„Faschismus, Nazismus und Stalinismus haben miteinander gemeinsam, dass sie dem atomisierten Individuum eine neue Zuflucht und Sicherheit boten […] Der einzelne wird dazu gebracht, sich ohnmächtig und unbedeutend zu fühlen, und zugleich gelehrt, alle seine menschlichen Kräfte auf die Figur des Führers, den Staat, das »Vaterland« zu projizieren, denen er sich unterwerfen und die er anzubeten hat“ (Erich Fromm, Wege aus einer kranken Gesellschaft, 1999, S. 166; Original: 1955).

Stalin, der Terror und der Zweite Weltkrieg

Am 21. Januar 1924 starb Lenin. 1918 hatte ihn eine Anhängerin der sozialrevolutionären Partei angeschossen. Im Mai 1922 erlitt Lenin – offenbar als Folge des Attentats – einen Schlaganfall, von dem er sich nicht wieder erholen sollte. Wohl wissend, dass sein Ableben bald bevorsteht, diktierte er am 23. und 24. Dezember 1922 – quasi als Testament – einen Brief an den Parteitag der kommunistischen Partei Russlands. Darin machte er sich auch Gedanken über seine Nachfolge, für die er besonders Stalin und Trotzki geeignet hielt. Sinowjew, Kamenew, Bucharin und Pjatakow, alle vier gehörten zum engen Zirkel der Parteiführung, wurden ebenfalls bedacht. Am 4. Januar 1923 ergänzte Lenin seine Einschätzung über Stalin und Trotzki:

„Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von Gen. Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, daß er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw. ist“ (Lenin, 1962, Band 36, S. 580).

Die Genossen hatten Lenins Mahnungen über Stalins Charakter vernommen, waren aber wohl zu zerstritten, um ernsthaft darüber zu debattieren, wie man Josef Wissarionowitsch Stalin, geborener Dschughaschwili (1878–1953), an der Übernahme der Macht hindern könnte. Stalin verdrängte schließlich Lew Kamenew, Grigori Sinowjew, Nikolai Iwanowitsch Bucharin, Leo Trotzki und die anderen aus den Führungsspitzen der Partei und wurde 1927 der Alleinherrscher in der Sowjetunion. Eine straffe, autoritäre und gewalttätige Machtpolitik bestimmte fortan das wirtschaftliche, politische, kulturelle, gesamtgesellschaftliche Geschehen.

Supplementum

Trotzki, 1879 als Lew Dawidowitsch Bronstein geboren, leitete 1918 die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk, wurde danach Volkskommissar für Verteidigung und baute die Rote Armee auf. Nach dem Machtkampf mit Stalin wurde er 1927 aus der KPdSU ausgeschlossen und flüchtete 1929 über die Türkei, Frankreich, Norwegen nach Mexiko. Dort wurde er 1940 in Stalins Auftrag von Ramón Mercader, einem spanischen Kommunisten und Agenten des sowjetischen Geheimdienstes, ermordet.

1928 löste der erste sowjetische Fünfjahrplan die „Neue Ökonomische Politik (NÖP)“ ab. Mit der NÖP, von Lenin und Trotzki 1921 angeregt, oder besser: befohlen, sollten durch die Verquickung von Privatwirtschaft, Privathandel und staatlicher Kontrolle der gesellschaftliche Umbau nach dem Bürgerkrieg gefördert, die Hungersnöte beendet und die Industrialisierung forciert werden. Mit dem Fünfjahrplan gab man die NÖP auf und führte die zentrale Planwirtschaft mit dem Ziel ein, die Wirtschaft in wenigen Jahren auf das Niveau der führenden kapitalistischen Staaten zu heben. Ein erster Schritt war die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Mit diesem Schritt begann der große Terror. Nachdem es 1927 und 1928 zu gravierenden Ernteverlusten sowie Versorgungsengpässen kam und Bauern sich gegen staatliche Abgabevorschriften mit Gewalt zu wehren versuchten, beschlossen Stalin und die Führung der Partei 1929 eine umfassende Kollektivierung der Landwirtschaft. Die Bauern wurden enteignet oder zwangsumgesiedelt, nach Sibirien, in den Ural, nach Kasachstan. Wer zu den „konterrevolutionären Aktivisten“ zählte, kam entweder in ein Arbeits- und Straflager oder wurde hingerichtet. Von diesem „Krieg gegen das Dorf“ (Hildermeier, 2000, S. 595) waren zwischen fünf bis sechs Millionen Menschen betroffen. 530.000 bis 600.000 Menschen verloren ihr Leben. Die Zwangskollektivierung verbesserte die Versorgungslage nicht. Im Gegenteil, sie führte in den Jahren 1932 bis 1933 zu großen Hungersnöten, in denen schätzungsweise weitere sechs Millionen Bauern starben.

Dann folgte zwischen 1934 und 1936 ein kurzer Aufschwung in Wirtschaft, Politik und Kultur – eine Zeit, die manche die „goldenen Jahre“ nannten (Schattenberg, 2014). Von Ende Januar bis Anfang Februar 1934 tagte in Moskau der XVII. Parteitag der kommunistischen Partei, der „Parteitag der Sieger“, wie er auch genannt wurde. Die Delegierten feierten die Erfolge des ersten Fünfjahrplans aus dem Jahre 1929, die Kollektivierung der Landwirtschaft, den Aufbau neuer Industriezweige und den Sieg des Sozialismus. Quasi unter den Füßen der Delegierten, in teils hundert Meter Tiefe, pochten die Hämmer und Bohrmaschinen der Erbauer der Moskauer Metro. Mit dem neuen Fünfjahrplan beschlossen die Parteitagsdelegierten den weiteren Aufbau der Gesellschaft auf dem Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft.

So ein Plan muss verständlicherweise den Massen vermittelt werden. Deshalb sollten sich die Schöpfer von Kunst, Musik, Film oder Theater ebenfalls in den Dienst des sozialistischen Aufbaus stellen. Und sie taten es, teils euphorisch, teils nur widerstrebend. Die Schriftsteller, die „Ingenieure der Seele“, wie Stalin sie gern bezeichnete, gingen voran. Vom 17. August bis 1. September 1934 fand in Moskau der „Erste Allunionskongress der Sowjetschriftsteller“ statt, an dem neben anderen internationalen Gästen auch deutsche Exilschriftsteller, darunter Johannes R. Becher, Willi Bredel, Oskar Maria Graf und Klaus Mann, teilnahmen. Es mag wohl der Wunsch der internationalen Gäste gewesen sein, der Einladung nach Moskau zu folgen, weil sie in der Sowjetunion – trotz mancher Zweifel – den proletarisch-humanistisch gesinnten Gegner zum faschistischen Deutschland zu sehen meinten.

Horst Groschopp macht in seinem materialreichen und lesenswerten Buch über den Humanismus in der DDR u. a. darauf aufmerksam, dass der Begriff des proletarischen Humanismus auf Maxim Gorki (1868–1936) zurückgeführt werden könne.Footnote 1 In einem Prawda-Artikel vom 23. Mai 1934, also drei Monate vor dem Schriftstellerkongress, habe Gorki nicht nur die gegen westlichen „Humanitarier“ gewettert, sondern von einem proletarischen Humanismus geschrieben, der aufstrebend sei, „[…] weil antikapitalistisch, wissenschaftlich bewiesen, revolutionär, allgemein-menschlich und von Marx-Lenin-Stalin begründet“ (Groschopp, 2012, S. 82).

Maxim Gorki (1868–1936), der vor allem durch seinen Roman „Die Mutter“ in Erinnerung geblieben ist, eröffnete den Allunionskongress der Sowjetschriftsteller. Klaus Mann schildert in seinen „Notizen in Moskau“ die große Verehrung, die dem Patriarchen und ehrwürdigen Liebling entgegengebracht wurde. Im Kongressaal habe ein Bild von ihm in Riesenformat neben dem von Stalin gehangen (Mann, 1934/1935). Nach Gorki sprach Andrei Alexandrowitsch Schdanow, Stalins Chefideologe, und forderte von den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, sich das literarische Erbe kritisch anzueignen und in ihren Werken die „revolutionäre Wirklichkeit“ darzustellen (Schmid, 2003, S. 133 f.). Auch Karl Radek (1885–1939), geboren als Karol Sobelsohn in Lemberg, über den Stefan Heym einen hervorragenden Roman geschrieben hat, sprach auf dem Kongress und kritisierte die „bürgerliche Dekadenz“ in den Werken von Marcel Proust und James Joyce.

Klaus Mann hat seine Teilnahme am Kongress und die Gespräche im Hause von Gorki sicher genossen. Sie mögen ihm Kraft für die Zukunft gegeben haben. Den eingeforderten sozialistischen Realismus betrachtete er als eine Etappe des Übergangs, die man überwinden werde, wenn „[…] die Zeit des heroischen Aufbaus und der Gefährdung von aussen vorüber ist – also in der Sowjet-Union vielleicht früher, als in irgendeinem andren Land“ (Mann, 1934/1935, S. 83).

Klaus Mann irrte sich. Nach dem Ersten Allunionskongress der Sowjetschriftsteller wurden die „bürgerlich-dekadenten“ Schriftsteller und Dichter verunglimpft und russische Klassiker, wie Puschkin, Gogol, Dostojewski, Tolstoi und andere „sowjetisiert“, sozusagen vor dem Hintergrund der revolutionären Wirklichkeit neu- oder als Vorläufer der revolutionären Literatur uminterpretiert. Andere große Gegenwartsschriftsteller, die wie Isaak Emmanuilowitsch Babel (z. B. „Die Reiterarmee“ von 1926) oder Michail Afanassjewitsch Bulgakow (z. B. „Der Meister und Margarita“ von 1940) zur sowjetischen Avantgarde gehörten, gerieten dagegen als „Oppositionelle“ mehr und mehr in den Strudel der stalinistischen Verfolgung.

Nach 1934 wurde auch die sowjetische Filmindustrie auf Zentralismus, Planwirtschaft und sozialistischen Realismus eingeschworen. Die sowjetische Kinematografie besaß bereits in den 1920er Jahre ein hohes internationales Ansehen. Das mag besonders den Filmen des Regisseurs Sergei Eisenstein (1898–1948) zu verdanken sein. Mit den Stummfilmen „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925) oder „Oktober – Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ (1928) erlangte Eisenstein Weltruhm. Nun, nach 1934, sollten Filmkomödien, Historienfilmen und diverse Heldenepen das Bild vom „neuen, revolutionären Sowjetmenschen“ vermitteln. Über die ideologische „Wahrheit“ in den Filmen (und im Theater) wachten sogenannte „Künstlerische Räte“, Kommissionen parteitreuer Schriftsteller, Filmemacher, Journalisten und Arbeiter (vgl. Nembach, 2001).

Der sozialistische Realismus zog alsbald auch in der Musik ein. Ein wichtiger Auslöser könnte die Aufführung der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ von Dmitri Schostakowitsch (1906–1975) gewesen sein. Die Oper wurde im Januar 1934 in Leningrad uraufgeführt und erlebte danach erfolgreiche Inszenierungen in New York und Stockholm. Am 25. Dezember 1935 besuchten Stalin, Schdanow und andere Parteiführer eine Aufführung der Oper im Moskauer Bolschoi-Theater. Dem stählernen Führer gefiel die Oper ganz und gar nicht. Das Zentralorgan „Prawda“ veröffentlichte später einen Verriss der Oper unter der Überschrift „Chaos in der Musik“. Nicht nur Schostakowitsch war damit gemeint; die Kritik an der neuen Musik sollte auch andere zeitgenössische Komponisten und all jene zur sozialistischen Ordnung rufen, die sich dem offiziellen Kulturbetrieb entgegenstellten.

Aber es gab noch Hoffnung bzw. Hoffende. Im Juni 1935 fand der Erste Internationale Schriftstellerkongress zur „Verteidigung der Kultur“ in Paris statt. Organisiert wurde er von Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg (1891–1967), André Malraux (1901–1976), André Gide (1869), Jean-Richard Bloch (1884–1947) und Paul Nizan (1905–1940). Die annähernd 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmern kamen aus fast vierzig Ländern, so der rumänische Schriftsteller und Mitbegründer des Dadaismus Tristan Tzara, der Franzose Louis Aragon, sein surrealistischer Kollege André Breton, der Brite Aldous Huxley (bekannt durch seinen Roman „Schöne neue Welt“), Isaac Babel und Boris Pasternak aus der Sowjetunion, Martin Andersen Nexö, Ernst Bloch, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Max Brod, dem es zu verdanken ist, dass wir die Werke von Franz Kafka heute noch lesen können, Lion Feuchtwanger, der „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch, Heinrich und Klaus Mann, Robert Musil, Anna Seghers, Ernst Toller. Zu den Themenkreisen, über die die Schriftstellerinnen und Schriftsteller debattierten, gehörte auch der Humanismus. Horst Groschopp (2012, S. 103 f.) erinnert besonders an die Beiträge von Klaus Mann und Paul Nizan. Klaus Mann habe eine Definition von „sozialistischem Humanismus“ vorgestellt, mit der der bürgerliche und der proletarische Humanismus über die Ideen von Freiheit und Gleichheit zusammengeführt werden könnten. Allerdings ist für Mann eine gerechte Wirtschaftsordnung und die Aufhebung des Privateigentums nur „[…] die Voraussetzung für höheres Menschenleben – niemals sein Sinn. Der Kampf um die Gewinnung dieser gerechten Ordnung, der Zwang zu ihrer Erhaltung sind doch nur Mittel – für welches Ziel? Wir nennen es den sozialistischen Humanismus“ (Mann, 1993, S. 303; Hervorh. im Original: 1935; zit. n. Streim, 2017, S. 209). Der sozialistische Humanismus umfasse „[…] das ganze, in all seinen Möglichkeiten erfüllte, gespannte, lustvolle, reiche und problematische, gesegnete, schwierige und geheimnisvolle Leben“ (ebd. S. 307). Das ist keine wissenschaftliche Definition, muss es auch nicht sein. Vielmehr sah Klaus Mann im sozialistischen Humanismus eine Metapher für ein Leben voller Freiheit, Gerechtigkeit, Unabhängigkeit, Rationalität, Kunst, Schönheit, Geheimnissen und Sinnlichkeit.

Paul Nizan, der 1939 aus Protest gegen den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt aus der Kommunistischen Partei Frankreichs austreten wird und 1940 im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht bei Dünkirchen gefallen ist, äußerte sich dagegen skeptisch. Für ihn sei die bisherige Geschichte des Humanismus eher mythologische Erzählung. Deshalb plädierte er für einen kommunistischen Humanismus, in dessen Zentrum die Aufhebung der Klassenspaltung stehen müsse. Ludwig MarcuseFootnote 2 griff diesen Faden auf und forderte, den Humanismus von Schiller und Marx wieder zum Sprengstoff zu machen (Groschopp, 2012, S. 107). Unabhängig von den Meinungsverschiedenheiten suchten die bürgerlich-demokratisch gesinnten und die proletarisch orientierten Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Paris in ihren Diskussionen zum Humanismus nach einem einigenden Band im Kampf gegen den Hauptfeind, den Faschismus.

1936 setzten einige emigrierte Schriftsteller ihre Debatten über das Verhältnis von bürgerlichem, proletarischem und sozialistischem Humanismus in der Sowjetunion fort. Ich folge der Darstellung von Horst Groschopp (2012, S. 115 ff.): Im Juli 1936 erschienen in der deutschsprachigen Exilzeitschrift „Das Wort“, die von Fritz Erpenbeck geleitet wurde, mehrere Beiträge zur Humanismus-Diskussion. Allen voran brach Alfred Kurella eine Lanze für den sozialistischen Humanismus, indem er Gottfried Benn und andere eines vormodernen Denkens bezichtigte, „[…] Waffen gegen den Humanismus zu schmieden“ (Kurella 1936, zit. n. Groschopp, ebd., S. 115). Zeitgleich veröffentlicht Kurella einen zweiten Text mit dem Titel „Die Geburt des sozialistischen Humanismus“. Sich auf die Frühwerke von Karl Marx stützend (besonders auf die „Thesen über Feuerbach“) sah Kurella in der praktischen Aufhebung des Privateigentums den Hebel für die Wiedermenschwerdung des Menschen.

Supplementum

Alfred Kurella (1895–1975), Wandervogel zwischen 1910 und 1918, Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, 1918 Mitglied der KPD, 1932 und 1933 Chefredakteur der französischen Wochenzeitschrift „Le Monde“, später Sekretär von Georgi Dimitrow, Stalinverehrer, während des Zweiten Weltkriegs Mitarbeiter in der Propagandaabteilung der sowjetischen Armee, zwischen 1946 und 1949 Bauer und Schriftsteller im Kaukasus, dann Mitglied der SED, Direktor des Literaturinstituts in Leipzig, Funktionär der Akademie der Künste und im Schriftstellerverband der DDR, Mitglied im Politbüro des Zentralkomitees der SED, 1968 Promotion an der Universität in Jena, eigensinniger Gegner des Expressionismus und vor allem Verfechter eines sozialistischen Realismus. In der letzten Rolle wird er uns noch einmal begegnen (siehe Kap. 15).

Wie gesagt, die Debatten über den sozialistischen Humanismus passierten im Sommer 1936. Da war die goldene Zeit in der Sowjetunion vorbei und der große Terror erreichte seinen Höhepunkt. Im August 1936 begannen die Moskauer Schauprozesse. Der äußere Anlass ereignete sich indes bereits zwei Jahre früher. Im Dezember 1934 erschoss ein Attentäter den Leningrader Parteiführer und Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Sergei Mironowitsch Kirow. Stalin sah hinter dem Attentat ein Komplott der Anhänger Trotzkis. Ob Stalin den Mord an Kirow selbst in Auftrag gab, ist unwahrscheinlich, aber möglich. So oder so, Stalin nahm das Attentat zum Anlass für eine große „Säuberung“ in den eigenen Reihen und darüber hinaus.Footnote 3 In mehreren Schauprozessen wurden Angehörige aus Politik, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur wegen Hochverrat, Spionage oder Misswirtschaft verurteilt, in Straflager verbannt oder ermordet.

„Im Herbst Sechsunddreißig“, schreibt Peter Weiss, „sah jeder die Gefahr vor sich, in Ungnade zu fallen, ausgestoßen, festgenommen zu werden, niemand mehr war seiner Stellung sicher, ein jeder kämpfte um sein Dasein in der Partei, um sein Leben und wusste doch nie, wofür er sich zu verantworten hatte. Ein Jahr später, im September Siebenunddreißig, waren sie alle hineingezogen worden in die Kette, die nicht abzusehen war…“ (Weiss, 1983, Band 1, S. 154).

Lew Kamenew und Grigori Sinowjew, die ehemaligen Mitstreiter von Lenin und Stalin, verurteilte man wegen trotzkistischer Verschwörung zum Tode, ebenso Nikolai Bucharin, die Schriftsteller Ossip Mandelstam und Isaak Babel, den avantgardistischen Dramatiker Sergei Michailowitsch Tretjakow, den nicht minder avantgardistischen Theatermacher Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold sowie mach andere, deren Namen wir heute kaum noch erinnern. Karl Radek soll Sinowjew und Kamenew als verkommene Feiglinge bezeichnet haben, Feiglinge, die sich verschworen hätten zu einem verbrecherischen Anschlag auf das Leben des Erbauers Stalin (Heym, 1996, S. 518). Der Verrat half ihm nicht. Man verbannte ihn in ein Arbeitslager im sibirischen Nirgendwo. Dort wurde er 1939 ermordet.

Nicht nur Radek denunzierte. Neid, Vorurteile, Angst, Bespitzelung und wechselseitiger Verrat kennzeichneten das Klima des großen Terrors – ob auf dem Lande, in den Städten, in der Armee, den wissenschaftlichen Institutionen oder in den Reihen der Kommunisten. Auch im Moskauer Hotel „Lux“ trauten sich die dort untergebrachten kommunistischen Emigranten nicht über den Weg. Unter den Bewohnern vom „Lux“ waren u. a. Anton Ackermann, Johannes R. Becher, Georgi Dimitroff, Fritz Erpenbeck, Ruth Fischer, Wolfgang Leonhard, Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, Herbert Wehner, Erich Weinert, Rudolf Slánský, Clara Zetkin, Hedda Zinner und noch einige mehr. Ob Ruth Fischer von Ulbricht denunziert wurde, Becher „alles und jeden bei der Parteileitung“ verpetzte (so der kommunistische Dramatiker Julius Hay, 1977, zit. n. Dwars, 1998), Herbert Wehner (als Kurt Funk) als dienstbeflissener Kommunist andere verriet, ist heute sicher belanglos, zeigt aber, das jeder jeden verdächtigte, um die eigene Haut zu retten. Besonders tragisch und ausführlich dokumentiert ist das Schicksal von Carola Neher, die schöne, gefeierte und unvergessliche Schauspielerin, ob als Polly in Brechts „Dreigroschenoper“ oder als „heilige Johanna der Schlachthöfe“. 1934 emigrierte Carola Neher mit ihrem zweiten MannFootnote 4 in die Sowjetunion, brachte dort 1936 einen Sohn zur Welt und geriet schließlich in den Strudel der stalinistischen Verfolgung. Wieder war eine mehr oder weniger explizite Denunziation der Anlass. Der Schauspieler Gustav von Wangenheim, der 1933 ebenfalls in die Sowjetunion emigriert war, soll in Verhören sie und ihren Mann als antisowjetische Trotzkisten verunglimpft haben (Müller, 2018). Ihr Mann wurde erschossen; sie wurde zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt und starb 1942 an Typhus.

Aus relativ sicherer Entfernung begrüßten deutsche Intellektuelle die Schauprozesse in Moskau und die Verurteilung der Angeklagten. Ernst Bloch, zu dieser Zeit im Prager Exil, hielt die Angeklagten für „politische Verbrecher und Schädlinge“. Lion Feuchtwanger, der während eines Besuches in Moskau die Prozesse gegen Radek und Pjatakow vor Ort beobachten konnte, war von der Schuld der Angeklagten ebenso überzeugt wie Heinrich Mann, der die Schauprozesse von Nizza aus verfolgte. Bertolt Brecht, der Dialektiker, sah in Stalin zwar den Garanten für den weiteren Erfolg der sozialistischen Revolution, kam aber nicht umhin in seinen Notizen vom „verdienten Mörder des Volkes“ zu schreiben (Mittenzwei, 1987, S. 624 ff.).

Jene, die nicht die Privilegien als führende kommunistische Köpfe oder als bekannte Intellektuelle besaßen, wohnten nicht im „Lux“, sondern bereits in irgendeinem Gulag. Sergej Lochthofen beschreibt den Terror am Beispiel seines Vaters Lorenz Lochthofen. Dieser war 1930 als deutscher Kommunist in die Sowjetunion geflohen und dort im Zuge des stalinistischen Terrors in Workuta, einem Arbeits- und Straflager, inhaftiert. „Der Einzelne“, schreibt Sergej Lochthofen, „war nichts. Das Kollektive war alles. Wer sich in der Reihe nicht anstellte, und es gab immer einen Grund zum Anstellen, wurde aussortiert. Menschewiki, Bolschewiki, Trotzkisten, Anarchisten, rechte Abweichler, linke Abweichler, Kommissare, Generäle, Popen, Bauern, Ärzte, Musikanten, Lehrer, Ingenieure, Traktoristen, Stenotypisten, alle, ausnahmslos alle, kamen dran. Selbst die Delegierten des «Parteitages der Sieger» von 1934. Mit Ausnahme Stalins und einer handverlesenen Gruppe seiner engsten Getreuen wurden alle erschossen“ (Lochthofen, 2012, S. 91). Lorenz Lochthofen verbrachte zwanzig Jahre in Workuta. Drei Jahre nach Stalins Tod, im Jahre 1956, wurde er rehabilitiert und ging in die DDR. So viel Glück hatten Millionen Russen, Deutsche, Juden, Polen, Georgier, Ukrainer, Karelen und wo sie auch immer geboren wurden, nicht. Über die Zahl der Opfer, Verbannten und Ermordeten existieren unterschiedliche Angaben. Mehr oder weniger gut lässt sich belegen: Zirka 3,5 Mio. Menschen wurden verbannt oder in Arbeitslager und Gefängnisse gesteckt; 2,5 Mio. sind in den Lagern oder in der Verbannung an Hunger, Krankheit oder Erschöpfung gestorben; mindestens 680.000 Menschen wurden hingerichtet (Hildermeier, 1998, S. 509 ff.). Zu den Verfolgten, Eingesperrten oder Ermordeten gehörten Kulaken, Kommunisten, Priester, Offiziere, Arbeiter, Soldaten, Andersdenkende, Alltagsmenschen. Gerd Koenen schreibt von einer „Psychologie totalitärer Entgrenzung“:

„Es entstand ein Klima des universellen Verdachts bis an den Rand einer kollektiven Psychose, genährt auch von einem grassierenden Informanten- und Spitzelwesen, das gleichzeitig auch noch von einer Flut anonymer Denunziationen gegen Wohnungsnachbarn, Arbeitskollegen, Vorgesetzten oder lokalen Beamten überspült wurde, so wie eine trübe Grundwelle, die alle Strukturen, Verantwortlichkeiten, Verlässlichkeiten fortriss. Es war ein anomischer Zustand, die Erschütterung eines sozialen Grundvertrauens, durch das jeder in einen «Doppelzüngler» verwandelt wurde, der in der Öffentlichkeit so und im engsten Kreise ganz anders sprach“ (Koenen, 2017, S. 926).

Der Stalinismus und der Terror wurden möglich, weil sich ein autoritärer Gesellschafts-Charakter herausgebildet hatte, der die Unterwerfung unter die autoritären Herrschaftsstrukturen ebenso als scheinbare Normalität legitimierte wie den Führerkult und die Gewalt gegen jene, die sich den autoritären Instanzen und ihrem Führer nicht unterordnen wollten. Dieser Gesellschafts-Charakter funktionierte als kollektives Überzeugungssystem, von dem zwar nicht alle Gesellschaftsmitglieder überzeugt waren, dem sich die meisten aber unterwarfen.

Zwischen Juli 1936 und April 1939 bekämpften faschistische Putschisten unter General Franco mit militärischer Unterstützung aus Deutschland, Italien und Portugal die republikanische Armee der demokratisch gewählten Regierung Spaniens und ihre Unterstützer, die internationalen Brigaden. Deutschland hatte mit der Legion Condor zirka 16.000 Mann nach Spanien geschickt. Deutsche Marineschiffe beschossen spanische Städte. Am 26. April 1936 zerbombten deutsche Flugzeige die Stadt Guernica. Ein Jahr später malte Pablo Picasso in Paris im Auftrag der spanischen Republik das bekannte Bild gleichen Namens. Guernica sollte nicht die einzige spanische Stadt bleiben, die von den Deutschen zerstört wurde.

Die Soldaten der Brigaden waren enthusiastische Freiwillige (zwischen 40.000 und 63.000) aus über zwanzig Ländern, darunter Kommunisten, Sozialdemokraten, Anarchisten und Trotzkisten. Zu den bekanntesten deutschen Freiwilligen gehörten Erich Arendt, Artur Becker, Willi Bredel, Ernst Busch, Franz Dahlem, Walter Janka, Alfred Kantorowicz, Egon Erwin Kisch, Ludwig Renn, Erich Weinert, Maxim Zetkin, der Sohn von Clara Zetkin. Die Sowjetunion unterstützte die republikanische spanische Armee sowie die Brigaden militärisch, politisch und versuchte durch Spione des NKWD, des sowjetischen Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten, politischen Einfluss auf die ideologische Ausrichtung der Brigaden zu nehmen. Der spanische Bürgerkrieg endete mit der Niederlage der Republik. Etliche Brigadisten flohen in die Sowjetunion und wurden dort Opfer der stalinistischen Säuberung (siehe auch: Bernecker, 2018).

Am 29. September 1938 einigen sich Adolf Hitler, Neville Chamberlain, Édouard Daladier und Benito Mussolini in München darauf, die Tschechoslowakei aufzuteilen. Zwei Tage später besetzte die Wehrmacht das Sudentenland. Ein Jahr darauf, am 24. August 1939, beschlossen das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion in Moskau einen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Nun stießen die Gegner aus dem Spanischen Bürgerkriegs nicht gerade auf ihre unverbrüchliche Freundschaft an, versicherten sich aber, künftige Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen. In einem Zusatzprotokoll teilten sie auch noch Polen, das Baltikum und Bessarabien in deutsche und sowjetische Einflussgebiete auf. Eine Woche später, am 1. September 1939, begründete Adolf Hitler im Berliner Reichstag den Angriff der Wehrmacht auf Polen mit einer Falschmeldung, die eine schreckliche Nachhaltigkeit bekommen sollte. Angeblich hätten polnische Soldaten den Rundfunksender Gleiwitz überfallen. „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“, so Hitler im Reichstag. Tatsächlich hatte die SS diesen Überfall inszeniert.

Der Zweite Weltkrieg begann und mit ihm der Tiefpunkt humanistischer Anstrengungen. Im November 1939 griff die Rote Armee Finnland an. 1940 überfiel die Wehrmacht Dänemark, Norwegen, später die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Frankreich. Anfang 1940 ordnete der SS-Reichsführer Himmler den Bau des Konzentrationslagers Auschwitz an. Im April und Mai 1940 ermordeten Einheiten des sowjetischen Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten in Katyn Tausende gefangene polnische Offiziere. Mitte Oktober 1940 wurden mehr als 400.000 Jüdinnen und Juden in das Warschauer Ghetto gesperrt. Ebenfalls im Oktober 1940 besetzten sowjetische Truppen das Baltikum. Am 14. November zerstörten deutsche Bomber das Stadtzentrum der englischen Stadt Coventry. Am 22. Juni 1941 überfielen deutsche Truppen die Sowjetunion. Im Dezember 1941 erklärte Deutschland den USA den Krieg.

„Rassenhygiene“ und „Endlösung“

Am 30. Januar 1933 ernannte der Reichspräsident Paul von Hindenburg den Parteivorsitzenden der NSDAP, Adolf Hitler, zum Reichskanzler. Dieser erklärte sich nach dem Tod von Hindenburg zum Führer der Deutschen und der Terror nahm seinen Lauf. Im Februar 1933 ließen die Nationalsozialisten den Berliner Reichstag abfackeln. Anschließend wurde die KPD und bald darauf die SPD verboten, Rivalen im „Röhm-Putsch“ ermordet und Konzentrationslager für politische Gegner eingerichtet.

Nach der Machtübernahme Hitlers und dem Aufstieg der NSDAP zur Regierungspartei begann das dunkelste Kapitel in der Geschichte des Judentums. Hitlers „Antisemitismus der Vernunft“, ein pseudowissenschaftliches Konglomerat aus Sozialdarwinismus, Rassenutopie und radikalen Elementen des völkischen Antisemitismus wurde zum „Heilmittel“ der innenpolitischen Schwierigkeiten Deutschlands verklärt und zur Staatsdoktrin erhoben. Nicht mehr allein Diskriminierung und Entrechtung der jüdischen Bevölkerung, sondern die Entfernung der Juden aus der Gesellschaft war der Zweck antisemitischer Propaganda.

Bereits am 7. April 1933 hatten die Nationalsozialisten das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verabschiedet, in dessen Folge „nicht-arische“ und politisch unerwünschte Beamte in den Ruhestand versetzt wurden. Das betraf alle jüdischen Professoren. Bis Ende 1933 wurden an den deutschen Universitäten 313 ordentliche und 109 außerordentlich Professoren, etwa 400 Honorarprofessoren und Privatdozenten sowie mehr als 500 Mitarbeiter an wissenschaftlichen Instituten, Museen und Bibliotheken entlassen (Jaeger, 1993, S. 221). Ein Drittel aller ordentlichen Professoren und zahlreiche Lehrkräfte in höheren Rängen, die sich mit psychologischen Themen in Lehre und Forschung befassten, verloren durch die Judenverfolgung ihre Anstellungen. Damit wurde die deutsche progressive Psychologie nahezu zum Schweigen gebracht. Von den 308 im deutschen Sprachraum lebenden Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Psychologie im Jahre 1932 emigrierten ab 1933 insgesamt 45, also 14,6 % (vgl. Ash, 1985, S. 74). Darunter waren die meisten der damals führenden Psychologen, unter anderen Curt Bondy (Göttingen), Charlotte und Karl Bühler (Wien), Jonas Cohn (Freiburg), Adhémar Gelb (Halle), Erich von Hornbostel (Berlin), David Katz (Rostock), Wolfgang Köhler (Berlin), Kurt Lewin (Berlin), Wilhelm Peters (Jena), Otto Selz (Mannheim, später in seinem holländischen Exil von den Nazis verhaftet und in Auschwitz ermordet), William Stern (Hamburg), Max Wertheimer (Frankfurt), Traugott E. K. Oesterreich (Tübingen), Heinz Werner (Hamburg), Karl Duncker, Helene Frank, Liselotte Frankl, Else Frenkel-Brunswik, Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld, die Psychoanalytikerinnen Edith Buxbaum, Frieda Reichmann-Fromm und die Psychoanalytiker Alfred Adler, Siegfried Bernfeld, Otto Fenichel, Sigmund Freud, Ernst Fromm, Wilhelm Reich u.v. a. (siehe auch: Wolfradt et al., 2017). Berühmte Künstler, wie Willi Baumeister und Max Beckmann (aus Frankfurt am Main), Otto Dix (aus Dresden), Karl Hofer (Berlin), Paul Klee (Düsseldorf) und Gerhard Mareks (Halle) verloren ihre Professuren an den Kunstakademien.

Künstler, Schauspielerinnen und Schauspieler, Regisseure, Theatermacher, Musikerinnen und Musiker, Komponisten, Architekten, Wissenschaftler und Politiker flüchteten aus Deutschland. Die beispielhafte Aufzählung ist lückenhaft: die Schauspieler Curt Bois und Peter Lorre, die Schauspielerinnen Marlene Dietrich, Asta Nielsen und Lilli Palmer, die Regisseure Fritz Kortner und Billy Wilder, die Sänger Ernst Busch, Jan Kiepura und Richard Tauber, die Komponisten Paul Dessau, Friedrich Hollaender, Arnold Schönberg und Kurt Weill, die Maler und Grafiker Max Ernst, Lyonel Feininger, George Grosz, Lea Grundig, John Heartfield, Paul Klee, Oskar Kokoschka, László Moholy-Nagy, Felix Nussbaum, Kurt Schwitters, die Schriftstellerinnen Mascha Kaléko, Else Lasker-Schüler, Anna Seghers, Grete (Alex) Weiskopf und Hedda Zinner, die Schriftsteller Bertolt Brecht, Max Brod, Alfred Döblin, Fritz Erpenbeck, Lion Feuchtwanger, Erich Fried, Stefan Heym, Heinrich und Thomas Mann, Robert Musil, Erich Maria Remarque, Joseph Roth, Gershom Scholem, Friedrich Wolf, Stefan Zweig, die Architekten Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, die Physiker Hans Bethe, Albert Einstein und Hans Reichenbach, die Physikerin Lise Meitner, die Philosophin Hannah Arendt, die Philosophen Theodor W. Adorno, Günther Anders, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Martin Buber, Max Horkheimer, Georg Lukács, Herbert Marcuse, Hans Mayer, Helmuth Plessner, Karl Popper, Manès Sperber, die Soziologen Norbert Elias, Siegfried Kracauer, Leo Löwenthal, Friedrich Pollock, Karl Mannheim, Alfred Schütz und Alphons Silbermann und viele mehr (siehe auch: Wikipedia: Liste bekannter deutschsprachiger Emigranten und Exilanten, 1933–1945).

Andere wurden von den Nationalsozialisten in Zuchthäuser und Konzentrationslager gesperrt, so der Schriftsteller Jean Améry, die Psychologen Bruno Bettelheim, Max Brahn (ermordet in Auschwitz), Heinrich Düker, der Politiker und Journalist Emil Carlebach, der Psychoanalytiker Ernst Federn, der Psychiater Viktor Emil Frankl, der Mediziner und Philosoph Ludwik Fleck, der französische Soziologe Maurice Halbwachs (ermordet in Buchenwald), der ungarische Schriftsteller Imre Kertés, der italienische Schriftsteller Primo Levi, die österreichische Ärztin Ella Lingens-Reiner, der Schriftsteller und Pazifist Erich Mühsam (ermordet im Konzentrationslager Oranienburg), der Philologe und Psychologe David Ernst Oppenheim (ermordet in Theresienstadt), der spanische Schriftsteller Jorge Semprún u.v. a. Der Psychologe Kurt Huber (München) war Mitglied in der Widerstandgruppe „Weiße Rose“ und wurde 1944 hingerichtet.

Der größte Teil der „arischen“ Beamten unterzeichneten im November 1933 ein Bekenntnis „zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“. Zu den Unterzeichnern gehörten bekannte Psychologen, wie Narziß Ach aus Göttingen, Georg Anschütz aus Hamburg, Ernst Broermann aus Bonn, Erich Jaensch aus Marburg, Otto Klemm, Felix Krueger, Philipp Lersch und Wilhelm Wirth aus Leipzig oder Werner Straub aus Dresden. Nur wenige nicht-jüdische Psychologen äußerten ihre Bedenken gegen die nationalsozialistischen Gleichschaltungsbestrebungen, so der Berliner Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler (1887–1967).Footnote 5

Die Nürnberger Rassengesetze wurden am 15. September 1935 auf dem 7. Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg einstimmig beschlossen. Damit stellten die Nationalsozialisten ihre antisemitische Ideologie auf eine juristische Grundlage. Die Rassengesetze enthielten das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (Blutschutzgesetz)“, das „Reichsbürgergesetz“ und das „Reichsflaggengesetz“. Zur „Reinhaltung des deutschen Bluts“, einem zentralen Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie, verbot das so genannte Blutschutzgesetz Ehen zwischen Juden und Nicht-Juden sowie deren außerehelichen Geschlechtsverkehr. Als Strafe drohten Gefängnis und Zuchthaus. Jüdinnen und Juden wurde es untersagt, „arische“ Dienstmädchen unter 45 Jahren zu beschäftigen. Hintergrund war die ideologische Unterstellung, „der Jude“ würde sich sonst an diesen vergehen. Zudem wurde ihnen verboten, die zur Reichsflagge erklärte Hakenkreuzflagge zu hissen. Im Reichsbürgergesetz wurde festgelegt, dass nur „Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes“ Reichsbürger sein können. Bekanntlich erhielten die Rassegesetze durch die Kommentare von Wilhelm Stuckart und Hans Josef Maria Globke den vermeintlich offiziellen Rechtsanstrich. Auf Globke gehen die gesetzlichen Festlegungen zurück, nach denen Jüdinnen und Juden in ihren Pässen ab 1937 durch ein „J“ zu kennzeichnen waren und – ab 1938 – ihrem eigentlichen Vornamen noch den Beinamen „Sara“ bzw. „Israel“ beifügen mussten. Hans Josef Maria Globke, und das ist ebenfalls nicht vergessen, war nicht nur wichtiger Mitverfasser und Kommentator der Rassegesetze, sondern zwischen 1953 und 1963 unter dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer Chef des Bundeskanzleramts!

Mit den Nürnberger Rassegesetzen wurden auch die Sinti und Roma zu „Rassefremden“ erklärt. 1938 erließ der Reichsführer der SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, einen „Runderlass zur Bekämpfung der Zigeunerplage“. Die praktische Durchführung des Erlasses lag in den Händen der Polizei und der „Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle“, die der Mediziner und Psychologe Robert Ritter leitete (Frings, 2015, S. 82 ff.). Ab Mitte Mai 1940 begann die Massendeportation von Sinti und Roma in Ghettos und Konzentrationslager. Über die Zahl der dort ermordeten Sinti und Roma existieren keine gesicherten Angaben. Geschätzt wird, dass zwischen 200.000 und 500.000 Opfer zu beklagen sind.

Die Ermordung Kranker und Behinderter gehörte ebenfalls zur Rassenpolitik der Nationalsozialisten. 1933 verabschiedeten die Nationalsozialisten das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Damit wurde es möglich, alle jene Menschen, die nicht den Vorstellungen vom „gesunden Volkskörper“ entsprachen, zu sterilisieren. Ab 1934 sollen bis Kriegsende mindestens 360.000 Zwangssterilisationen durchgeführt worden sein. Mit einem „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ aus dem Jahre 1935 wurde Menschen mit bestimmten Krankheiten verboten zu heiraten (Frei, 1991, S. 10). Um die „arische“ Volksgemeinschaft zu säubern und zu erneuern, folgte ab 1939 ein umfassendes „Euthanasie-Programm“. Ausgedacht und initiiert haben es Mitarbeiter aus dem Stab Adolf Hitlers sowie einflussreiche Psychiater. Menschen mit erblichen und unheilbaren Krankheiten, mit „Missbildungen“, „leistungsunfähige“, „asoziale“ oder „rassefremde“ Menschen, all jene also, die als „minderwertig“ oder „lebensunwert“ galten, sollten fortan aus dem deutschen „Volkskörper“ entfernt werden. Rund 200.000 Kinder und Erwachsene mit psychischen und somatischen Erkrankungen wurden im Rahmen des „Euthanasie-Programms“ totgespritzt, vergast, erschossen (Aly, 2013). Die „wissenschaftlichen“ Belege für das menschenverachtende „Euthanasie-Programm“ lieferten vor allem Anthropologen und Biologen. Sie beteiligten sich an der Ausbildung von „Eignungsprüfern“ des Rasse- und Siedlungsprogramms, schrieben „Abstammungsgutachten“, um die „biologischen“ Eltern von Juden, „Halb- und Viertel-Juden“ ausfindig zu machen und waren selbst an der „ethnischen Säuberung“ beteiligt. Das sogenannte Reichssippenamt hatte im Jahre 1943 für derartige Arbeiten 22 rassenbiologische Institute und zwölf zusätzliche Experten gelistet (Masson, 1999). Unter den Experten waren – um nur einige Beispiele zu nennen – Leute wie Hans Friedrich Karl Günther (18911968), Fritz Arlt (19122004), Egon von Eickstedt (18921965), Hans Fleischhacker (19121992), Wilhelm Gieseler (19001976), Ilse Schwidetzky (19071997) oder Josef Mengele (1911–1979). Der Rassentheoretiker Günther lehrte einige Jahre in Jena, später in Berlin und Freiburg, wurde von Himmler hochgeschätzt und publizierte nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland in rechtsextremen Journalen. Der SS-Mann Arlt verantwortete u. a. als Leiter des Landesamts für Rassen-, Sippen- und Bevölkerungswesen in Schlesien die dortige „ethnische Säuberung“. Nach 1945 gehörte er u. a. der Geschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände an. Der Anthropologe und Rassentheoretiker von Eickstedt erstellte mit seinen Mitarbeitern an der Universität Breslau im großen Stile „Abstammungsgutachten“. Auf Empfehlung von Hans-Georg Gadamer übernahm von Eickstedt nach 1945 kurzzeitig die Leitung des Anthropologischen Instituts an der Universität Leipzig und ging dann als Professor für Ethnologie an die Universität Mainz. Nach seiner Emeritierung übernahm seine ehemalige Mitarbeiterin und Rassentheoretikerin aus Breslau, Ilse Schwidetzky, den Lehrstuhl in Mainz. Wilhelm Gieseler, Professor für Rassenbiologie an der Universität Tübingen, war Hauptsturmführer im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (RuSHA-SS). Sein Mitarbeiter Hans Fleischhacker, der in Jena studiert hat, wurde 1941 SS-Obersturmführer sowie Eignungsprüfer beim RuSHA-SS. 1943 besuchte er Auschwitz, um (lebendiges) „Material“ für eine „jüdische Skelettsammlung“ zu sammeln. Dazu führte er anthropologische Messungen an 86 jüdischen Lagerinsassen durch, die anschließend deportiert und ermordet wurden. Im Oktober 1945 wurde Fleischhacker aus dem universitären Dienst entlassen. Nach der Einstufung als „Mitläufer“ und verschiedenen anderen Anstellungen kehrte Fleischhacker 1960 als wissenschaftlicher Assistent an die Universität Tübingen zurück. Nach einer erneuten Anklage wegen der Tätigkeit in Auschwitz wurde er 1971 freigesprochen und arbeitete später bis zu seiner Emeritierung als Professur an der Universität Frankfurt am Main (alle Angaben ausführlich: Masson, 1999, S. 12 ff.). Über den Lagerarzt von Auschwitz-Birkenau Dr. Josef Mengele lohnt es nicht, irgendwelche Worte zu verlieren.

Einflussreiche Psychologen unterstützten die nationalsozialistische „Rassenhygiene“ sowie das „Euthanasie-Programm“ ebenfalls. Ich beschränke mich auf drei Beispiele: Friedrich Sander, Psychologieprofessor in Jena, war nicht nur eifriges Mitglied der NSDAP, sondern schrieb engagiert über die notwendige „Ausschaltung des parasitisch wuchernden Judentums“ (Sander, 1937, zit. n. Wittmann, 2002, S. 317).Footnote 6 Eduard Spranger, der schillernde Vielschreiber und Erfinder des „Dritten Humanismus“ (siehe Kap. 12), schrieb 1938 (Nachdruck 1941) von den Maßnahmen der Eugenik „[…] zur Sicherung eines gesunden und – wenn nötig – zur Ausmerzung eines kranken Nachwuchses“ (Spanger, 1938, zit. n. Ortmeyer, 2008, S. 57). Im Mittelpunkt der Medizin stünde nun nicht mehr die Gesunderhaltung und Heilung des Einzelnen, sondern die Volkshygiene. Philipp LerschFootnote 7, Psychologieprofessor in Leipzig, hielt im Dezember 1941 einen Vortrag im Auditorium maximum der Leipziger Universität, in dem er vom Recht sprach, „[…] den Eintritt minderwertiger Anlagen – körperlicher Krankheiten, geistiger, seelischer, sittlicher und sozialer Minderwertigkeiten – in den Erbgang zu verhindern, also die Träger minderwertiger Erbanlagen von der Fortpflanzung auszuschließen“ (Lersch, 1942, zit. n. Matthes, 1989, S. 4).

Am 9. November 1938, dem Massenpogrom, das die NSDAP und die SA geplant und organisiert hatten, wurden jüdische Geschäfte, Privathäuser, Wohnungen und Synagogen zerstört. Hunderte Juden kamen in dieser Nacht ums Leben; 30.000 Juden wurden anschließend in Konzentrationslagern interniert; Jüdinnen und Juden mussten eine kollektive Sondersteuer in Höhe von über einer Milliarde Reichsmark zahlen; aus den ihnen noch verbliebenen Berufen wurden sie verdrängt und durften keine Kinos, Theater und Konzerte mehr besuchen. Tausende von Jüdinnen und Juden verließen daraufhin Deutschland. Was mit den Dagebliebenen geschehen sollte, konnten die Deutschen spätestens seit Hitlers Rede im Reichstag am 30. Januar 1939, dem Jahrestag der „Machtergreifung“ wissen.

„Wenn es dem internationalen Finanzjudentum innerhalb und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ (Hitler, am 30.1.1939; zit. n. Maruhn, 1995, S. 52).

Die Rede Hitlers wurde gefilmt, vom Rundfunk ausgestrahlt und in allen Zeitungen im Wortlaut abgedruckt.

Mit der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 und den anschließenden Massendeportationen begann dann die letzte Phase der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, die in der systematischen, millionenfachen Ermordung der Juden endete. Die Öfen wurden angeheizt. Und sechs Millionen Juden starben in Auschwitz und Treblinka, in Belzec und Sobibor, in Majdanek und Chelmno.