Anomalisa | Kritik | Film | critic.de

Anomalisa – Kritik

Vollendete Einsamkeit in einer durch und durch funktionalen Welt: Charlie Kaufman zelebriert die moderne Entfremdung des Menschen von sich selbst.

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Anomalisa beginnt mit einem Abschied: Der verheiratete Familienvater Michael (David Thewlis) geht auf Vortragsreise, um sein neues Buch How May I Help You Help Them? auf einem Kongress für Kundenberatung vorzustellen. Die inhaltliche Leere seiner eigenen Arbeit als Berater für Unternehmensberater hat offenbar Michaels Wahrnehmung verändert: Alle Menschen haben dieselben Gesichtszüge und sprechen mit derselben männlich gefärbten Stimme (Tom Noonan). Das sorgt gendertechnisch anfangs für einige Verwirrung. Die Animationstechnik des Films erinnert dabei an digitale Knetfiguren: Alle sehen gleich aus, gleich seltsam. Außer Michael, einem veritablen George-Clooney-Lookalike mit grau melierten Schläfen. Die Mimik der Menschen aber bleibt stets ruppig, irgendwie betäubt und ist vor allem unbeholfen. Als teilten alle Figuren eine große gemeinsame Angst.

Hoffnung auf menschliche Nähe

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Mit seinen animierten Bildern unterstreicht Anomalisa so etwas wie eine grundlegende Verlassenheit der Welt. Wir passieren Assemblagen menschlicher Sterilität: Flughäfen, Taxis, Hotels. Alles wirkt gefälscht, vollends austauschbar. Diese Nicht-Orte, die Michael auf seiner Reise durchquert, bilden das Setting von Kaufmans Film und den Hintergrund, vor dem die Hoffnung auf menschliche Nähe ganz besonders hell aufscheint. Sophia Coppolas Lost in Translation (2004) war in dieser Hinsicht ein stilbildender Film. Und auch Kaufmans früheres Schaffen, zum Beispiel als Drehbuchautor von Being John Malkovich (1999) oder Vergiss Mein Nicht! (Eternal Sunshine of the Spotless Mind, 2004), geht bereits in eine ähnliche Richtung.

Alles awkward

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Nach dem einen misslungenen Date mit seiner Jugendliebe Bella trifft Michael spätabends im Hotel auf die Beraterin Lisa (Jennifer Jason Leigh). Nach einer zögerlichen Annäherung lassen sich die beiden auf eine nächtliche Affäre ein. Erstaunlich ist, wie sehr das gegenseitige Bewerten und Misstrauen die Gespräche zwischen Lisa und Michael durchzieht – eine merkwürdige Mischung aus Prüderie und erzwungener Zuneigung, die sich als gesellschaftliches Symptom eines fehlenden Urvertrauens offenbart. Sehnsucht nach Nähe ist schon awkward, sobald sie ehrlich ausgesprochen wird. Ein Geständnis der Schwäche. Diese traurige Hinterlassenschaft eines falsch verstandenen Individualismus diktiert die Grundstimmung des Films. „Wie konnte es so weit kommen?“ Das möchte man bei ungefähr jeder Szene fragen. Die Menschen in Anomalisa, sie tun einem schlicht leid.

„The most human film of the year“?

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Mit der Zeit stellt sich heraus, dass Anomalisa über die allgemeine Entfremdung hinaus wenig zu sagen hat. Die Themen kreuzen sich immer wieder: Einsamkeit, Anonymität, die verzweifelte Suche nach echten Menschen. Diese typischen Modernitätsaffekte sind letztlich nichts Neues, es sei denn, sie spiegeln auch neue gesellschaftliche Gewohnheiten wider. Das ist Spike Jonze mit der Smartphone-Romanze Her (2013) beispielhaft gelungen. Anomalisa aber tut sich aber schwer damit, über die rührselig erscheinenden Aussage hinauszukommen, dass echte Liebe eben unerreichbar bleibt. Daran ändert auch die Animationstechnik nicht viel, die sich ein wenig unter Wert verkauft: Die Hauptfiguren besitzen lediglich eine Art bewegliche Kinnlade, die in emotionalen Extremsituationen auf den Boden donnert. Ansonsten löst die animierte Darstellung wenig aus. Die Grundrichtung des Films wird ohnehin schnell klar: Ein Riss spaltet die Menschen in Kaufmans Film, die Angst, auf andere falsch oder unnormal zu wirken, wird zur conditio humana. Es geht noch nicht mal darum, verrückt zu sein. Die leise Ahnung, dass mit dir etwas nicht stimmen könnte, reicht schon vollkommen aus. Als „the most human film of the year“ wurde Anomalisa schon bezeichnet. Wenn dem so ist, dann sind die Menschen in Kaufmans Film Wesen eines ewigen Mangels, eines ewig unerfüllten Bedürfnisses. Diese klassisch psychoanalytische Auffassung wird in all ihrer Einfachheit und bürgerlichen Modernität ausgespielt. So fühlt sich Anomalisa am Ende vor allem wie eins an: ein Film aus einer anderen Zeit. Aus dem 20. Jahrhundert.

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