Ex-Putin-Berater Gromyko: „Der Westen benutzt die Ukrainer als Kanonenfutter“

Ex-Putin-Berater Gromyko: „Der Westen benutzt die Ukrainer als Kanonenfutter“

Der russische Politologe Alexei Gromyko glaubt nicht, dass deutsche Panzer in der Ukraine entscheidend sind. Die nukleare Gefahr sieht er aber ebenfalls nicht.

Der russische Politologe Alexei Gromyko
Der russische Politologe Alexei GromykoSocial Media

Alexei Gromyko (53) ist Leiter des Europa-Instituts an der Russischen Akademie der Wissenschaften und Enkel des berühmten sowjetischen Außenministers Andrei Gromyko (aka „Mr. Njet“), der unter anderem für den Satz bekannt ist: „Zehn Jahre Verhandlungen sind immer besser als ein Tag Krieg“. Anfang März hatte Gromyko eine internationale Expertenerklärung unterzeichnet, die in einer ihrer Klauseln alle Kriegsparteien auffordert, das Feuer ohne Vorbedingungen einzustellen und einen Verhandlungsprozess einzuleiten.

In Russland ist so eine Erklärung für einen namhaften Regierungsberater zu vergleichen mit dem Schritt, sich öffentlich gegen den Krieg zu positionieren. Ende März schloss Präsident Wladimir Putin Gromyko aus dem Expertenrat beim Sicherheitsrat der Russischen Föderation aus, einer Art Politbüro 2.0, ohne Erklärung von Gründen. Gromyko vermutet, dass die russischen Behörden die Empfehlungen der Sachverständigen ohnehin nicht beherzigt hätten. Nun warnt Gromyko in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung die Bundesregierung vor unvorsichtigen Schritten in der Ukraine.

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Zur Person
Alexei Anatoljewitsch Gromyko wurde am 20. April 1969 geboren. Er ist ein russischer Historiker. Außerdem ist er Direktor am Europainstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften, RAS-Professor (2015) und Vorsitzender des Koordinationsrats der RAS-Professoren (2016–2018), korrespondierendes Mitglied der RAS (gewählt im Oktober 2016). Gromyko ist der Enkel des ehemaligen sowjetischen Staatsoberhauptes und Außenministers Andrei Andrejewitsch Gromyko. Sein Vater war der Diplomat Anatoli Andrejewitsch Gromyko (1932–2017), ebenfalls Historiker und Mitglied der russischen Akademie.

Herr Gromyko, Sie haben zuletzt wieder ein Expertentreffen zwischen Russland und der Nato mit ehemaligen Diplomaten, Militärs und Meinungsmachern aus den USA und der EU mit organisiert. Nach einem ähnlichen Onlinetreffen Anfang März haben Sie alle Konfliktparteien schriftlich aufgefordert, sofort und bedingungslos die Waffen niederzulegen. Was sagen Sie und Ihre Kollegen jetzt?

Alexei Gromyko: Unser Diskussionsformat findet immer hinter verschlossenen Türen statt. Ich kann die Positionen der Sachverständigen nicht preisgeben. Wir diskutieren da aber nicht die Geschehnisse in der Ukraine konkret, sondern die militärischen Risiken zwischen Russland und der Nato bzw. den USA.

Wie ist denn Ihre persönliche Expertenmeinung? Wie können die Risiken eines militärischen Zusammenstoßes zwischen Russland und der Nato verringert werden?

Wir beobachten, wohin die aktuellen Geschehnisse führen und in welchen Formaten ein Russland-Nato-Dialog jetzt noch möglich ist bzw. ob die Nato-Russland-Grundakte von 1997 in einigen Monaten noch existent ist. Viele von unseren Empfehlungen vom Dezember 2020 und Januar 2022 sind jedoch immer noch aktuell. Damit meine ich eine Verzögerung der Nato-Erweiterung und die bilaterale und multilaterale Rüstungskontrolle in Europa.

Denken Sie also, dass die russische Invasion in der Ukraine eine Angelegenheit zwischen Russland und der Nato ist und die USA sich deshalb an Friedensgesprächen beteiligen sollten?

Die Verhandlungswege zur Zukunft der strategischen Sicherheit zwischen Russland und den USA wurden im Juni 2021 auf einem bilateralen Gipfel definiert. Weder Washington noch Moskau haben sich von diesen Wegen bis heute öffentlich distanziert. Natürlich belasten die US-Waffenlieferungen in die Ukraine die ohnehin äußerst schwierigen Beziehungen zwischen Russland und den Vereinigten Staaten.

Was die nukleare Sicherheit angeht: Weder Russland noch die USA haben angedeutet, ihre strategischen Dokumente über die Rolle und Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen ändern zu wollen. Die russische Nukleardoktrin sieht vor, solche Waffen nur einzusetzen, wenn die Existenz Russlands bedroht wird, auch mit konventionellen Waffen oder wenn andere Länder Atomwaffen gegen Russland einsetzen. Die gemeinsame Erklärung von Putin und Biden vom 16. Juni 2021, in der steht, dass es in einem Atomkrieg keine Gewinner geben könne und er deswegen niemals ausgelöst werden dürfe, gilt nach wie vor.

Putins Warnungen an die westlichen Staaten zu Beginn des Krieges, sich bitte nicht in den Ukraine-Krieg einzumischen, sollen also nicht mit einer nuklearen Drohung gleichgesetzt werden?

Ich sehe nichts, was hier für einen Einsatz der nuklearen Waffen spricht. Putins Warnung dürfte eher bedeuten, dass bei einer direkten Einmischung des Westens die Zerstörungen in der Ukraine massiver ausfallen würden und ein direkter Zusammenstoß zwischen Russland und der Nato wahrscheinlicher wäre.

Es gibt Befürchtungen, dass Putin zu einem begrenzten Einsatz von Atomwaffen übergehen könnte, wenn er in der Ukraine scheitern würde. Sind diese Ängste begründet?

Wiederum: Aus der russischen Nukleardoktrin geht nicht hervor, dass Russland Atomwaffen wie jetzt in der Ukraine verwenden dürfe und müsse. Wer sich in der deutschen Presse als ein Experte darstellt und meint, Deutschland müsste die Ukraine mit schweren Waffen beliefern, um den Einsatz der Atomwaffen durch Moskau zu verhindern, spekuliert nur. Das einzige Mal wurden solche Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 abgeworfen. Heute gibt es Dokumente, die solche Einsätze streng regeln.

Die Bundesregierung könnte also schwere Waffen an die Ukraine liefern, ohne einen Atomkrieg oder etwa den russischen Einsatz von chemischen Waffen zu riskieren?

Nach dieser absurden und gefährlichen Logik darf jedes westliche Land die Ukraine mit schweren Waffen vollpumpen, wenn Russland in der Ukraine keine Atomwaffen einsetzt. Solch eine Logik führt nur zu einer neuen Art der Konfrontation. Wenn Deutschland glaubt, dass es alles tun sollte, um einen Zusammenstoß zwischen Russland und der Nato zu ermöglichen, wenn es möchte, dass deutsche Panzer in der Ukraine wieder russische Soldaten töten, wird das in Russland die schlimmsten Verdächtigungen eines möglichen deutschen Revanchismus wecken, mit dem latenten Wunsch, sich für die Niederlage im Zweiten Weltkrieg zu rächen. Dann wird von der historischen Aussöhnung des russischen und des deutschen Volkes keine Spur mehr bleiben. Zudem dürfte die Lieferung von schwerem Militärgerät aus Deutschland in die Ukraine den Verlauf des Konflikts nicht grundlegend beeinflussen. Außerdem können diese Lieferungen zu russischen Angriffszielen werden, noch bevor die ukrainische Armee sie bekommt.

Es wäre stattdessen sehr klug von der Bundesregierung, alles zu tun, damit die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine so schnell wie möglich auf einer politischen Ebene gelöst werden. Man müsste den Druck auf die Regierung in Kiew aufbauen mit der Botschaft, dass die Friedensverhandlungen der einzige Weg aus diesem Konflikt sind. Denn je mehr Deutschland oder andere Länder Waffen an die Ukraine liefern, desto umfangreicher und langwieriger kann dieser Konflikt werden.

Das sieht man in der deutschen Politik anders. Die schweren Waffen sollen der Ukraine bei der Verteidigung gegen die russischen Invasoren helfen und auch ihren Sieg vorbereiten. 

Wenn die Deutschen in einer Fantasiewelt leben wollen, was kann ich dafür?! Dann kann Deutschland beispielsweise Panzer nach Palästina, Jemen, Libyen, Syrien und in andere regionale Konflikte liefern. Warum glauben die Politiker in Berlin, dass ihre Panzer in der Ukraine entscheidend sind und die russische Führung von ihren Zielen in der Ukraine abbringen können?

Die westlichen Staaten nehmen diesen Krieg aber nicht als einen regionalen Konflikt wahr, sondern auch als einen Krieg Russlands gegen den Westen und seine Werte. Deswegen meinte wohl auch Bundeskanzler Scholz, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf.

Wenn man im Westen glaubt, dass man in der Ukraine einen Krieg zwischen dem Westen und Russland führt, dann müssen die Menschen in der Ukraine sehr gut nachdenken und einsehen, dass der Westen sie wohl als Kanonenfutter benutzt.

Sie lehnten diesen Krieg Anfang März ab. Glauben Sie jetzt also, dass die russischen Ziele in der Ukraine erreichbar sind?

Wenn Kiew einen Waffenstillstand erklären und die Friedensgespräche anbieten würde, ohne jegliche Vorbedingungen für diese Gespräche, dann könnte ein politischer Kompromiss wohl erreicht werden. Sollte sich die Ukraine für einen neutralen Status entscheiden, könnte vieles anders gehen. Doch man setzt stattdessen offenbar auf einen langfristigen Krieg.

Wie? Warum muss denn die Ukraine die Waffen als Erstes niederlegen und nicht die Regierung in Moskau, die diesen Krieg begonnen hat? 

Ich bin ein Realist, und daher kommt eine solche Erwartung für mich wie eine aus dem Bereich der Fantasie vor. So, wie ich die russische Führung kenne: Sie wird nicht plötzlich die Waffen niederlegen, weil sie glaubt, ihre Ziele in der Ukraine allmählich erreichen zu können, wenn auch nicht so schnell, wie ursprünglich gewünscht.

Man kann sich vorstellen, dass Russland nach der Unterzeichnung eines Friedensvertrags seine Truppen aus einigen Gebieten der Ukraine außerhalb der Verwaltungsgrenzen der Volksrepubliken Donezk und Lugansk abziehen würde, aber nicht umgekehrt, also nicht vor dessen Unterzeichnung. Diejenigen, die glauben, dass Moskau bereit wäre, seine Truppen als Bedingung für das Erreichen des Friedens vom Territorium der Ukraine abzuziehen, führen die Öffentlichkeit in die Irre. Am Ende könnte die Ukraine viel mehr Land verlieren als nur den Donbass. So sieht es jedenfalls Moskau.

Vielen Dank für das Gespräch.