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Er wollte Deutschland eindämmen und starb für die EU

Alexandr Kojeve (1902-1968) French philosopher of Russian origin. Portrait illustration of Dariush Radpour, colored pencil drawing Digital 2010 <br> <b>This can not be used with lower rate to € 80.00</b> Alexandr Kojeve (1902-1968) French philosopher of Russian origin. Portrait illustration of Dariush Radpour, colored pencil drawing Digital 2010 <br> <b>This can not be used with lower rate to € 80.00</b>
Diese Augen durchschauten Hegel, und wer Hegel versteht, versteht Deutschland: Alexandre Kojève (1902-1968)
Quelle: akg-images / Fototeca Gilardi/Da
Vor 50 Jahren starb der Philosoph Alexandre Kojéve. Er war in Frankreich so wichtig, dass er sagen konnte: „De Gaulle entscheidet über die Atombombe und Russland. Ich entscheide über alles andere.“

Am Vormittag des 4. Juni 1968 tagte in Brüssel eine Expertenkommission der Europäischen Gemeinschaft um über Regelungen für den Gemeinsamen Markt zu beraten. Unmittelbar nachdem er gegen einen Vorschlag der holländischen Seite sein Veto eingelegt hatte, wurde der französische Delegierte ohnmächtig und erlitt einen Herzinfarkt. Die Ärzte konnten nur noch seinen Tod feststellen. Am Nachmittag wurde die Sitzung der Kommission fortgesetzt. Der Vorsitzende bat die Teilnehmer um eine Schweigeminute für ihren gerade verstorbenen Kollegen – Alexandre Kojève.

Er begann als Schwarzhändler in Russland

Mit ihm starb nicht nur ein „Conseiller“, der hinter den Kulissen großen Einfluss auf die französische Europa-Politik ausgeübt hatte, mit Kojève starb auch ein Philosoph, dessen Pariser Hegel-Seminar in den Dreißigerjahren die Elite der französischen Intellektuellen fasziniert und auf sie einen bleibenden Einfluss ausgeübt hatte. Am 7. und 8. Juni wird eine Konferenz in Brüssel an den „Conseiller“ und an den Philosophen erinnern.

Als Alexander Wladimirowitsch Kojewnikow wurde Kojève am 11. Mai 1902 in Moskau geboren. Sein Vater war ein reicher Fabrikant, Wassily Kandinsky war sein Onkel. 1905 starb Kojèves Vater im Russisch-Japanischen Krieg, die Mutter verheiratete sich wieder. Im Alter von fünfzehn Jahren begann Kojève mit den Eintragungen in sein „Philosophisches Tagebuch“. Als die Familie in der Revolution ihr Vermögen verlor, versuchte Kojève durch Handel auf dem Schwarzen Markt zum Lebensunterhalt beizutragen, wurde verhaftet und kam fast ein Jahr lang ins Gefängnis.

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Da Alexandre Kojève auf Grund seiner großbürgerlichen Herkunft ein Studium in Moskau verwehrt wurde, floh er 1920 mit seinem deutschstämmigen Freund George Witt über Warschau nach Berlin. Auf Bitten Kojèves kehrte Witt bald darauf heimlich nach Moskau zurück, um eine Tasche mit Juwelen sicherzustellen, die Kojève von seinem Stiefvater geerbt hatte.

Nach Berlin zurückgekehrt, teilte Witt mit Kojève die Schmuckstücke, deren Erlös es den Freunden ermöglichte, das Berliner Bohème-Leben in vollen Zügen zu genießen. Sie lernten Robert Wiene kennen, den Regisseur des Films „Das Kabinett des Dr. Caligari“.

Witt heiratete später Lil Dagover, die weibliche Hauptdarstellerin. Kojève teilte nun seine Zeit zwischen Berlin und Heidelberg, wo er bei Karl Jaspers studierte und 1926 mit einer Arbeit über „Die religiöse Philosophie Wladimir Solowjows“ promovierte.

„Der Typ ist besser als mein Bruder“

Die entscheidende Wende aber hatte Kojèves Leben bereits zwei Jahre vorher genommen, als er in Berlin ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau begann. Sie war die Schwägerin des russischen Philosophen Alexandre Koyré, der in Paris lehrte, sich zu diesem Zeitpunkt aber in Berlin aufhielt.

Koyré erhielt von seiner Familie den Auftrag, den Liebhaber zur Rede zu stellen – und kehrte mit einem überraschenden Verdikt zurück: „Der Typ ist viel besser als mein Bruder. Ich kann meine Schwägerin verstehen!“ Es war der Beginn einer „wunderbaren Freundschaft“.

Blick in den Konferenzsaal kurz vor der Unterzeichnung der Europa-Verträge. Von links: Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Walter Hallstein, Ministerpräsident Antonio Segni, Außenminister Gaetano Martino (beide Italien) und Luxemburgs Ministerpräsident Joseph Bech. Im Konservatoren-Palast auf dem Kapitol in Rom, setzten die Ministerpräsidenten und Außenminister von sechs europäischen Ländern ihre Unterschriften unter die Vertragswerke über den europäischen Markt und die Atomgemeinschaft. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland, Italiens, Frankreichs, Belgiens, Hollands und Luxemburgs haben sich damit verpflichtet, in den nächsten Jahren einen gemeinsamen Markt für 160 Millionen Menschen zu schaffen und bei der Entwicklung der Atomenergie eng zusammenzuarbeiten. Aufgenommen am 25. März 1957. | Verwendung weltweit
1957 wurden in Rom u. a. von Bundeskanzler Adenauer die Verträge unterzeichnet, die zur Gründung der EWG führten. Kojève war einer der geistigen Architekten der Union
Quelle: picture-alliance / dpa

Ende 1926 verließ Kojève Berlin und ging nach Paris, „um ein neues Vaterland zu finden“. Er machte den Fehler, den verbliebenen Schmuck in Aktien der Firma umzuwandeln, die den Käse „La Vache qui rit“ herstellte. Als im Börsenkrach 1930 die Firma Konkurs machte, war auch Kojève pleite.

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Auf der Suche nach einem Lebensunterhalt half ihm der zehn Jahre ältere Koyré, der an der École Pratique des Hautes Études Seminare über Nikolaus von Kues und Hegels Religionsphilosophie abhielt. Als Koyré nach Kairo eingeladen wurde, um dort Vorlesungen zu halten, schlug er dem Ministerium vor, Kojève, der unterdessen die französische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, als seinen Vertreter einzustellen.

Ganz Paris saß in seinem Hegel-Seminar

Sechs Jahre lang, von 1933 bis 1939, veranstaltete Kojève an der École Pratique ein Seminar, in dem er Hegels „Phänomenologie des Geistes“ interpretierte. Hegel war in Frankreich noch weitgehend unbekannt, seine Werke waren nur auf Deutsch zugänglich. Und doch strömte in jeder Woche die Pariser Intelligenz in das Seminar Kojèves, von Raymond Queneau bis André Breton, von Georges Bataille bis Jacques Lacan, von Roger Caillois bis Maurice Merleau-Ponty und Raymond Aron. „Tout Paris“ – außer Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir.

Kojève sah eine dramatische Koinzidenz darin, dass sein Seminar zur „Phänomenologie des Geistes“, in dem er Hegels Vorstellung vom Ende der Geschichte aktualisiert hatte, in dem Augenblick endete, als der Zweite Weltkrieg begann. Kojève erhielt seinen Stellungsbefehl, wurde aber in der „drôle de guerre“ demobilisiert, bevor er die Front erreichen konnte. Er schwankte einen Augenblick zwischen Kollaboration und Widerstand, bevor er sich der Résistance in Marseille anschloss.

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Als der Krieg beendet war, meldete sich ein früherer Seminarteilnehmer bei Kojève. Es war Robert Marjolin, der jetzt eine wichtige Position im französischen Wirtschaftsministerium bekleidete. Marjolin berief Kojève zunächst als Übersetzer, dann als „Chargé de mission“ in seinen Stab. Dort war Kojève unter anderem an den Vorbereitungen für die Umsetzung des Marshall-Plans beteiligt. Er genoss es, zu einer internationalen Elite von Experten zu gehören, die Einfluss auf die Weltpolitik nahmen und an die Stelle der früheren Aristokratie getreten waren.

Kojève und zwei ehemalige Bankiers bildeten ein „Die drei Barone“ genanntes Trio, das wegen seiner Eloquenz und ausgeklügelten Verhandlungstaktik in den Kreisen der internationalen Diplomatie bewundert und gefürchtet wurde. Eines Tages befand sich das Trio zu Verhandlungen in Washington und wurde beim Mittagessen vom französischen Botschafter Hervé Alphand einem amerikanischen Politiker vorgestellt, der ein wenig Französisch konnte und dem die französische Literatur nicht ganz fremd war: Henry Kissinger.

Der Botschafter stellte die beiden Bankiers als „Bouvard und Pécuchet“ vor. Kissinger zeigte auf Kojève und fragte: „Und was ist mit ihm?“ Der Botschafter erwiderte: „Das ist Flaubert.“ „Flaubert“ litt nicht an Selbstunterschätzung: „De Gaulle trifft die Entscheidungen, die Russland und die force de frappe betreffen, ich, Kojève, entscheide über alles andere.“

Sein „Lateinisches Reich“ sollte Deutschland in Schach halten

Ein Dokument der Selbstschätzung ist das lange Aide-Mémoire zur künftigen französischen Außenpolitik, das Kojève auf den 27. August 1945 datierte: „Esquisse d’une Doctrine de la Politique Française“. Es war der Vorschlag, Frankreich solle, zusammen mit Italien und Spanien, ein „Lateinisches Reich“ errichten, um ein zweifellos wieder erstarkendes Deutschland in Schach zu halten. 2007 versuchte Nicolas Sarkozy mit seinem Plan zur Gründung einer Mittelmeerunion Kojèves Idee zu verwirklichen – und scheiterte am Veto Angela Merkels.

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Weitsichtig zeigte sich Kojève in einem Vortrag, den er am 16. Januar 1957 auf Vermittlung von Carl Schmitt vor Düsseldorfer Industriellen zum Thema „Kolonialismus in europäischer Sicht“ hielt (WELT vom 17.Juli 2015). Der „nehmende“ musste durch einen „gebenden“ Kolonialismus abgelöst werden.

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Dies lag im Interesse der Industrieländer, die in den Kolonien Absatzmärkte für ihre Produkte und damit Kunden finden wollten. Arme Kunden aber, erinnerte Kojève die Unternehmer im Rhein-Ruhr-Klub, „sind schlechte Kunden, und wenn die Mehrheit der Kunden eines Geschäfts arme, d. h. schlechte Kunden sind, so ist auch das Geschäft selbst ein schlechtes Geschäft.“ Die Afrika-Politik der Europäischen Union ist auch gescheitert, weil die verantwortlichen Politiker die Mahnungen Kojèves nicht befolgten.

1967 machte Kojève auf dem Weg von Peking nach Plettenberg im Sauerland, wo er Carl Schmitt besuchen wollte, auf Einladung von Jacob Taubes in Westberlin einen Zwischenstopp. Den rebellischen Studenten gab er einen Rat: „Lernt lieber Griechisch!“

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