Ein technisch perfektes Attentat – anders lässt sich nicht beschreiben, was am Donnerstag, dem 30. November 1989, genau um 8.34 Uhr morgens auf dem Seedammweg in Bad Homburg geschah. Als der gepanzerte (offiziell: „sondergeschützte“) Mercedes vom Typ S-Klasse an einem am Straßenrand abgestellten Fahrrad vorbeifuhr, durchbrach der Wagen eine nur Sekunden zuvor scharf geschaltete Lichtschranke.
Deren Impuls löste eine gewaltige Detonation aus: Etwa sieben Kilogramm Sprengstoff TNT hinter einer Kupferplatte explodierten und zerfetzten die rechte Fondtür des Wagens. Es war wohl ein Teil einer Fensterkurbel, der den dahinter sitzenden Passagier traf und seine Oberschenkelschlagader aufriss. Binnen kurzer Zeit verblutete Alfred Herrhausen, der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, im Wrack seines Wagens.
„Das hätte auch einen Panzer umgeworfen“, urteilte ein hoher Verfassungsschützer kurz danach nur leicht übertrieben. Da es einen besseren Schutz als solche „sondergeschützten“ Limousinen mit zwei zusätzlichen Begleitfahrzeugen schlicht nicht gab, war klar, dass sogar die höchsten Repräsentanten des Staates einem ähnlichen Anschlag zum Opfer fallen könnten. Wolfgang Steinke, seinerzeit Abteilungsleiter im BKA, sah in dem Attentat eine Warnung; die Täter wollten beweisen: „Wir können, wenn wir wollen, uns ausnahmslos jeden herausgreifen und erledigen.“
Ob er damit richtig lag oder nicht, blieb offen, denn der Mord an Herrhausen (sein Fahrer Jakob Nix überlebte verletzt) wurde nie vor Gericht verhandelt. Auch Jahrzehnte später ist unklar, wer genau die Täter waren – allerdings nicht, aus welchem Umfeld sie stammten: Schon am Tatort stellten Spezialisten des BKA eine verschweißte Plastikfolie mit einem Blatt Papier sicher, auf dem eine Maschinenpistole in einem fünfzackigen Stern gedruckt war und auf dem „Kommando Wolfgang Beer“ stand. Kriminaltechnische Untersuchungen bestätigten, was die Ermittler vor Ort sofort ahnten: Das Blatt stammte tatsächlich von der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF).
Das bestätigte ein „Bekennerschreiben“, das fünf Tage später bei mehreren Presseagenturen eintraf. Darin hieß es, in der typisch unmenschlichen Sprache linker Extremisten: „Am 30. November 1989 haben wir mit dem ,Kommando Wolfgang Beer’ den Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, hingerichtet. Mit einer selbst gebauten Hohlladungsmine haben wir seinen gepanzerten Mercedes gesprengt.“
An der Täterschaft der „dritten Generation“ der Terroristen, die von 1984 bis 1993 tödlich aktiv waren, gibt es zahlreichen Verschwörungstheorien zum Trotz keinen vernünftigen Zweifel. Die mit Sicherheit an mehreren Morden der „dritten Generation“ beteiligte RAF-Terroristin Birgit Hogefeld urteilte im verquasten Jargon der Gruppe klar über all diese Spekulationen: „In den linksradikalen Zusammenhängen, die ich kenne, hatte dieser Unsinn nie eine Bedeutung.“ Aber offen bekannte sie sich in einem Gespräch mit dem Magazin „Der Spiegel“ aus dem Gefängnis heraus nicht, weil sie „als Ergebnis dieses Gesprächs keine Herrhausen-Anklage“ wolle.
Der RAF ging es, wie allen Terroristen, nie tatsächlich um Politik, gar um konkrete Fortschritte. Ihr Ziel war und ist lediglich, Gesellschaften möglichst stark zu erschüttern. Die RAF setzte dafür auf Attentate gegen Menschen, in denen sie vermeintliche „Volksfeinde“ sah. Das konnten ebenso deutsche Polizisten wie niederländische oder Schweizer Zollbeamte sein, Vertreter der Justiz, Diplomaten oder führende Vertreter der Wirtschaft. Schon die „zweite Generation“ hatte 1977 mit Jürgen Ponto einen renommierten Banker ermordet – der damalige Chef der Dresdner Bank galt zu Recht als zentrale Figur der bundesdeutschen Wirtschaft. Zwölf Jahre später tötete die nächste Terroristen-„Generation“ abermals einen Vordenker der Finanzbranche.
Geboren 1930, stammte Alfred Herrhausen aus bürgerlichem Elternhaus. Leistung, vor allem persönliche Leistung, war für ihn zentral. Das führte ihn als Oberschüler während des Zweiten Weltkrieges fast zwangsläufig auf eine der mehr als 40 NS-Eliteschulen, konkret nach Feldafing am Starnberger See. Ein Nazi war Herrhausen trotzdem nie, im Gegenteil: Er hatte als Jugendlicher seine Lektion gelernt.
Nach dem Abitur studierte Herrhausen in Köln Wirtschaft und bestand 1955, mit 25 Jahren, das Doktorexamen. Zu seinem Verständnis von Leistung gehörte, dass er schon vorher parallel zum Studium gearbeitet hatte, und zwar als Direktionsassistent der damaligen Ruhrgas AG, deren wesentliches Geschäft der Vertrieb von Stadtgas war, also aus einem Nebenprodukt des Kohleabbaus und deren Verkoksung; Erdgas aus vorwiegend deutschen Gasfeldern machte seinerzeit nur einen kleinen Anteil aus.
Nach seinem Studienabschluss wechselte er zu den Vereinigten Elektrizitätswerken Westfalen, einem großen kommunalen Energieerzeuger. Hier machte Herrhausen Karriere und zog 1966, mit 36 Jahren, in den Vorstand ein. Doch nur drei Jahre später nahm Herrhausen das Angebot an, in gleicher Funktion zur größten Bank der Bundesrepublik zu wechseln, der Deutschen Bank. Hier verantwortete er zunächst Teile des internationalen Geschäfts und stieg 1985 zu einem der beiden Sprecher des Vorstandes auf – die Deutsche Bank setzte immer wieder auf Doppelspitzen.
Allerdings durchaus mit Flexibilität. Daher stieg Herrhausen nach dem altersbedingten Wechsel seines Sprecherkollegen Friedrich Wilhelm Christians an die Spitze des Aufsichtsrates im Mai 1988 zum alleinigen Vorstandssprecher auf. Seither war er der bekannteste Banker Deutschlands, der als Ausnahmegestalt wahrgenommen wurde.
Und zugleich immer wieder überraschte. So 1987/88 mit dem Vorstoß, Entwicklungsländern einen Teil ihrer aufgehäuften Schulden zu erlassen. Der (gefühlte) Tabubruch setzte sich einige Jahre später als Mittel der internationalen Armutsbekämpfung durch. Frühzeitig erkannte Herrhausen auch, dass neue Methoden des Investmentbankings an Bedeutung gewannen. Er kaufte daher nur drei Tage vor seinem gewaltsamen Tod für die Deutsche Bank das Londoner Investmenthaus Morgan Greenfell. Ob schon in dieser Entscheidung die Fehlentwicklungen angelegt waren, die unter Herrhausens drittem Nachfolger Josef Ackermann die Bank an den Rand zur Kriminalität (und manchmal, jedenfalls zu oft darüber) führten, ist rein spekulativ.
Jedenfalls schwächte der Mord an Herrhausen Deutschland. Ein eigenständiger Kopf wie er hätte im Jahr des Weges hin zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten zweifellos viele wichtige Impulse geben können. Ähnliches gilt übrigens für das letzte Todesopfer des RAF-Wahnsinns, den Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder, der 1991 erschossen wurde.
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