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Geschichte 1825

Alexander I. – Ein Zar verschwindet

Als man am 25. März 1826 in der kleinen Kathedrale der Petersburger Peter-Paul-Festung einen Sarg deponierte, war dies das symbolische Ende der Regierungszeit von Alexander I. Pawlowitsch, Zar aller Reußen. Gestorben war der Kaiser bereits vier Monate früher in einem russischen Provinznest. Viele Umstände seines Todes erscheinen so rätselhaft, dass sich bis heute die Legende hält, Alexander sei En

1825 befand sich Russland auf dem Höhepunkt seiner politischen Macht. Der Sieg über Napoleon war großenteils russischen Truppen zu verdanken. Zar Alexander I. führte die „Heilige Allianz“, ein Bündnis zwischen Preußen, Österreich und Russland. Er bestimmte die Richtlinien der kontinentalen Politik, wurde gleichsam als Schiedsrichter Europas geachtet.

Doch Alexander war ein tiefunglücklicher Mensch. Jahrelang hatte er versucht, sein rückständiges Reich voller Leibeigenen und Zwangsarbeitern zu modernisieren. All seine Pläne scheiterten am Widerstand von Russlands Aristokratie. Als Ausgleich flüchtete er sich in einen exaltierten christlichen Mystizismus. Mehrfach äußerte er den Wunsch, sein Leben als einfacher Mönch in einem Kloster zu beschließen. Bestärkt wurde er darin von seiner Gemahlin Elisabeth, einer deutschen Prinzessin aus Baden, die seine religiösen Ambitionen teilte.

Überraschender Erholungsurlaub in der Provinz

Im Herbst 1825 gab der 47-jährige Alexander einen Entschluss bekannt, der allgemeines Erstaunen hervorrief. Er werde sich mit seiner Frau zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit nach Südrussland, in die Stadt Taganrog begeben. Am Rande der Tatarensteppe gelegen, war Taganrog ein gottverlassenes Provinznest. Erbaut auf einer Anhöhe, wurde die Stadt von Winden aus dem nahegelegenen Asowschen Meer und aus der Steppe durchbraust. Berücksichtigt man noch die dortigen primitiven Hygiene-Verhältnisse, so war Taganrog gewiß kein geeigneter Ort, um seine Gesundheit zu fördern, sondern eher, um unerkannt zu verschwinden.

Das Zarenpaar erwarb ein eingeschossiges Haus an der Griechischen Straße. Es war so klein, dass die Dienerschaft im Keller wohnen musste. Am 25. September 1825 traf der Zar in Taganrog ein, seine Gemahlin folgte zehn Tage später. Anfang November machten beide einen Besuch auf der Halbinsel Krim. Ihren Gastgebern fiel auf, dass der gewöhnlich düstere und depressive Zar eine glückliche und zufriedene Stimmung zeigte. Zarin Elisabeth schrieb ihrer Mutter die ominösen Zeilen: „Der Zar hat alle Einzelheiten mit großer Genauigkeit geplant.“

Autopsie, 32 Stunden nach dem Tod

Nach offizieller Version war Alexander zu dieser Zeit bereits ein todkranker Mann. Sein Leibarzt Sir James Wylie berichtet aber nur von Schlafstörungen. „Ich kann mich selbst kurieren“, soll der Kaiser zu ihm gesagt haben. Erstaunlicherweise findet Alexanders Krankheit auch im Tagebuch der Zarin keine Erwähnung, bis auf den Eintrag, er sei „nicht fieberfrei“.

Am Morgen des 1. Dezember 1825 war Alexander I. tot. Sein Adjutant, der deutschstämmige General Johann Karl von Diebitsch, beschlagnahmte sogleich sämtliche kaiserlichen Papiere und sandte eine Auswahl per Eilkurier nach Petersburg.

Mit dem toten Zaren hatte man es weniger eilig. Erst 32 Stunden nach seinem Tod wurde eine Autopsie vorgenommen. Für diese Verzögerung gibt es keinen plausiblen Grund, es sei denn, die Zarin wollte Zeit gewinnen. Bei der Untersuchung des Leichnams stellten Ärzte fest, die Milz des Toten sei ohne Befund. Das ist verwunderlich, denn Alexanders Leibarzt Wylie diagnostizierte bei seinem Patienten eine stark vergrößerte und sehr weiche Milz.

Niemand durfte in den Sarg blicken

Obwohl der Leichnam danach einbalsamiert wurde, befahl die Zarin, sein Gesicht mit einem Leinentuch zu verdecken. Erst am 10. Januar 1826, fast sechs Wochen nach dem Ableben Alexanders, setzte sich der Trauerzug nach St. Petersburg in Bewegung. Als die Bevölkerung unterwegs verlangte, den Sarg zu öffnen, weil sie einen letzten Blick auf den Sieger über Napoleon werfen wollte, wurde das kategorisch abgelehnt und es kam deshalb mehrfach zu Tumulten. Die Zarin weigerte sich, den Leichenzug zu begleiten.

Die mysteriösen Geschehnisse von Taganrog führten bald zur Legendenbildung. Statt des Zaren sei ein unbekannter Sterbender in das Haus an der Griechischen Straße geschmuggelt worden, hieß es. Alexander hingegen wäre nach Sibirien entflohen, um dort als einfacher Mönch sein Leben zu fristen.

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Tatsächlich erschien Anfang 1840 in der sibirischen Stadt Tomsk ein „Starez“ (heiliger Mann), der sich Fjodor Kusmitsch nannte und äußerliche Ähnlichkeit mit Alexander aufwies. Niemand wusste, woher er kam oder wie alt er war. Fjodor offenbarte gelegentlich erstaunliche Detailkenntnisse über das Leben am Zarenhof und über die Feldzüge gegen Napoleon. Er lebte bis zum Februar 1864. War er der verschwundene Zar? Wenn ja, dann hätte Alexander I. ein Alter von 86 Jahren erreicht, was eher unwahrscheinlich ist. Man darf dem großen russischen Dichter Puschkin zustimmen, der Zar war „eine Sphinx, die ihr Geheimnis mit ins Grab genommen hat“.

Im Jahre 1866 wollte man den Gerüchten auf den Grund gehen. Der damalige Zar Alexander II. befahl, das Grab seines Onkels in St. Petersburg zu öffnen. Als man den Deckel des Sarkophags angehoben hatte, gab es eine Überraschung: Der Sarg Alexanders I. war leer.

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