Zum 210. Jahrestag: Putin lässt "Eroberung von Paris" feiern | BR24
Soldaten in Uniformen von 1814 zücken die Musketen
Bildrechte: Sergej Karpukhin/Picture Alliance

Auf nach Paris: Russen spielen historische Schlacht nach

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Zum 210. Jahrestag: Putin lässt "Eroberung von Paris" feiern

Die Geschichtspolitik des Kremls wird zusehends aggressiver: Eine Ausstellung erinnert nun daran, dass Zar Alexander I. am 31. März 1814 Paris erobert hat. Deutschland wird wegen der Belagerung von Leningrad "Völkermord" vorgeworfen.

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Es sei "unbedingt erforderlich", Frankreich eine "Geschichtslektion" zu verpassen: So wettert der russische Propagandist und "Putin-Versteher" Sergej Markow und rühmt die Eröffnung einer Ausstellung über die Eroberung von Paris durch russische Truppen am 31. März 1814. Damals zogen die Monarchen von Russland und Preußen Seite an Seite in der französischen Hauptstadt ein, der selbst gekrönte Kaiser Napoleon dankte ab und flüchtete auf die Insel Elba.

"Übrigens war es der russische Zar, der strikt darauf bestand, dass Frankreich nicht angetastet werden dürfe. Großbritannien und Deutschland, damals vertreten durch Preußen, forderten eine strenge Bestrafung Frankreichs", referiert Markow, der sich und seine Fans fragt: "Setzt Macron immer noch auf russische Gnadenerweise gegenüber Frankreich?"

"Freue dich, Moskau!"

An die historischen Vorfälle erinnert nach Angaben der Nachrichtenagentur RIA Nowosti jetzt eine Schau in einem Moskauer Museum, das ein Panorama der Schlacht von Borodino präsentiert, wo Napoleon im September 1812 zwar gewann, aber einen (zu) hohen Blutzoll bezahlte, der seine Truppen beim Marsch auf Moskau entscheidend schwächte. Der bemerkenswerte Titel der Ausstellung: "Freue dich, Moskau!", ein Zitat des russischen Dichters Alexander Puschkin.

Museumschef Wladimir Presnow verweist darauf, dass Zar Alexander I. damals die Chance gehabt habe, seine Vorstellungen "von der Neuordnung Frankreichs und Europas in die Tat umzusetzen". Die Macht der russischen Armee sei das "schlagkräftigste Argument" gewesen.

"In Frankreich die Luft der Freiheit geatmet"

Russische Ultrapatrioten forderten bereits, den 31. März zum Nationalfeiertag zu machen: "Es ist Zeit, die größte militärische Leistung Russlands wiederzubeleben: die Wiederherstellung der historischen Erinnerung." Grund für solche Äußerungen ist nicht zuletzt Emmanuel Macrons jüngste Bemerkung, Russland sei "keine Großmacht" mit einer Wirtschaftsleistung, die "viel niedriger" sei als die von Frankreich oder Deutschland.

Die patriotische Bloggerin Natalia Tanschina schrieb wutentbrannt: "Wahrscheinlich gerade deshalb, weil Russland keine Großmacht ist, ist das russische Thema seit fast tausend Jahren nicht mehr von der westlichen Tagesordnung verschwunden." Wenn Russland den Krieg in der Ukraine gewinne, werde der Westen "untergehen": "Ob nur ansatzweise oder grundstürzend, das hängt vom Westen ab."

Politologe Konstantin Kalaschew verwies dagegen ironisch darauf, dass 1814 zahlreiche russische Soldaten beim Aufenthalt in Paris desertierten und sich bei Bauern verdingten: "Nicht alle Militärangehörigen wollten aus dem fruchtbringenden Frankreich in das feudale Russland zurückkehren." Um die Auflösung der russischen Armee zu verhindern, hätten die Generäle schon nach zwei Monaten den Abzug befohlen. Wenige Jahre nach der Rückkehr aus Paris, im Dezember 1825, hätten russische Offiziere in St. Petersburg den "Dekabristen-Aufstand" gegen den Zar angezettelt: "Viele hatten in Frankreich erstmals die Luft der Freiheit geatmet."

"Folgen werden viel tragischer sein"

Putin selbst lässt kaum eine Gelegenheit ungenutzt, historische Parallelen zu ziehen und sagte am 29. Februar in seiner "Rede zur Lage der Nation: "Wir erinnern uns an das Schicksal derer, die einst ihre Truppen auf das Territorium unseres Landes geschickt haben. Jetzt werden die Folgen für mögliche Eindringlinge allerdings viel tragischer sein. Sie müssen letztlich verstehen, dass auch wir Waffen haben, die Ziele auf ihrem Territorium treffen können."

Streit um "humanitäre Geste" Deutschlands

Damit nicht genug polemische Geschichtspropaganda: Von Deutschland erwartet der Kreml laut regierungsamtlicher Nachrichtenagentur TASS ein offizielles Eingeständnis, dass die Blockade des damaligen Leningrad (September 1941 bis Januar 1944) ein "Völkermord" gewesen sei: "Nachdem die deutsche Seite ihre Verbrechen während der Kolonialzeit als Völkermord anerkannt hat, geschah dies im Hinblick auf die Blockade Leningrads und andere Verbrechen gegen die Völker der UdSSR während des Zweiten Weltkriegs immer noch nicht. Die russische Seite besteht auf der offiziellen Anerkennung dieser Gräueltaten des Dritten Reiches durch die deutsche Seite als Völkermord."

Der Umgang Deutschlands mit finanzieller Wiedergutmachung sei "völlig inakzeptabel und nicht überzeugend", heißt es in dem zitierten Dokument. Es fehle an einer "seit langem versprochenen, aber nie umgesetzten humanitären Geste gegenüber den Überlebenden" der Belagerung, bei der rund eine Million Menschen an Unterernährung gestorben sein sollen. Der Kreml wirft Deutschland eine "unmoralische Logik" vor.

Der russische Historiker Jewgeni Matonin räumte in der auflagenstarken "Komsomolskaja Pravda" allerdings ein, dass es nach der heute in den Vereinten Nationen gültigen Definition von Völkermord für Moskau "nicht einfach" sein werde, die Belagerung von Leningrad international als solchen anerkennen zu lassen, selbst wenn einschlägige Dokumente vorgelegt würden. Die Einwohner der Stadt seien ja keine "ethnische Gruppe" gewesen: "Hitlers Ziel war die Vernichtung der Zivilbevölkerung der Newa-Metropole."

Auswärtiges Amt: "Deutschland steht zu historischer Verantwortung"

Das Auswärtige Amt hatte im Januar zum 80. Jahrestag des Endes der Blockade darauf hingewiesen, mit der von Moskau erwähnten "Geste der Versöhnung" sei die finanzielle Beteiligung bei der Modernisierung eines St. Petersburger Krankenhauses gemeint, in dem "zahlreiche noch lebende Blockadeopfer" behandelt würden. Im Übrigen würden Begegnungen zwischen jungen Menschen und Zeitzeugen gefördert: "Deutschland steht zu seiner historischen Verantwortung und setzt diese Maßnahmen – trotz des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine – weiter fort."

Der von Putins Gefolgsleuten aufs Neue losgetretene Streit wird von kremlkritischen russischen Bloggern mit viel Sarkasmus kommentiert: "Offensichtlich haben diejenigen an der Spitze zu viel von [Ex-Präsident Dmitri] Medwedews [ultrapatriotischen] Beiträgen konsumiert und zum Nachtisch [Radikalphilosoph Alexander] Dugins Häppchen zu sich genommen." Ernsthafter hieß es in einem der größten Polit-Blogs mit 175.000 Fans: "Spaß beiseite, solche offiziellen Erklärungen sind ein Vorbote der Vorbereitungen für die Eröffnung einer zweiten Front, allerdings gegen Nato-Staaten. Von den Wählern wurde der Auftrag angenommen, den Krieg fortzusetzen und den militärischen Konflikt sogar auszuweiten."

Streit um Gold aus Rumänien

Umgekehrt besinnt sich auch der Westen plötzlich auf fernere Ereignisse: Das Europäische Parlament verabschiedete am 13. März eine Resolution, in der Goldreserven des Königsreichs Rumänien zurückgefordert werden, die in den Jahren 1916/17, also mitten im Ersten Weltkrieg, "zur sicheren Aufbewahrung" nach Russland geschafft worden waren.

Damals war Rumänien Kriegsgegner von Deutschland und musste Ende 1917 in einen Waffenstillstand einwilligen. Aus Moskau hieß es, einen Großteil des fraglichen Goldes hätten in den Wirren des russischen Bürgerkriegs antibolschewistische tschechische Truppen beschlagnahmt und nach Prag gebracht, wo es der neu gegründeten Nationalbank zugeführt worden sei.

Der russische Politologe Georgi Bovt fragte angesichts des wieder aufgeflammten "Goldstreits": "Wie tief in die Geschichte sollten wir entsprechend der aktuellen politischen Situation vordringen? Es ist durchaus möglich, selektiv Ansprüche geltend zu machen, also einen Teil zu erheben, nämlich unsere, anderen aber zu ignorieren. Schließlich erscheinen solche Forderungen besonders 'legitim', seit der Westen 300 Milliarden US-Dollar an russischem Staatsvermögen eingefroren hat."

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