Anton Bruckner: Der Unfassbare - Elbphilharmonie Mediathek
Anton Bruckner: Fotografie von Josef Löwy, 1894 (koloriert)

Anton Bruckner: Der Unfassbare

Nur wenige Komponisten haben der Nachwelt ein so uneinheitliches Bild hinterlassen wie der österreichische Komponist.

Anton Bruckners Persönlichkeit, oder besser gesagt: das, was wir heute dafür halten, setzt sich aus einer schier unübersehbaren Menge an Anekdoten und oftmals reichlich diffusen Erinnerungen von Freunden zusammen. Tagebucheintragungen oder Briefe, in denen sich der Komponist selbst zu Wort meldet, sind hingegen rar gesät. Und so kommt es, dass er meist in einem eher wenig schmeichelhaften Licht erscheint. Zum Beispiel als schlecht gekleideter Künstler, der »den Absprung aus seiner Herkunftswelt nicht gefunden hat und zeitlebens durch einen Zug von Unbeholfenheit, Dörflichkeit und Weltfremdheit gekennzeichnet blieb« (Hans Heinrich Eggebrecht). Der Dirigent Hans von Bülow bezeichnete ihn gar als »halb Genie, halb Trottel«.

Passend dazu wurden Bruckners sehr wenige überlieferte Äußerungen stets im deftigen Dialekt wiedergegeben – bei welchem anderen Komponisten ist das noch der Fall?! Das Klischee des naiven und ungeschickten Bauern vom Land, der sich einfach nicht ins Stadtbild Wiens samt seiner Intellektuellenkreise einfügen wollte, hat sich bis heute gehalten.

Ein typischer Sozialaufsteiger

Dabei war Bruckner eigentlich nur das, was wir heute als typischen Sozialaufsteiger bezeichnen würden. Geboren wurde er 1824 im oberösterreichischen Dorf Ansfelden als Sohn eines Lehrers. Als solcher war für ihn die enge Verbindung zur Kirche selbstverständlich, denn das Orgelspiel beim Gottesdienst und die Leitung des Gemeindechors fielen damals in den Aufgabenbereich des Dorfschullehrers. Der Weg zum Berufsmusiker war jedoch lang und holprig. Im Streben nach Sicherheit, das ihn zeitlebens beschäftigte, schlug auch er zunächst eine Laufbahn als Lehrer ein.

Doch die Musik ließ ihn nicht los. Er bildete sich selbst zum Orgelvirtuosen aus und nahm privat Unterricht in Komposition. Auch während seiner Tätigkeit als Hilfslehrer fuhr er weiterhin zweigleisig, doch langsam aber sicher begann die Musik zu überwiegen. Der vollständige Wechsel zum Berufsmusiker folgte jedoch erst 30-jährig mit der Anstellung als Domorganist im 10 km entfernten Linz. Parallel dazu absolvierte er eine mehrjährige Ausbildung beim wichtigsten Kompositionslehrer seiner Zeit, Simon Sechter, in Wien.

Anton Bruckner: Gemälde von Ferry Bératon, 1889
Anton Bruckner: Gemälde von Ferry Bératon, 1889 © Wien Museum Karlsplatz

Verehrt und ignoriert

So uneinheitlich das Brucknerbild, so unterschiedlich waren auch die Meinungen über seine nun folgenden Kompositionen. Von seiner Anhängerschaft verehrt und gleichsam verklärt, wurde er von den tonangebenden Kollegen Brahms und Wagner weitestgehend ignoriert, und auch der wichtige Kritiker Eduard Hanslick hielt mit harschen Worten nicht hinterm Berg. Heute muss man über Bruckners Rang in der Musikgeschichte zwar nicht mehr streiten, doch bis aus ihm der große Sinfoniker wurde, als der er heute auf der ganzen Welt bekannt ist, müssen noch einmal ein paar Jahre übersprungen werden.

Der Weg zur Sinfonie

Als sinfonischer Spätentwickler begann Bruckner erst im Alter von über 40 Jahren in dieser Gattung zu komponieren. Ein Grund mag die Ehrfurcht vor der Sinfonie gewesen sein, die für ihn das Nonplusultra aller Musik darstellte und die in der Ära nach Beethoven Gegenstand einiger ästhetischer Kämpfe wurde.

»Am Ende einer Bruckner-Sinfonie erleben wir ein Gefühl der Vollkommenheit – das Gefühl, durch alles gegangen zu sein.«

Sergiu Celibidache, Dirigent


Bruckner schlug den Weg der wahrhaft großen, monumentalen Sinfonie ein, mit der er seine Vorgänger zu übertreffen suchte. Seine »Kathedralen nie gehörter Klänge« (Lorin Maazel) knüpfen in Form und Besetzung zwar an die Tradition an, entwickeln aber eine ganz eigene musikalische Sprache. Die weiträumigen Klangflächen, der feierliche Gestus sowie die musikalische Langsamkeit wurden schon bald zu Bruckners Markenzeichen. Die Neigung zum dunklen, abgetönten Klang, die ausufernde Harmonik und das Blech als tragende Instrumentengruppe stellen weitere Charakteristika seiner insgesamt neuneinhalb Sinfonien dar (es gibt eine frühe »Nullte« sowie eine fragmentarische Neunte Sinfonie).

Bruckner vs. Wagner

Oft wurde ihm daher der Stempel »Wagner der Sinfonie« aufgedrückt – was gleich in vielerlei Hinsicht nicht ganz zutreffend ist. Zwar verehrte Bruckner Wagner als großen Meister und widmete ihm sogar seine Dritte Sinfonie, rein musikalisch betrachtet gibt es aber erhebliche Unterschiede zwischen den beiden. Bruckner lag jegliche Theatralik fern, er gab nur selten programmatische Erläuterungen, und auch rein musikalisch funktioniert seine Musik ganz anders. So behandelte Bruckner das Orchester wie eine große Orgel, indem er einzelne Instrumentengruppen weniger vermischte, sondern sie wie Orgelregister blockweise nebeneinandersetzte und die musikalischen Abschnitte durch Pausen und unvorhergesehene Dynamikwechsel voneinander abtrennte. Wagner gestaltete seine Übergänge hingegen deutlich fließender und mit an- und absteigender Dynamik.

Beide verbindet jedoch der enorme Einfluss auf die Entwicklung der abendländischen Musik des 20. Jahrhunderts. Besonders Bruckners äußerst modern anmutende Neunte Sinfonie scheint die chromatische Tonsprache der zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg vorwegzunehmen. Auch die monumentalen Sinfonien eines Gustav Mahlers wären ohne ihn nicht denkbar. Für einen »Dorftrottel« wie Bruckner ist das doch eine ganze Menge.

 

Text: Simon Chlosta, Stand: 28.9.2022

Bruckner im Stream

Das NDR Elbphilharmonie Orchester spielt Bruckners Vierte Sinfonie.

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