"Die Amitié" von Ute Holl, Peter Ott/Kollektiv Amitié - Im Kino - Filmkritik von Fabian Tietke - Perlentaucher

Im Kino

Tomaten, Dosen, Blut oder rote Farbe

Die Filmkolumne. Von Fabian Tietke
20.03.2024. Ute Holl und Peter Ott entwerfen die Vision eines Netzwerkes, das Migranten mit Informationen versorgt und die reale Welt mit der virtuellen verbindet. Mit geringen finanziellen Mitteln realisiert, ist "Die Amitié" der seltene Fall eines gelungenen deutschen utopischen Science-Fiction-Films, der nicht in die Fallen der Personalisierung tappt.


Eine virtuelle Kamera bewegt sich durch eine Art Hof, an den Rändern ein paar Büsche, die Formen sind teils Fragment. Wo Transparenzen sein müssten, sind graue Flächen, wie angerissen stehen zwei rote Schiffscontainer, im Hintergrund ragen Berge auf. Die Fahrt der virtuellen Kamera holpert durch die Animation. In Liveaction sitzen zwei Menschen im Bus. Als Dieudonné wegnickt, fällt ihm sein Buch aus der Hand: eine französische Originalausgabe von Frantz Fanons "Schwarze Haut, weiße Masken". Als sich Agnieszka danach bückt, rutscht ihr ihr eigenes Buch vom Schoß: es handelt von Papst Johannes Paul II. in Afrika und trägt den Titel "Gott segne Dich, Afrika!", auf Polnisch. Als die beiden aus dem Bus steigen, sind sie am Busbahnhof einer deutschen Stadt angekommen. Beide werden abgeholt und zu ihrem Arbeitsplatz gebracht. Beide wurden von internationalen Organisationen entsandt: Agnieszka von einem fundamentalistischen katholischen Anbieter, der die Pflege zur Missionierung missbraucht, Dieudonné über ein selbstorganisiertes Netzwerk von Migrant_innen: der Amitié.

Dieses Netzwerk ist der eigentliche Protagonist in "Die Amitié" von Ute Holl und Peter Ott (im Pressematerial firmieren sie und ihre Mitstreiter_innen als Kollektiv Amitié): über eine App pflegen Dieudonné (Yann Mbiene) und sein Mentor Osman (Aziz Çapkurt) Informationen über Migrationswege und alltägliche Situationen ein. Die beiden schuften in einer Biogärtnerei, die für einen niederländischen Konzern Tomaten anbaut. Als die Vorarbeiterin Sylvie (Anna Stieblich) Dieudonné mitteilt, dass sein Lohn niedriger ist, als vor der Anreise vereinbart, findet auch das Eingang ins Netzwerk. Die Amitié ist ein Werkzeug der Ermächtigung, gespeist aus Daten der Migration. "Was einer oder eine kann, das werden alle können. Das ist die Macht der Amitié". Per Handyalarm fordert das Netzwerk seine Teilnehmer bisweilen auf, in dessen virtuelle Repräsentation einzutauchen. Dann wandert das Handy in einen Pappkarton und wird zur VR-Brille, durch die die "Freund_innen" der Amitié (Freundschaft) animierte Welten erkunden, wie zu Beginn des Films.

Agnieszka (Sylwia Gola) berichtet ebenfalls über ihre Arbeit: die Pflege des Vaters des frisch zum Professor gewordenen Mitvierzigers Carsten (Christoph Bach). Siegfried (Walter Hess) driftet allmählich in ein stetes Vergessen ab. Doch in Agnieszkas Fall ist die Empfängerin eine autoritäre Ordensschwester in einer Videokonferenz, die ihr bei Verstößen gegen das Gebot zu übergriffiger Missionierung Selbstkasteiung auferlegt.



Der Film beginnt mit einem strengen Erzählkorsett, das einen steten Wechsel zwischen dem Leben Dieudonnés und Agniszkas zeigt. Dieses Pingpongspiel unterbrechen die Filmemacher_innen durch Elemente wie eine Wildtierkamera, die im Garten von Agnieszkas Patienten aufgehängt wurde oder die Videokonferenzen mit ihrer Ordensoberen. Frontale Nahaufnahmen der Gesichter Agnieszkas und Siegfrieds sind Einstiege in wortlose Dialoge zwischen den beiden, öffnen ein beinahe utopisches Einvernehmen zwischen Pflegender und Hilfebedürftigem. Es dauert eine Weile, aber letztlich emanzipiert sich auch Agnieszka mit Hilfe der Amitié aus den Fängen ihres Ordens.

Auch im deutschen Kino ist der Science-Fiction-Film zurück, mal in gelungener ("Wir könnten genauso gut tot sein"), mal in gescheiterter ("Black Box") Form. Die Zukunftsvisionen sind im deutschen Film meist Dystopien. Ute Holl und Peter Ott haben mit "Die Amitié" Beeindruckendes vollbracht, namentlich: mit geringem Budget einen von Theorie und Wirklichkeit gleichermaßen informierten, utopisch anmutenden Science-Fiction-Film gedreht. Mit dem Netzwerk der Amitié findet der Film eine strukturelle Form für eine Reihe von strukturellen Problemen und umgeht die narrative Falle, die Personalisierungen oft mit sich bringen.

Wobei das Verhältnis von Personalisierung und Struktur etwas komplizierter ist. Die Filmemacher haben dem Film einen manifestartigen Text beigegeben, der in vier Punkten Elemente des Ansatzes offenlegt. Unter Punkt zwei listen die beiden fünf Krisen auf, die bestimmte Figuren des Films prägen: 1) "Alter, Verantwortung, Vergessen (Siegfried)", 2. "Pflege, Glaube, Verstehen (Agnieszka)", 3. "Migration, Netzwerke, Wissen (Dieudonné, Osman)", 4. "Pendeln, Institutionen, Lehrversuche (Carsten)", 5. "Tomaten, Dosen, Blut oder rote Farbe (Sylvie)".

Auch wenn "Die Amitié" durchdrungen ist von klugen Gedanken, ist er zugleich durchwoben von mehr oder weniger dezentem Humor. Selbst als dieser gegen Ende mit dem Film durchzugehen droht und der Film sich durch einen skurrilen Polizisten deutscher Lokalkrimikomik gefährlich annähert, bleiben die Filmemacher sich ihrer Mittel bewusst und bringen den Film zwar nicht zielstrebig, aber doch auf die Zielgrade.

Trotz einiger weniger Schwächen ist "Die Amitié" der Glücksfall eines Films, der ein komplexes Geflecht von Krisen und Problemen nicht durch Simplifizierung narrativ handhabbar macht, sondern im Netzwerk ein Bild für Komplexität findet. Dass die animierten Welten, die Moses Holl für dieses Netzwerk geschaffen hat, unperfekt und überarbeitungsbedürftig wirken, macht sichtbar, dass die Wirklichkeiten, die der Film zeigt, nicht abgeschlossen sind.

Fabian Tietke

Die Amitié - Deutschland 2023 - Regie: Ute Holl, Peter Ott/Kollektiv Amitié - Darsteller: Sylwia Gola, Yann Mbiene, Walter Hess, Aziz Çapkurt, Christoph Bach - Laufzeit: 102 Minuten.