Der Antiheld des ZDF-Kriminalfilms „Am Ruder“ muss viel aushalten: den beruflichen Misserfolg, die Dem�tigungen seiner Frau, die Gefangenschaft als Geisel. Der Film von Stephan Wagner erf�llt bewusst die Genre-Vereinbarung nicht. Zwar werden viele Zutaten eines „Heist“-Movies und eines Geiselnahmethrillers ins Spiel gebracht, aber anders, als man es kennt. Die Signatur des Andersartigen bekommt die Geschichte vor allem durch die dezente �berzeichnung der Charaktere und die moderate �berspitzung der Situationen. Thriller-Spannung besitzt der Film weniger, daf�r einige tragikomische Momente, vielf�ltige psychologische Subtexte und mit M�hring & Koschitz ein charismatisches Loser-Duo.
Foto: ZDF / Volker RoloffZwei Verlierer im Nahkampf. Die Nerven liegen blank. M�hring und Koschitz
Michael Schr�der (Wotan Wilke M�hring) ist zur falschen Zeit am falschen Ort. Weil dem Besitzer eines Fitnessstudios finanziell das Wasser bis zum Hals steht, hat seine Frau Elisabeth (Inga Birkenfeld) ihm einen Kredit besorgt. F�r sie als erfolgreiche Anw�ltin von blaubl�tiger Abstammung kein Problem. Als Dank muss er sich in Toleranz �ben, denn der „Freund des Hauses“ (Godehard Giese) ist weit mehr als das: er �bernimmt Michaels eheliche Pflichten gleich mit. Gerade erst gedem�tigt im eigenen Haus, jetzt – mit dem Kredit in der Tasche – auch noch die einzige Geisel eines Bankraubs! Der maskierte Geiselnehmer wirkt planlos, unberechenbar, nervlich labil und entpuppt sich als Frau: ihr Name ist Nina (Julia Koschitz), Alter 35, und sie ist alles andere als ein Profi. Eine Million Euro L�segeld fordert sie. Der Einsatzleiter (Dirk Borchardt) und die Staatsanw�ltin (Thelma Buabeng) spielen auf Zeit, halten die immer nerv�ser werdende Frau hin. Doch mit dem zerm�rbenden Warten auf das Geld und den Fluchtwagen kommen sich Geisel und Geiselnehmer n�her, wie es der Psychologe (Simon Licht) im Krisenstab vor der Bank vorausgesagt hat. Und dann f�llt Michael seine Ehefrau ein, „dieses Mistst�ck“, und ihr immer „fl�ssiger“ Herr Papa…
Foto: ZDF / Volker RoloffSubtexte und andere Auff�lligkeiten. Die sch�ne Bankr�uberin kommt als Freddy-Krueger-Verschnitt. Und "Das M�dchen mit dem Perlohrgeh�nge" bietet den beiden Verlorenen seelische Projektionsfl�chen an. Julia Koschitz & Wotan Wilke M�hring
Ein Mann am Rande des Unertr�glichen. Der Antiheld des etwas anderen Krimis „Am Ruder“ kann viel aushalten. Auch sein Gegen�ber, die in ihrer Plan- und Hilflosigkeit ein wenig lebensm�de wirkende Geiselnehmerin, scheint nicht auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Tiefe Verzweiflung ist bei beiden Charakteren sp�rbar. Der Film, entstanden nach der Kurzgeschichte „Das Innere“ von Jakob Arjouni, ist ein „Heist-Movie“, das allerdings nicht aus der Bankr�uber-Perspektive, sondern der Sicht der Geisel erz�hlt wird. „Als Regisseur interessiert es mich, den Zuschauer auf eine Reise mitzunehmen, die unerwartete Richtungen einschl�gt und unvorhergesehene Routen nimmt“, betont der Regisseur und Ko-Autor Stephan Wagner. „Und wenn der Zuschauer – von Unterhaltung ges�ttigt und �berraschungen ersch�pft – das Ende der Geschichte erreicht, dass er unseren gemeinsamen Ausflug so schnell nicht vergisst, habe ich mein Ziel erreicht.“ Sein Kommunikationsziel hat der dreifache Grimme-Preistr�ger (u.a. f�r „Mord in Eberswalde“) eindeutig erreicht. Mit dem Begriff „ersch�pft“ wird sicherlich auch der eine oder andere Zuschauer etwas anfangen k�nnen.�
Foto: ZDF / Volker RoloffEinsatzleitung zwischen Klischee, Brechung, Schr�glage. Borchardt, Buabeng, Piwek
Soundtrack: Eric Prydz ("Call On Me")
„Am Ruder“ erf�llt bewusst die Genre-Vereinbarung nicht. Zwar werden viele Zutaten eines „Heist“-Movies und eines Geiselnahmethrillers ins Spiel gebracht, aber nicht in der Form, wie man es kennt. Die Signatur des Andersartigen bekommt die Geschichte vor allem durch die dezente �berzeichnung der Charaktere und die moderate �berspitzung der Situationen. Die Nebenfiguren, die Repr�sentanten des Staates, der eitle Polizeipsychologe, der sichtlich stolz darauf ist, dass sich das von ihm prognostizierte Stockholm-Syndrom bewahrheitet, die farbige Staatsanw�ltin, die keine Pizza mag und in deren Magen es entsprechend (albern) rumort, besitzen mehr als ein bisschen Schr�glage, kippen allerdings nie ins vornehmlich Komische, geschweige denn in feine Genre-Ironie. Und in der Bank nimmt die Interaktion der Kontrahenten, zwischen denen bald eine verzweifelte Erotik des Versagens sp�rbar wird, tragikomische Z�ge an. Klassische Thriller-Spannung darf man dagegen eher weniger erwarten: Diese ist dramaturgisch streng genommen zwar vorhanden, filmisch merkt man von ihr allerdings nicht viel. F�r den Zuschauer d�rften ohnehin die Hintergr�nde des Bankraubs und die Entwicklung der Schicksalsgemeinschaft bald interessanter sein als die genre�bliche Fixierung auf den Ausgang. Daf�r sorgt nicht zuletzt auch die Besetzung mit den Sympathietr�gern Wotan Wilke M�hring und Julia Koschitz. Als Projektionsfl�che f�r die Probleme der beiden Hauptfiguren fungiert das Ausstellungsplakat, das im B�ro des Bankdirektors h�ngt. Es zeigt „Das M�dchen mit dem Perlohrgeh�nge“ von Jan Vermeer. „Die geht, die macht Schluss“, interpretiert M�hrings Figur den Blick der jungen Frau, in dem er einen stillen Vorwurf („totale Null“) erkennt, den er bei seiner Frau wohl oft genug gesehen hat. Die Bankr�uberin indes hat ganz andere Assoziationen: „Da ist jemand gestorben.“
Foto: ZDF / Volker RoloffDie Geisel (Wotan Wilke M�hring) macht sich i.w.S.d.W. nass vor Aufregung.
Die erz�hlerische Qualit�t von „Am Ruder“ liegt jenseits eines Genrefilms. Sie liegt in den seelischen Subtexten – und sie liegt ein St�ck weit auch in den kleinen Spielereien und �sthetischen Referenzen am Rande. Ob man sie genie�t, ob man sie als narzisstischen Reiz f�r den Kenner wahrnimmt, ob man sie mehr oder weniger als zwingend erachtet oder ob man sie schlichtweg als bem�ht empfindet, ist eine Frage des Geschmacks. „Rosebud“ als Code-Wort, kombiniert mit umst�ndlichen Orson-Welles- und „Citizen Kane“-Erkl�rungen, ist jedenfalls ein eher Sinn-loses Zitat. Weitaus intelligenter sind die ikonografischen Anspielungen, weil sie die Wahrnehmung und die Emotion des Zuschauers beeinflussen: Julia Koschitz, deren Physiognomie der Inbegriff an Klarheit ist, unter der Maske eines verschrumpelten alten Mannes, das ist schon ein aberwitziger Gegensatz. �berhaupt, die gut aussehende Schauspielerin, 30 Minuten lang unter einer h�sslichen Maske zu verstecken, das erinnert ein wenig an „Hotel New Hampshire“, die John-Irving-Verfilmung, f�r die die bildh�bsche Nastassja Kinski im B�renkost�m schwitzen musste. Und dann, nachdem die Geiselnehmerin die Maske abgenommen hat, sehen wir da ein Pers�nchen, das in seiner tragischen Gestalt eine gro�e �hnlichkeit zu Charlie „The Tramp“ Chaplin aufweist. Und wie beim Pionier der tragikomischen Unterhaltung geh�ren die Phantasien, mit denen sich die verzweifelten Hauptfiguren aus der grauen Wirklichkeit wegtr�umen, zu den nachhaltigsten Momenten dieses „Heist-Movies“ – dessen 40sek�ndiges Intro mit der Vorbereitung des Coups in Detailbildern furios ist und dessen Ende mit seiner „Taxi Driver“-Reminiszenz nicht nur die Genrepuristen �berraschen d�rfte. (Text-Stand: 14.5.2017)
Foto: ZDF / Volker RoloffDer gedem�tigte Ehemann und Ruderfan tr�umt von einer Karriere als Buchautor. Sein Spezialgebiet: die perfekte, ganzheitliche Bewegung. Im Film f�llt er vor allem mit falschen Bewegungen auf. Das ist bei der Bankr�uberin (Julia Koschitz) ganz �hnlich. Sie tr�umt sich ins wilde Leben der Bonnie Parker. Wird Michael Schr�der ihr Clyde?
Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Pr�fer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr
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