Weiße-Rose-Vorlesung – US-Botschafterin Amy Gutmann - US-Botschaft und Konsulate in Deutschland
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Januar 31, 2024

Weiße-Rose-Vorlesung – US-Botschafterin Amy Gutmann

München, 30. Januar 2024

Die Ludwig-Maximilians-Universität München ist eine der ältesten und renommiertesten Universitäten Deutschlands. Eine Institution, die viele Traditionen pflegt. Die Tradition der akademischen Exzellenz. Sie bringt traditionell herausragende Gelehrte und künftige Führungspersönlichkeiten hervor. Und vor allem pflegt sie die Tradition der akademischen Freiheit und Erinnerungskultur, die für unser heutiges Gespräch besonders wichtig ist.

Herr Präsident, Professor Dr. Huber, zu dieser Tradition gehört auch das jährliche Gedenken an die Weiße Rose und das Eingeständnis, dass diese geschichtsträchtige Institution diesen Werten zeitweise nicht in dem Maße gerecht wurde, wie sie es heute eindeutig tut.

In den 1930er Jahren gab es einige Vorzeichen: von Aussagen zur Reinheit und Überlegenheit der arischen Rasse über judenfeindliche Boykotte und Enteignungen bis hin zum Bau von Konzentrationslagern in ganz Deutschland. Alles Vorzeichen, die auf den Holocaust hindeuteten. Die Selbstzufriedenheit – und auch das Desinteresse – staatlicher Institutionen erlaubten es vielen Menschen in Machtpositionen diese und viele weitere Vorzeichen zu ignorieren oder zu verharmlosen. Es gab viele Menschen in Deutschland, denen der Antisemitismus der Nationalsozialisten nicht behagte, die aber schwiegen – und das gerade zu einer Zeit, in der sie noch etwas hätten bewirken können. Einige wenige äußerten sich in Reaktion auf die zutiefst beunruhigenden Entwicklungen, die sie um sich herum beobachteten.

Zeitsprung von den 1930er Jahren ins Jahr 1942: Die Studierenden, die sich in der Weißen Rose zusammengeschlossen hatten, riefen zum Widerstand gegen die NS-Diktatur und zur Beendigung des Krieges auf. Rückblickend waren die Vorzeichen nicht zu übersehen. Der NS-Staat hatte sich schon längst – auf blutige, brutale, barbarische Weise – als das offenbart, was er von Anfang an war: ein mörderisches, antidemokratisches, genozidales Regime. Als die jungen Heldinnen und Helden der Weißen Rose aufstanden und Haltung zeigten, setzten sie alles aufs Spiel. Sie waren unglaublich mutig. Sie erhoben ihre Stimme, als die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung schwieg.

Bei ihrem sogenannten Prozess – das Verfahren als Prozess zu bezeichnen, wird dem Wort in keiner Weise gerecht – durften die Angeklagten der Weißen Rose nicht einmal zu ihrer eigenen Verteidigung aussagen. Sie wurden noch am gleichen Tag zum Tode verurteilt. Die einzige aktenkundige Aussage ist die Erklärung von Sophie Scholl: „Was wir sagten und schrieben, denken so viele. Nur wagen sie nicht, es auszusprechen.“

Mein Vater Kurt Gutmann, das jüngste von fünf Kindern einer gläubigen deutsch-jüdischen Familie, wuchs nicht allzu weit von hier in einer bayerischen Kleinstadt auf. Er wagte es, es auszusprechen, Stellung zu beziehen – und entsprechend zu handeln.

Als Adolf Hitler an die Macht kam, studierte Kurt Gutmann in Nürnberg, wo er bei einer christlichen Familie wohnte. Die Familie behandelte ihn gut, aber als er sah, wie sie bei einem Aufmarsch der Nazis den Hitlergruß zeigten, konnte er dieses Vorzeichen nicht ignorieren: Er wusste das, und er sagte ihnen, dass es Zeit war zu handeln. 1934 floh er aus Deutschland, seiner Heimat, der einzigen Heimat, die seine Familie je gekannt hatte. Weil er so vorausschauend und mutig handelte, konnte er die Flucht seiner Eltern und seiner vier älteren Geschwister nach Indien organisieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierten sie alle in die Vereinigten Staaten, wo ich auf die Welt kam.

Durch Hitlers Machtübernahme war mein Vater zu einem Leben als Flüchtling gezwungen und musste seine formale Ausbildung abbrechen. Ich bin stolz darauf, seine Tochter zu sein. Ich bin stolz darauf, jüdisch zu sein. Und ich war als Professorin und Universitätspräsidentin tätig und bin nun US-Botschafterin in dem Land, aus dem Kurt Gutmann fliehen musste. Ich stehe in aller Demut vor Ihnen. Im Namen meines Vaters und im Namen unzähliger anderer Menschen widme ich diese Weiße-Rose-Gedächtnisvorlesung den Studierenden und Lehrkräften dieser Universität sowie den Studierenden und Lehrkräften überall in Deutschland und den Vereinigten Staaten, die aufstehen und gegen Antisemitismus und alle Formen von Hass Haltung zeigen.

Ich widme diese Rede auch den Nachfahren der Widerstandskämpfenden der Weißen Rose, die ich eben kennenlernen durfte. Sie tragen nicht nur ihre Namen, auch ihr Geist lebt in Ihnen fort.

Ich möchte heute gerne darüber sprechen, wie wichtig es ist, Vorzeichen zu erkennen und für Demokratie aufzustehen und Haltung zu zeigen. Und ich möchte über die Rolle von Universitäten heute und in der Zukunft sprechen. Letztlich werden unsere wissenschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen Fähigkeiten, so großartig sie auch sein mögen, nicht unsere Zukunft bestimmen. Unsere Zukunft wird vielmehr davon bestimmt werden, wie wir diese Fähigkeiten nutzen.

Diese Entscheidung ist die wichtigste, die wir als Staaten, als Gesellschaften und als verantwortungsbewusste, demokratische Bürgerinnen und Bürger zu treffen haben. Diejenigen, die das Glück haben, in starken Demokratien zu leben, haben die Verantwortung, ihre Rechte als Staatsbürgerinnen und -bürger klug zu nutzen. Demokratie ist harte Arbeit. Wir dürfen sie nicht als selbstverständlich betrachten. Gleichgültigkeit angesichts von Vorzeichen ist geradezu eine Sünde.

In den vergangenen Wochen sind in ganz Deutschland Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen, um für Demokratie zu demonstrieren. Ihnen sind die Vorzeichen nicht gleichgültig. Sie beschäftigen sie. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie zeigen Haltung gegen Hass und Rechtsextremismus. Die Verteidigung der Demokratie ist von allergrößter Bedeutung. Und gemeinsam sind wir stärker.

In diesem Jahr werden in Ländern, in denen beinahe die Hälfte der Weltbevölkerung lebt, in der einen oder anderen Form Wahlen stattfinden. Zum ersten Mal seit 20 Jahren sind mehr Länder weltweit geschlossene Autokratien als liberale Demokratien.

Im Jahr 2023 nahm dem jüngsten Bericht von Freedom House zufolge „die Freiheit im 17. Jahr in Folge weltweit weiter ab“. Die Meinungsfreiheit, das Recht, aufzustehen und Haltung zu zeigen, ist das erste Opfer dieser globalen Ausbreitung von Autokratie. In Autokratien zahlt man einen hohen Preis, wenn man Ansichten äußert, die von denen der Regierung abweichen.

Ist die Demokratie in Gefahr? In einer Zeit, in der schätzungsweise 3,8 Milliarden Menschen aufgerufen sind, in irgendeiner Form ihre Stimme abzugeben, klingt diese Frage vielleicht merkwürdig.

Wir können es uns allerdings auch jetzt nicht leisten, die Vorzeichen zu ignorieren. Verlassen Sie sich aber nicht nur darauf, was ich Ihnen sage. Einige Monate vor seinem Tod im Jahr 2020 sprach John Lewis, eine Legende der US-Bürgerrechtsbewegung, einer der führenden Köpfe des Marschs auf Washington von 1963, ein Freund und einer meiner persönlichen Helden, darüber, welche seiner Erfahrungen er gerne an junge Menschen weitergeben würde.

Lewis’ Vater war Landpächter. Er wuchs in der Zeit der Jim-Crow-Gesetze im ländlichen Alabama auf. Rassismus war allgegenwärtig. Seine Eltern sagten ihm immer: „Fang dir bloß keinen Ärger ein.“

Zu seinem Engagement inspirierte ihn als junger Mann der Busboykott von Montgomery, der mit der Weigerung Rosa Parks‘ begann, ihren Sitzplatz im vorderen Teil des Busses freizugeben. Rosa Parks inspirierte ihn dazu, nicht zu akzeptieren, dass alles einfach so weiterläuft, sondern sich einzumischen, Ärger zu machen, guten Ärger, notwendigen Ärger. „Sie sagte immer wieder zu uns“, erinnert er sich, „wenn ihr etwas seht, das nicht richtig, nicht fair, nicht gerecht ist, dann tut etwas“.

John Lewis wurde mehrfach verhaftet und verletzt, und er blieb dennoch überzeugter Anhänger der Philosophie der Gewaltlosigkeit, die er von Rosa Parks und Martin Luther King jr. übernommen hatte.

Er setzte sich unnachgiebig für die freie Meinungsäußerung ein und verurteilte Hetze. „Ich glaube an die freie Meinungsäußerung“, sagte Lewis, „aber ich glaube auch, dass wir die Pflicht haben, rassistische, heuchlerische, antisemitische oder hasserfüllte Äußerungen zu verurteilen“.

Ebenso nachdrücklich engagierte sich John Lewis in der Politik, nicht nur bei Demonstrationen, sondern auch bei Wahlen: zunächst an der Basis und später über 30 Jahre lang im US-Kongress. Er setzte sich während seiner gesamten Laufbahn immer wieder für tiefgreifenden Wandel ein, indem er sich für Menschen stark machte, die nicht für sich selbst eintreten konnten. Er erkannte Möglichkeiten, Kompromisse zu schließen, die zu besseren Bedingungen für alle führen würden.

Den ersten Schritt zu tiefgreifendem Wandel können alle Bürgerin und Bürger tun. Dieser erste Schritt besteht darin, wählen zu gehen. Die Stimmabgabe ist das mächtigste Instrument einer Demokratie. Das Recht darauf, dass die eigene Stimme zählt, markiert überall auf der Welt die Schwelle zu Demokratie und Freiheit. Mit ihr ist politisch alles möglich. Ohne sie ist nichts möglich.

Hier in Deutschland hat bei den vergangenen zwei Bundestagswahlen die Wahlbeteiligung über alle Altersgruppen hinweg zugenommen. Unter älteren Wählerinnen und Wählern ist die Wahlbeteiligung deutlich höher als unter den jüngeren. Auch in den Vereinigten Staaten.

Was heißt das? Das heißt, dass mehr junge Menschen zur Wahl gehen müssen, wenn sie maßgebliche Veränderungen bewirken wollen. Denn nur, indem sie ihre Stimme abgeben, können junge Menschen Änderungen an den Gesetzen und der Politik erreichen, die ihr Leben und ihre Zukunft grundlegend beeinflussen werden.

Zu diesen Themen gehören der Klimawandel, die Regulierung von künstlicher Intelligenz, die Rechte von Frauen und LGBTQAI+-Menschen, Beschäftigungsmöglichkeiten, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Nahrungsmittelunsicherheit, globaler Frieden und andere grundlegende Menschenrechte und Chancen.

Meine Botschaft an alle, die das Glück haben, in einem demokratischen Land zu leben und wählen zu dürfen, lautet also: Gehen Sie wählen, engagieren Sie sich. Shirley Chisholm, die erste schwarze Frau, die in den Kongress der Vereinigten Staaten gewählt wurde, sagte: „Wenn für dich kein Platz am Tisch vorgesehen ist, bring einen Klappstuhl mit.“ Erlauben Sie mir, das mit einer meiner liebsten Redewendungen zu ergänzen: „Wenn du nicht mit am Tisch sitzt, stehst du auf der Speisekarte.“

Ich war und bin von Beruf Lehrerin und Wissenschaftlerin. Mit dem Buch Democratic Education begann ich meine akademische Laufbahn. Ich habe schon als Kind von meinem Vater gelernt, dass Bildung und Demokratie miteinander zusammenhängen.

Demokratische Bildung bringt sowohl die Menschen als auch die Gesellschaft voran. Damit unsere Demokratien weiterbestehen, müssen wir die Bildung verbessern und häufiger aufstehen und uns gegen Desinformation und Hass aussprechen.

Damit Demokratie funktioniert, muss Bildung mehr vermitteln als Lesen, Schreiben und Rechnen. Sie muss auch Toleranz und Respekt gegenüber anderen Religionen, Ethnien, Geschlechtern, sexuellen Orientierungen und Fähigkeiten lehren. Studierende müssen lernen, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden. Und Haltung zu zeigen gegen Unwahrheiten und Hetze.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist unabdingbar für jede Demokratie. Es darf nicht als Freibrief für Schikane, Drohungen oder Anstiftung zu Gewalt missverstanden werden. Damit die freie Meinungsäußerung der Demokratie dient, muss sie verantwortungsvoll angewendet werden. Deshalb ist Bildung für das Fortbestehen und die erfolgreiche Entwicklung von Demokratien unerlässlich.

Wir müssen junge Menschen dazu befähigen, Haltung zu zeigen, sich gegen Hass und Grausamkeit auszusprechen und zugleich auch offen für Standpunkte zu sein, die von ihren eigenen abweichen.

Das ist eine bedeutende Herausforderung für Universitäten im 21. Jahrhundert. Universitäten und Hochschulen gibt es seit Jahrtausenden; es gab sie schon im alten China, Ägypten, Griechenland und Indien. Die besondere Tradition, dass Studierende und Gelehrte zusammenkommen und dadurch ein einzigartiges Lernumfeld entsteht, gab es schon lange bevor liberale Demokratien entstanden.

Diese Universität wurde 1472 gegründet – über 300 Jahre vor der Gründung meines Landes! Die Erfindung des Buchdrucks entfaltete gerade ihre Wirkung. Es war eine neue Welt.

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert prägte das deutsche akademische Modell die Universitäten in den Vereinigten Staaten. Es basierte auf dem Ideal einer Gemeinschaft von Gelehrten und Studierenden, die sich einer gemeinsamen Aufgabe widmeten: der Erschließung neuen Wissens durch Wissenschaft und Forschung und der Bewahrung überlieferten Wissens, das einer offenen Hinterfragung immer wieder standhält.

Die Universitäten von heute sind globaler und vielfältiger denn je. Was auf der Welt geschieht, dringt fast unmittelbar in unsere Hörsäle und Sitzungsräume. Wir erwarten von den Lehrenden und Studierenden heute, dass sie ihre erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse zur Lösung der großen Probleme unserer globalen Gesellschaft einsetzen. Aber Fähigkeiten und Wissen allein sind nicht genug. Genauso wichtig ist ein moralisches Bekenntnis zur freien Meinungsäußerung und zur Anerkennung von Unterschieden. Die Unterschiede zwischen uns spalten uns heute häufig in feindlich gesinnte Lager.

Der Auftrag der Demokratiebildung, den Universitäten heute haben, ist nur zu erfüllen, wenn wir eingehend diskutieren und dabei unser aller Recht anerkennen, frei von Fanatismus, Einschüchterung und Schikane zu lernen, zu arbeiten und zusammenzuleben.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist eine unserer großen Stärken. Wir müssen es verantwortungsbewusst nutzen, damit es seinen Wert voll entfalten kann. Wir haben immer wieder gesehen – insbesondere und auf sehr traurige Weise seit den Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober: Wenn Meinungsfreiheit unverantwortlich genutzt wird und die Grenzen der freien Meinungsäußerung in Richtung Schikane, Drohungen und Einschüchterung überschritten werden, löst das berechtigterweise Angst und Verzweiflung, tiefen Schmerz, tiefe Trauer und Wut aus.

Wenn jüdische Menschen nur deshalb angegriffen werden, weil sie Juden sind, ist das beängstigend und schlicht und einfach Antisemitismus. Und als solcher muss er auch benannt werden. Wir dürfen angesichts antisemitischer Vorfälle nicht einfach zusehen und schweigen. Wir müssen Antisemitismus uneingeschränkt verurteilen. Ebenso müssen wir Islamfeindlichkeit uneingeschränkt verurteilen. Viel zu oft werden Menschen muslimischen Glaubens aufgrund von Hass auf ihre religiösen Überzeugungen das Ziel von Angriffen. Das schlimmste Gift, das es gibt, ist der Hass auf Menschen anderer Religionen und Nationalitäten.

Um Hass wirksam zu begegnen, müssen gewissenhafte Menschen gemeinschaftsübergreifende Bündnisse bilden und zusammenarbeiten, damit Antisemitismus, Islamophobie, Rassismus und Fanatismus in all ihren Erscheinungsformen verstanden, erkannt und bekämpft werden können. Wir trauern um jedes verlorene Menschenleben: um Israelis, Palästinenser, Juden, Christen, Muslime, Gläubige und Nichtgläubige und Menschen jeder Nationalität.

Wir müssen uns auf jede erdenkliche Weise der Entmenschlichung anderer entgegenstellen, die dazu führt, dass unschuldige Frauen, Männer und Kinder sinnlos, tragisch und grausam leiden und sterben müssen.

Wie Außenminister Blinken zerreißt auch mir der Krieg in Israel und Gaza das Herz. Unser gemeinsames Ziel besteht nicht nur darin, diesen Krieg zu beenden. Es besteht darin, den Terror der Hamas für immer zu stoppen, die Gewaltspirale zu durchbrechen und etwas aufzubauen, das stärker und sicherer ist, damit sowohl Israelis als auch Palästinenserinnen und Palästinenser in Sicherheit leben können.

Auch aus diesem Grund befürworten wir eine Zwei-Staaten-Lösung und verurteilen die Hamas aufs Schärfste als terroristische Organisation, die es sich zum Ziel gemacht hat, Israel zu zerstören und gleichzeitig die Interessen der palästinensischen Bevölkerung untergräbt.

Ein aus Hass verübtes Verbrechen wirkt lange nach. Sei es der verheerende Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober oder ein anonymes Hakenkreuz an einer Wand oder die sinnlosen, feigen Anschläge auf Synagogen und Moscheen in unseren Ländern – Schmerz und Angst wirken immer über die physischen Opfer hinaus und hallen auch dann noch lange nach, wenn sich die Schlagzeilen schon längst wieder anderen Themen widmen.

Schwierige Zeiten wie diese verlangen von uns, über unsere Werte nachzudenken und eine stärkere Gemeinschaft zu bilden – eine Gemeinschaft, in der Streitgespräche und Meinungsverschiedenheiten mit akademischer Gründlichkeit und in einem zivilen Diskurs ausgetragen werden, eine echte Heimat für intellektuelle Erkundungen und Debatten, die die Menschlichkeit aller würdigen. Wenn diese Begegnungen geduldig und respektvoll sind, tragen sie dazu bei, dass in universitären Umgebungen viel menschliches Wissen und Innovation entstehen kann, auch hier an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Seit über 550 Jahren forschen, lehren und lernen hier an Ihrer Universität viele der besten Köpfe ihrer jeweiligen Zeit. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich die LMU dieser wichtigen Arbeit wieder zugewandt, mit Mut und Überzeugung. Die Aktionen der Widerstandskämpferinnen und -kämpfer der Weißen Rose und Ihr Gedenken daran sind bleibende Symbole Ihres engagierten Handelns und erinnern jede und jeden an die Notwendigkeit, gegen Antisemitismus und für die Freiheit des menschlichen Geistes zu kämpfen, wo und wann auch immer sie bedroht ist, und auch, wenn dies große persönliche Opfer fordert.

Wir stehen also an einem Wendepunkt der Geschichte – einem Punkt, an dem die Zukunft der Demokratie wirklich auf dem Spiel steht – und ich stehe hier vor Ihnen, nicht nur, um die Weiße Rose, Kurt Gutmann und sehr viele andere als Vorbilder zu würdigen, die die Tragweite der vor ihnen liegenden Entscheidungen erkannten und entsprechend handelten.

Ich stehe auch vor Ihnen, um die Tragweite der Entscheidungen anzuerkennen, die vor jedem und jeder Einzelnen von uns liegen. Was wir tun oder nicht tun wird die Zukunft unserer Demokratien für die nächsten Jahrzehnte bestimmen.

Unsere anhaltende Unterstützung der Menschen in der Ukraine beruht schlicht auf einer Erfahrung, die uns die Geschichte gelehrt hat: Wenn Diktatoren für ihr aggressives Vorgehen nicht bezahlen müssen, verursachen sie immer mehr Chaos, Tod und Zerstörung. Um es noch deutlicher zu sagen: Putins groß angelegter Einmarsch in die Ukraine ist nicht sein Endziel. Es ist sein blutiges, brutales Vorzeichen.

In diesem Augenblick unserer gemeinsamen Geschichte sind wir alle aufgerufen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um mit unseren eigenen Worten und Taten die Welt zu gestalten, die wir uns wünschen. Wie schon in der Vergangenheit ist Schweigen auch heute mit Feigheit gleichzusetzen.

Deshalb habe ich im vergangenen Jahr an unserer Botschaft und unseren fünf Konsulaten die Kampagne Stand Up, Speak Out for Democracy ins Leben gerufen. Gemeinsam werden wir unsere Stimmen und unsere Plattformen nutzen, um eine tolerantere, sicherere Zukunft zu schaffen. Damit unsere Kampagne Stand Up, Speak Out for Democracy erfolgreich ist, wenden wir uns an die jüngere Generation sowie an Bürgerinnen und Bürger aller Altersgruppen und rufen sie auf, sich uns anzuschließen, aufzustehen und Haltung zu zeigen.

Wir alle müssen uns darin üben, eingehend und dennoch vernunftgeleitet zu diskutieren. Und wir müssen all jene unterstützen, die sich für unser Gemeinwohl einsetzen, die Haltung zeigen und für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie Stellung beziehen.

Dies ist die einfache Botschaft, die wir in unsere Gesellschaft und unsere Welt hinaustragen müssen. Die Vorzeichen von Hass und Grausamkeit umgeben uns überall. Gleichgültigkeit ist Ungerechtigkeit. Zeigen wir – mit unseren eigenen Worten und auf unsere eigene Weise – Haltung für die Werte, die wir teilen. Das schulde ich meinem Vater. Das schulden wir alle den Mitgliedern der Weißen Rose.

Originaltext: Weisse Rose Commemoration at Munich University