Erbe“ (PH 1521) nicht unberührt. So fruchtbar es ist, biblische Texte in emanzipatorischem Interesse gegen den damaligen wie heutigen Mainstream der Forschung zu lesen und subversive Tendenzen aufzudecken, so frappiert zuweilen Blochs exegetische Unbekümmertheit: man denke etwa an die Deutung der Schöpfungsnarrative oder die Bewertung der Gottes- und Menschensohn-Terminologie in biblischen und außerbiblischen Schriften42. Die religionsgeschichtlichen Befunde bilden lediglich das historische Material für die Füllung jenes Rahmens, der vom Geist der Utopie bis zum Prinzip Hoffnung entworfen wurde. Die biblischen Schriften sind jedoch zu lesen nicht auf ein einziges, schon festgelegtes Ziel hin, sondern primär als theologische Kommentare zur Geschichte, als Geschichtsmidraschim, um einen Begriff Yosef Hayim Yerushalmis hier einzuführen43. Der 193 Verzicht auf alles Abschlusshafte, Vorentschiedene kennzeichnet diesen, Bloch keineswegs fremden experimentellen oder modellhaften Charakter der unterschiedlichen Traditionen und Textstrata. Diese, sich an der Geschichte und aneinander abarbeiten39 40 41 42 43 Max HORKHEIMER, Zu Theodor Haeckers ‚Der Christ und die Geschichte‘ (1936), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 4, hrsg. von Alfred SCHMIDT, Frankfurt/M. 1988, 89-101, hier: 99. Max HORKHEIMER, Zu Bergsons Metaphysik der Zeit, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 3, hrsg. von Alfred SCHMIDT, Frankfurt/M. 1988, 225-248, hier: 247. Zu Walter BENJAMIN vgl. Zentralpark und Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg von Rolf TIEDEMANN und Hermann SCHWEPPENHÄUSER, Band I/2, Frankfurt/M. 31990, 655-704. Theodor W. ADORNO, Negative Dialektik (Anm. 21), 384. Zur neueren Diskussion vgl. Helmut MERKLEIN, Zur Entstehung der urchristlichen Aussagen vom präexistenten Sohn Gottes, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 247-276; Rudolf LAUFEN (Hg.), Gottes ewiger Sohn. Die Präexistenz Christi, Paderborn u.a. 1997; Daniel BOYARIN, The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ, New York 2012, bes. 25-101. Vgl. Yosef Hayim YERUSHALMI, Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte, aus dem Amerikanischen von Wolfgang HEUSS und Bruni RÖHM, Berlin 1993, 92. __________________________________________________________________________________________________________ ____ 14 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? den Traditionen treten nicht die Flucht ins Jenseits an, vielmehr artikuliert sich hier ein ethischer und politischer Widerstand gegen die infame Wirklichkeit, der theologisch motiviert ist. Schöpfung und Erlösung sind nicht einander entgegengesetzte Größen. Schöpfung setzt sich in menschlicher Praxis fort; während das dam bve am Anfang (Gen 1,31) zugleich unabgegoltene Verheißung ist. Der Shabbat mit seinen unterschiedlichen Begründungen in Ex 20 und Dtn 5 verbindet schließlich beides und bietet einen Vorgeschmack des Kommenden, ohne die Nöte der Gegenwart vergessen zu machen. Der aufrechte Gang des Menschen muss nicht gegen Gott durchgesetzt werden, sondern wird von Ihm trotz der Rückfälligkeit der einstigen Sklaven bereits innerweltlich ermöglicht (vgl. Lev 26,13). Bloch unterschätzte, wie vor ihm schon Feuerbach und Schopenhauer, die ‚Beerbungsresistenz‘ von Judentum und Christentum. Der Anspruch, die theologisch-eschatologische Tradition ohne unerfüllten Rest in ein säkulares Projekt zu transformieren (und nicht, wie in der ersten geschichtsphilosophischen These Benjamins, in Dienst zu nehmen44), verkennt das Gewicht der historischen Negativität und der Not in der Natur als Kostenseite der Evolution. Sie ist von der ‚hurrapantheistischen Alternative‘ (TEP, 219) nicht gar so weit entfernt, wie Bloch es möchte. Auf dieses Problem macht Johann Baptist Metz aufmerksam, wenn er die Naturgeschichte des Menschen als „seine Passionsgeschichte“ bezeichnet45. In der Tat besitzt die Rede von der Einheit zwischen Mensch / Geschichte und Natur einen utopischen Überhang46, dessen negativer, uneingelöster Teil von Bloch zwar wahrgenommen, aber nicht konstitutiv wird für das Prinzip Hoffnung. Die Dynamik in Geschichte und Natur, die Bloch zum Fundament der Hoffnung macht, fordert ihre Opfer und verfährt mit den Individuen nicht schonender als der Hegelsche Weltgeist. Davon lenken auch Gedankenspiele mit Unsterblichkeit und Seelenwanderung kaum ab (PH, 1391). Sie nehmen, wie Jürgen Moltmann einwendet, die „Tödlichkeit des Todes“47 nicht ernst und fallen hinter Blochs eigene Einsicht zurück, dass „der Schlund der Verwesung … jede Teleologie“ frisst (PH, 1301). Aus Moltmanns Einwand gegen Bloch wird aber erst dann ein Argument, wenn er nicht zum Tod als letzte Bastion theologischer Apologetik seine Zuflucht nimmt, sondern auf die Unvereinbarkeit von Todeserfahrung und identitätsphilosophischen Restbeständen bei 44 45 46 47 Vgl. BENJAMIN, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, Band I/2, (Anm. 12), 691-704, hier 693 (These I). Johann Baptist METZ, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 31992: 108-111, hier: 110. Vgl. ebd., 109. MOLTMANN, Theologie der Hoffnung. (Anm. 31), 326-330, hier: 329, vgl. ferner Heino SONNEMANS, Hoffnung ohne Gott? Freiburg-Basel-Wien 1973. __________________________________________________________________________________________________________ ____ 15 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? Bloch aufmerksam macht. Kein Hinweis auf die Evolution des Kosmos und des Lebens oder den geschichtlichen Fortschritt, der, worauf Horkheimer hinwies „teuer erkauft“ wurde, mindert oder rechtfertigt das Leiden der Kreatur. „Die heutige Kultur, so nochmals Horkheimer, „ist das Resultat einer entsetzlichen Vergangenheit.“48 Das prima facie pauschal anmutende Urteil Horkheimers erinnert an den Preis, um den auch die heutige Kultur erkauft wurde und den weder sie noch eine künftige, humane Gesellschaft den vergangenen Generationen jemals wird zurückerstatten können. Philosophisch ist zudem kaum zu entscheiden, ob jener „Spediteur der organischen Welt … zu ihrer Katastrophe“ nicht diese als ganze, den Menschen eingeschlossen, an das Anorganische zurückgibt, so daß nicht nur, wie bei Marx, die Gattung über das Individuum 49, sondern das Anorganische über die Gattung siegt. Der Schmerz dieser Nichtidentität – in der außermenschlichen Kreatur stumm oder dumpf erduldet, im Menschen zu sich selbst kommend – kollidiert hart sowohl mit einer teleologisch interpretierten Hoffnung als auch mit einer philosophisch-emanzipatorischen Beerbung biblischer Traditionen. Es ist fraglich, ob, wie Bloch versichert, „die Logik dieses dreitausendjährigen besonderen VorScheins gottfrei ebenso wie durchaus religions-philosophisch aufgeht“(AC, 25). Blochs Reserven gegenüber einem göttlichen Despoten, der 194 seine Dekrete erlässt und Unterwerfung fordert, sind durchaus begründet. Die fatale Renaissance autoritärer Religions- und Offenbarungsmodelle in der Gegenwart sind durchaus geeignet, seinen Verdacht zu bestärken. Aber die von ihm selbst herausgearbeitete subversive Kraft des ‚Exodus-Paradigmas‘ geht nicht integral ein in ein ausschließlich diesseitiges Emanzipationsprojekt. „Daß keine innerweltliche Besserung ausreichte, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“, schreibt Adorno über Kants Postulatenlehre, „daß keine ans Unrecht des Todes rührte, bewegt die Kantische Vernunft dazu, gegen Vernunft zu hoffen.“ 50 Adornos dialektische Formulierung, dass Vernunft dazu bewogen werde, gegen Vernunft zu hoffen, zeigt die prekäre Lage umfassender Hoffnung angesichts eines Weltlaufs etsi deus non daretur an. Der Sprung oder Riss inmitten aller Versicherung eines gegebenen oder für die Zukunft verbürgten, sich realisierenden Sinnes ist ebenso wenig zu eskamotieren wie die Weigerung des Denkens, 48 49 50 Zitate: Max HORKHEIMER, Kritische Theorie gestern und heute, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 8, hrsg, von Gunzelin SCHMID NOERR, Frankfurt/M. 1985, 336-353, hier: 343. Zu den späten Schriften HORKHEIMERS vgl. auch Werner POST, Kritische Theorie und metaphysischer Pessimismus. Zum Spätwerk Max Horkheimers, München 1971. Ob man bei HORKHEIMER von einer Rückkehr zum „postulatorischen Gottesglauben Kants“ sprechen kann, steht allerdings dahin; vgl. Gerd NEUHAUS, Fundamentaltheologie. Zwischen Rationalitäts- und Offenbarungsanspruch, Regensburg 2013, 77. Vgl. Karl MARX / Friedrich ENGELS, Gesamtausgabe (MEGA), Band I/2 (Anm. 2), 392. ADORNO, Negative Dialektik (Anm. 21), 378. __________________________________________________________________________________________________________ ____ 16 ___________________________________________________________________________________________________________ ____ René Buchholz: Atheismus im Christentum? das herrschende und vergangenen Unrecht als endgültig hinzunehmen. „Die Entdeckung der Zukunft im Vergangenen“ (SO, 517) bedeutet auch, dass das Vergangene an die Zukunft einen Anspruch hat, den Blochs Utopie ohne idealistische Hochstapelei schwerlich wird einlösen können. Das Motiv der Gerechtigkeit, das den Einspruch gegen die innerweltlichen Verhältnisse bis hin zum Protest gegen den Tod speist, kommt in Blochs zum Prinzip erhobener Hoffnung zu kurz. Es bildet aber ein rationales Motiv für die Persistenz der Religion und ihre Resistenz gegenüber religionsphilosophischen Beerbungsansprüchen. Adorno und nicht minder Max Horkheimer hielten gegen Hegels und Marxens Spott über das bloße Sollen51 am moralischen Motiv fest, das durch keine ‚historische Tendenz‘ und kein ‚Natursubjekt‘ gedeckt ist und doch zu einem emphatischen, über die Ordnung der Tatsachen hinausgehenden Vernunftbegriff wesentlich gehört. Mit dieser Kritik ist allerdings Blochs Insistenz auf gesellschaftliche Veränderung und Vernunftimmanenz der Hoffnung nicht schon erledigt. Denn es sind die Veränderbarkeit der bestehenden Welt und die Relativierung der Gegenwart Bedingungen dafür, dass ein Bewusstsein bleibt von Transzendenz, die ihrer Erfüllung harrt und sich nicht in der leeren Unendlichkeit verliert. Ob die Menschen sich, wie es bei Karl Rahner heißt, zu findigen Tieren zurückkreuzen52 oder sich wenigstens ein Bewusstsein des leeren Throns Gottes erhält, ist abhängig von der vernünftigen Einrichtung des Diesseits. Wo religiöse Hoffnung explizit bleibt, steht sie heute, wie der slowenische Philosoph Slavoj Žižek schreibt, vor der Frage, ob sie eine therapeutische oder kritische Funktion haben soll. „Entweder“, so Žižek, „hilft sie den Menschen dabei, im Rahmen der existierenden Ordnung besser zu funktionieren, oder sie versucht, sich als kritische Institution zu etablieren, die das, was mit der Ordnung an sich nicht stimmt, zur Sprache bringt und einen Raum für abweichende, kritische Stimmen bietet. Im zweiten Fall tendiert die Religion als solche dazu, die Rolle einer Häresie zu spielen.“53 Ernst Bloch hätte nicht gezögert, letzteres zu empfehlen – und ich möchte mich dieser Empfehlung durchaus anschließen, denn noch die höchsten theologischen Begriffe haben im Säkularen, Profanen sich zu bewähren.  51 52 53 Vgl. etwa Max HORKHEIMER, Gesammelte Schriften, Band 7, hrsg. von Gunzelin SCHMID NOERR, Frankfurt/M. 1985. 173-196, 269-294, 385-404. Vgl. Karl RAHNER, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg-BaselWien 1996, 58. Slavoj ŽIŽEk, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion. Übersetzt von Nikolaus G. SCHNEIDER, Frankfurt/M. 2003, 7. __________________________________________________________________________________________________________ ____ 17 ___________________________________________________________________________________________________________ ____