Bayerns Linken-Chef Ates Gürpinar: "Dagegen war Corona gar nichts" | Abendzeitung München
Interview

Bayerns Linken-Chef Ates Gürpinar: "Dagegen war Corona gar nichts"

Bayerns Linken-Chef befürchtet wegen der Kostenexplosionen eine noch schlimmere Krise. Um zu intervenieren, rufe seine Partei zum "heißen Herbst" auf, sagt er. Ein Gespräch über Kriegsgewinnler, Waffenlieferungen, Briefkastenfirmen – und Flüge im Privatjet.
| Natalie Kettinger
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"Spätestens, wenn ein selbsternannter Mittelständler mit dem Privatjet einschwebt, stimmt doch etwas nicht mit der Frieren-für-den-Frieden-Diskussion", sagt Gürpinar.
"Spätestens, wenn ein selbsternannter Mittelständler mit dem Privatjet einschwebt, stimmt doch etwas nicht mit der Frieren-für-den-Frieden-Diskussion", sagt Gürpinar. © Olaf Krostitz

AZ-Interview mit Ates Gürpinar: Der 37-jährige Münchner ist seit 2016 Co-Chef der Linken in Bayern und seit 2021 Mitglied des Bundestages sowie einer der stellvertretenden Vorsitzenden der Bundespartei.

AZ: Herr Gürpinar, die Linke ruft aufgrund der steigenden Energiepreise zu einem "heißen Herbst" mit Demonstrationen gegen die ungleiche Verteilung der finanziellen Lasten auf. Eine Idee, die auch der AfD gekommen ist. Werden Linke und Rechte also bald gemeinsam marschieren?
ATES GÜRPINAR: Ganz im Gegenteil. Die Rechten suchen eine Gelegenheit, um die Gesellschaft zu spalten. Wir rufen zum heißen Herbst auf, um den Menschen zu helfen, ein Auseinanderdriften zu verhindern - und den Rechten nicht das Feld zu überlassen.

Wie soll diese Abgrenzung praktisch funktionieren? Bei den Corona-Protesten haben sich ja auch Menschen aus den unterschiedlichsten politischen Lagern zusammengetan.
Die Corona-Schwurbler-Demos waren keine sozialen Bewegungen. Die brauchen wir aber jetzt. Deshalb werden wir mit unseren klassisch sozialen Forderungen auf die Straße gehen und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Rechten nicht mitlaufen. Wir wollen eine Übergewinnsteuer, einen Anschluss an das 9-Euro-Ticket, einen sozial-ökologischen Umbau. Die wollen die Laufzeit der Atomkraftwerke verlängern und den Mindestlohn abschaffen, was eben auf eine Spaltung der Gesellschaft abzielt.

Die Übergewinnsteuer ist durchaus umstritten, die FDP etwa lehnt sie kategorisch ab.
Andere Länder - die auch nicht unbedingt als sozialistisch bekannt sind - haben vorgemacht, dass sie möglich ist. Griechenland und Spanien haben beide eine Übergewinnsteuer von 90 Prozent. Das klingt erstmal viel, aber: Dabei wird verglichen, welche Gewinne Mineralöl- und Energiekonzerne im letzten Jahr und welche Gewinne sie jetzt darüber hinaus gemacht haben. Diese Differenz wird besteuert - also der Teil des Gewinns, der durch den Krieg bedingt ist. Würden wir genauso vorgehen, geht es laut einer Rechnung der Rosa-Luxemburg-Stiftung um knapp 100 Milliarden Euro, mit denen man andere Dinge finanzieren könnte, die wir zum sozialen Ausgleich fordern.

"Wegen der Gasumlage ist jetzt wirklich Dampf im Kessel"

Zum Beispiel?
Wir wollen Menschen mit geringem beziehungsweise mittlerem Einkommen mit staatlichen Zahlungen von monatlich 125 Euro plus 50 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied entlasten. Außerdem wollen wir, dass die Energiepreise bis zu einem gewissen Kontingent gedeckelt werden. Die Gasumlage, die Robert Habeck anstrebt, ist doch völlig absurd. Zumal sie laut Presseberichten auch noch von Konzernen wie Uniper mitausgearbeitet wurde, die von ihr profitieren.

Es gibt allerdings Befürchtungen, eine Deckelung des Strompreises könnte dazu führen, dass Gaskraftwerke die Produktion einstellen, weil sie sonst draufzahlen. Damit wäre niemandem geholfen.
Die Frage ist, wie man eine Deckelung umsetzt. In Frankreich wird die Differenz vom Staat ausgeglichen. Dafür könnte man die Übergewinnsteuer einsetzen. Die Konzerne, die von der aktuellen Krise profitieren, würden stärker besteuert - aber kleinere oder kommunale Energieunternehmen nicht übermäßig belastet.

Ihr Fraktionschef Dietmar Bartsch hat vorgeschlagen, künftig keinen Strom mehr ins europäische Ausland zu exportieren, um selbst genug zu haben. War's das mit der internationalen Solidarität?
Ich glaube, die europäische Strom- und Gasvernetzung lässt sich gar nicht nach Nationen und Grenzen aufdröseln. Das macht keinen Sinn.

Es gibt in Ihrer Partei außerdem Stimmen, die eine Inbetriebnahme der Gas-Pipeline Nord Stream 2 fordern.
Das Problem ist nicht, dass wir zu wenig Gas haben, um über den Winter zu kommen. Es ist einfach zu teuer. Deshalb müssen wir die Menschen unterstützen - und außerdem dafür sorgen, dass wir zumindest mittel- und langfristig nicht mehr von diktatorischen Regimen abhängig sind. Hinzu kommt: Wer sagt denn, dass Putin nach Nord Stream 1 nicht auch Nord Stream 2 drosselt oder abstellt?

Zurück zum "heißen Herbst": Die Städte rüsten sich gegen eine Eskalation der Gewalt. Wie weit darf Protest gehen?
Proteste sind legitim. Es muss sie geben, um Druck auf die Regierung auszuüben - allerdings im Verbund mit Gewerkschaften, Sozialverbänden, lokalen Initiativen und anderen demokratischen Kräften. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass die Regierung dazu gedrängt wird, dass sich etwas ändert. Sonst explodiert die Lage. FDP, SPD und Grüne haben im letzten Jahr nichts dafür getan, einen Ausgleich zu schaffen. Nicht zuletzt wegen der Gasumlage, von der schon wieder die Unternehmen profitieren, ist jetzt wirklich Dampf im Kessel. Für einen der größten Fehler der Regierung halte ich übrigens, den Menschen vorzuschreiben, wie sie Energie sparen sollen. Ich finde, man kann Hochzeit feiern, wie man möchte. Aber spätestens, wenn dann ein selbsternannter Mittelständler mit dem Privatjet einschwebt, stimmt doch irgendetwas nicht mehr mit der ganzen Frieren-für-den-Frieden-Diskussion.

Die Ampel arbeitet gerade an einem dritten Entlastungspaket. Warum sind Sie trotzdem nicht zufrieden?
Noch ist ja nicht ganz klar, was drinsteckt. Aber wenn die SPD etwa als Nachfolger des 9- ein 49-Euro-Ticket vorschlägt, ist das für Menschen ohne Einkommen eine zu hohe Hausnummer. Besser wäre es gewesen, das 9-Euro-Ticket bis zum Ende des Jahres zu erhalten, um wirksam evaluieren zu können, was es gebracht hat. Was man bisher weiß, ist ja wirklich positiv: Der ÖPNV wird mehr genutzt, vor allem von Menschen ohne oder mit geringem Einkommen. Für sie braucht es eine Anschluss-Lösung. Wir denken an ein 1-Euro-Tages-Ticket, das ihnen ermöglicht, bei Bedarf von A nach B zu reisen. Die Frage ist natürlich, wie man das finanziert. Da fehlen jetzt unter anderem die 100 Milliarden Euro, die man lieber für die Rüstung ausgibt. So etwas dürfen wir nicht mehr durchgehen lassen, weil wir sonst auf Zustände zusteuern, die die Gesellschaft so noch nicht gesehen hat. Vor zwei Jahren hat Angela Merkel die Pandemie die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg genannt - gegen die Krise, auf die wir jetzt zusteuern, war Corona gar nichts.

Was lässt Sie so schwarz sehen?
Wir haben in Bayern mit 8,4 Prozent die höchste Inflation seit Jahrzehnten, damit hält keine Lohnentwicklung Schritt. Dazu kommen die hohen Energiekosten. Und dann hört der Normalsterbliche noch, dass Rüstungskonzerne von der Krise profitieren, weil massiv aufgerüstet wird - und das, obwohl die Militärausgaben schon die ganze Zeit Jahr für Jahr ansteigen. Das wird die Gesellschaft nicht mitmachen.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Erstens, dass wir als Partei in den Parlamenten die richtigen Anträge stellen, um aufzuzeigen, welche Inhalte nötig sind. Zweitens, dass wir auf die Straße gehen, um die Menschen zu organisieren, damit sie sich befähigt fühlen, dass sich etwas ändern kann. Und drittens, dass wir als Partei konkrete Hilfe leisten. Wir haben in verschiedenen Städten schon seit Jahren sogenannte Hartz-IV- und Sozialberatungen. Ich würde gerne erreichen, dass daraus ein solidarisches Netzwerk entsteht, in dessen Rahmen wir Unterstützung anbieten für diejenigen, die Angst haben, im Winter zu frieren.

Nochmal zum Thema Militär. Ohne Waffenlieferungen hätte die Ukraine wohl keine Chance gegen Russland. Warum ist die Linke trotzdem dagegen?
Es ist völlig klar, dass Wladimir Putin hier der Aggressor ist, der einen völkerrechtswidrigen Krieg begonnen hat. Daran gibt es nichts herumzudeuteln. Aber Waffenlieferungen werden nicht zu einem schnellen Frieden führen. Putin wird nicht irgendwann sagen: Okay, ich hab' verloren. Bleibt alles beim Alten, wird dieser Krieg sehr, sehr lange weitergeführt werden - und die Verlierer stehen jetzt schon fest: Es sind die Menschen in der Ukraine, die Zivilbevölkerung, aber auch die Soldatinnen und Soldaten; die Menschen, die versuchen zu fliehen, aber nicht fliehen dürfen; die Menschen, die geflohen sind und hier - nach einer anfänglich sehr schönen und begrüßenswerten Aufnahme durch die Bevölkerung - auf Widerstand von rechts stoßen. Daran ändern weitere Waffenlieferungen nichts.

Sondern?
Wir müssen in Verhandlungen kommen. Was ich bei all dem absolut pervers finde, ist, dass wir Deutschland mit dem 100-Milliarden-Paket und den Waffenlieferungen durch andere Länder, dem Ringtausch, letztlich gigantisch aufrüsten. Die schlechtesten Waffen werden abgegeben und wir organisieren uns eine Armee, die dazu führt, dass Deutschland wieder als die große Nation in Europa gesehen wird. Das ist kein positiver Weg, es macht mir Angst.

Mit was wäre Ihnen wohler?
Damit, der Ukraine ihre Schulden zu erlassen, damit das Land weiterhin Sozialhilfe und andere Unterstützung für die Menschen vor Ort leisten kann. Oder mit gezielten Sanktionen gegen die Superreichen in Russland.

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Auf den Sanktionslisten der Europäischen Union und der USA stehen etliche Oligarchen.
Um die wirklich zu treffen, müsste man Steueroasen trockenlegen und gegen Briefkastenfirmen vorgehen, bei denen man ja gar nicht weiß, wer nach der dritten Ecke eigentlich der Besitzer einer Immobilie oder Firma ist. Das wird aber nicht angegangen - und warum nicht? Weil es auch die eigenen Milliardäre treffen würde. Dabei könnte man so den Reichen in Russland derart auf die Nerven gehen, dass es zu einem veränderten Handeln in den dortigen Machtnetzwerken führen würde. Die aktuellen Sanktionen treffen die gesamte Bevölkerung, hier wie dort, und das ist kein Hebel, um Putin zu Veränderungen zu treiben. Im Gegenteil. Das Ärmerwerden der Bevölkerung kann dazu führen, dass die Menschen sich enger an ihn binden und ein gesteigerter Nationalismus entsteht.

Die EU hat beschlossen, Visa-Erleichterungen für Russen auszusetzen. Einige baltische Länder wollen russischen Touristen überhaupt keine Einreisegenehmigungen mehr erteilen. Richtig oder falsch?
Ich halte solche kulturellen Sanktionen für den völlig falschen Weg. Welchen Sinn soll es machen, Menschen die Einreise zu verwehren? Man sollte genau das Gegenteil tun: zu den Menschen Kontakt aufbauen und ihn verstetigen.

Ihre Partei ist nur im Bundestag vertreten, weil sie drei Direktmandate geholt hat - an der Fünf-Prozent-Hürde ist sie gescheitert. Bei den Landtagswahlen in NRW, Schleswig-Holstein und dem Saarland hat sie den (Wieder)-Einzug verpasst. Das liegt vermutlich auch daran, dass die Zielgruppe der Linken - Erwerbslose und Geringverdiener - immer seltener an die Urne geht. Warum bemühen Sie sich nicht mehr um die Mitte?
Wenn wir uns nicht für die genannten Menschen stark machen, tut es keiner mehr. Die Grünen stehen nicht für eine sozial-ökologische Politik und die SPD setzt sich im Zweifel auch nicht für abhängig Beschäftigte oder Erwerbslose ein. Aus Hartz IV wird Bürgergeld, aber ohne einschneidende Veränderung. Hinzukommt: Viele Versprechungen, die im Koalitionsvertrag stehen, reichen heute nicht mehr aus. Natürlich waren zwölf Euro Mindestlohn nach Jahren des Kampfes, auch von uns, ein Erfolg. Aber bei acht Prozent Inflation sind zwölf Euro Mindestlohn nicht mehr das, was sie einmal waren. Trotzdem schaffen es SPD und Grüne nicht, ihn erneut so zu erhöhen, dass er wirklich armutsfest ist.

"Es geht nicht nur um schöne Reden in Talkshows"

Auch das dürfte die Politikverdrossenheit von Menschen verstärken, die sich abgehängt fühlen.
Ich glaube, man muss dafür sorgen, dass es ein breites soziales Gewissen gibt - und zwar unabhängig davon, ob man selbst betroffen oder solidarisch mit den Betroffenen ist. Richtig ist, dass die Bevölkerung, für die wir vor allem da sind, immer weniger wählen geht. Deshalb ist es unsere Aufgabe, diese Menschen dazu zu bringen, sich wieder für ihre eigenen Interessen einzusetzen. Und dabei geht es nicht nur darum, in Talkshows schöne Reden zu halten - wobei ich mich freuen würde, wenn da mehr Linke eingeladen würden -, sondern direkt in die Haushalte und die prekären Viertel zu gehen. Die Sozialberatung, von der ich erzählt habe, ist mir auch deshalb so wichtig, weil man da Kontakt zu diesen Menschen bekommt. Dass sich das durchaus auch politisch auszahlen kann, hat die KPÖ in Graz gezeigt.

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4 Kommentare
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  • Frale am 04.09.2022 13:42 Uhr / Bewertung:

    Wenn die ersten ihre Rechnungen für die Nachzahlungen bekommen.... dann wird es nicht mehr lustig. Ich glaube das sich da im Herbst was zusammenbraut , die Leute haben wirklich die S...... voll ! Ich bin kein Freund von Demos.. aber jetzt hat man mich auch so weit gebracht, das ich da hingehen würde.

  • Irlmayer am 04.09.2022 12:41 Uhr / Bewertung:

    Corona war der Türöffner. Jetzt haben die Regierungen der Welt den A... offen. Wenn wir es zulassen, sind wir versklavt wie in China. Dann müssen wir uns wegen nichts und wieder nichts einsperren lassen, wie es den Herrschaften gefällt. Leider, leider, es geht nicht anders. Zumindest nicht für Euch.

  • Analyst am 04.09.2022 16:04 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Irlmayer

    Genau aus diesem Grund,braucht es alle Kraft um Putin zu zeigen das wir in Europa uns nicht in eine Diktatur zwingen lassen.
    Ich möchte meine Meinung weiterhin frei äußern können,meine Partei wählen können und nicht nach Sibirien deportiert werden.
    Er muss das mit aller Konsequenz in seinen Schädel eingehämmert bekommen.
    Ja und das kostet Geld nur lieber Arm als in einer Diktatur.