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Eine Zehntelsekunde rettete den Nato-Chef

Leitender Redakteur Geschichte
Vor 40 Jahren versuchte die RAF, Vier-Sterne-General Alexander Haig zu töten. Doch die Sprengladung zündete zu spät

Manchmal hilft nur Galgenhumor: „Wer den Montagmorgen erst einmal hinter sich hat, für den wird der Rest der Woche einfacher.“ Mit diesen Worten kommentierte Alexander Haig, amerikanischer Vier-Sterne-General und Oberbefehlshaber der Nato, den Mordanschlag, den er am Montag, den 25. Juni 1979, um 8.32 Uhr unverletzt überlebte.

Es war die letzte Woche, die der 54-jährige Offizier mit Kampferfahrung im Korea- und im Vietnamkrieg im Dienste des Militärs verbrachte – er hatte sich entschlossen, in die Politik zu wechseln. Für den 29. Juni 1979 war sein offizieller Abschied von der Nato geplant, deren Streitkräfte er viereinhalb Jahre lang kommandiert hatte.

Doch noch war einiges zu erledigen. So war Haig am 25. Juni 1979 wie fast jeden Morgen seit seinem Amtsantritt 1974 mit dem Dienstwagen, einem Mercedes 600, und Personenschützern in zwei weiteren Wagen unterwegs von seiner Dienstvilla zum Nato-Hauptquartier im belgischen Mons. Als die drei Wagen die Rue de l’Empire im Ort Obourg entlangfuhren, wurde das Heck des Mercedes nahe einem dort gelegenen großen Zementwerk plötzlich von einer starken Explosion angehoben.

„Ich hörte eine Detonation, drehte mich um und sah einen Regen von Dreck und Steinen auf uns niederprasseln“, gab der General zu Protokoll. Terroristen hatten in einem Regenwasserkanal unter der Straßendecke eine selbst gebaute Bombe mit etwa zwölf Kilogramm hochexplosivem Sprengstoff versteckt.

Doch der General und seine Sicherheitsleute hatten Glück im Unglück: Die Detonation erfolgte Sekundenbruchteile, nachdem Haigs Wagen mit etwa 70 Stundenkilometern über die Ladung hinweggefahren und bevor der zweite Begleitwagen über derselben Stelle war. So wurde lediglich Haigs Mercedes hinten angehoben und beim Zurückfallen beschädigt. Das folgende Auto erlitt Totalschaden, aber die Insassen wurden nur leicht verletzt.

Nach der Explosion hielt Haigs Wagen. Er selbst, sein Fahrer und sein Adjutant leisteten den hinter ihnen fahrenden Sicherheitsleuten Erste Hilfe, die Besatzung des vorderen Autos sicherte derweil die Umgebung. Auch die leicht verletzte Besatzung des zerstörten Fahrzeuges konnte schon nach wenigen Stunden das Krankenhaus wieder verlassen.

Noch einen flotten Spruch hatte Haig auf Lager, als er in der Sicherheit des Hauptquartiers angelangt war: „Ich wusste, dass die Gegend für ihre Minen berühmt ist. Dass sie ferngesteuert sind, weiß ich erst seit heute.“ Das war ein Wortspiel mit der Doppeldeutigkeit des Wortes Mine, die es im Englischen genau wie im Deutschen gibt.

Wenige Tage nach der Explosion erreichte ein Bekennerschreiben verschiedene Redaktionen in der Bundesrepublik. Darin übernahm ein „Kommando Andreas Baader“ der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) die Verantwortung. Diese Namensgebung war insofern konsequent, als auch Baader im Mai 1972 als erste Anschlagsorte seiner „Mai-Offensive“ amerikanische Ziele ausgewählt hatte, konkret: das Hauptquartier der US-Army in Frankfurt am Main.

Ausführlich erklärten die Täter das Misslingen ihrer Mordaktion: „Wir hatten unter die Straßendecke einer Brücke auf dem Weg von Haigs Wohnsitz zum Nato-Hauptquartier einen 1,80 Meter langen Tunnel gegraben und die Ladung (20 Kilogramm Plastik) etwa 40 Zentimeter tief angebracht. Die Zündung wurde über ein 200 Meter langes Elektrokabel in dem Moment ausgelöst, als Haigs Mercedes mit der Vordertür auf der Höhe der Ladung war. Wir hatten vorher ausgerechnet, dass sich sein Wagen zwei Meter in der Zehntelsekunde bewegt. Unser Fehler war, dass wir dachten, die Explosion auch bei einer so hohen Geschwindigkeit noch exakt genug mit der Hand auslösen zu können.“

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Allerdings stimmte einiges nicht: Die Ladung bestand in Wirklichkeit nicht aus 20, sondern aus etwa zwölf Kilogramm Sprengstoff. Der Tunnel war nicht eigens gegraben worden, sondern die Terroristen hatten sich eines Entwässerungskanals bedient, den sie nur etwas erweitert hatten.

Den Finger am Zündknopf hatte Werner Lotze gehabt, ein damals 27-jähriger Linksradikaler. Seit 1976 hatte er zum RAF-Umfeld gehört, war aber erst im August 1978 in den inneren Kreis, die „Kommandoebene“, aufgestiegen – so genannt, weil sich aus ihr die „Kommandos“ rekrutierten, die einzelne Anschläge konkret ausübten.

Zum „Kommando Andreas Baader“ gehörten außer Lotze mindestens noch Rolf Clemens Wagner und Susanne Albrecht. Jedenfalls wurden diese drei Anfang der 90er-Jahre für den Anschlag verurteilt – Lotze und Albrecht, die beide 1980 aus der RAF ausgestiegen und in der DDR abgetaucht waren, hatten umfassend ausgesagt und Wagner belastet.

Der war bereits wenige Monate nach dem Anschlag auf Haig in Zürich bei einem Banküberfall festgenommen worden, bei dem eine Passantin erschossen worden war. Deshalb und wegen der nachgewiesenen Beteiligung an der Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer war Wagner zu „lebenslänglich“ verurteilt worden. Die Strafe konnte durch die zusätzlichen zwölf Jahre wegen seiner Rolle beim Attentat auf Alexander Haig nicht mehr erhöht werden.

Immerhin sorgte die weitere Verurteilung dafür, dass er nicht schon wie andere zu „lebenslänglich“ verurteilte RAF-Terroristen nach 18 oder 19 Jahren freikam, sondern 24 Jahre hinter Gittern saß. Ende 2003 wurde Wagner entlassen und lebte noch zehn Jahre. Von seinen Verbrechen distanzierte er sich nie, sondern verhöhnte noch in einem Interview die Opfer. Albrecht und Lotze hingegen, die sich glaubhaft vom Terror losgesagt hatten, mussten lediglich knapp die Hälfte der verhängten Haftstrafen von zwölf Jahren absitzen, bevor sie auf Bewährung freigelassen und resozialisiert wurden.

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