Vor 90 Jahren in Berlin: Der Tag, an dem Hitler die Demokratie abschaffen ließ

Vor 90 Jahren in Berlin: Der Tag, an dem Hitler die Demokratie abschaffen ließ

Am 23. März 1933 billigte der Reichstag das Ermächtigungsgesetz. Es wurde zur Grundlage der NS-Diktatur. Wie konnte es dazu kommen?

Adolf Hitler spricht am 23. März 1933 vor den Reichstagsabgeordneten zum Ermächtigungsgesetz. 
Adolf Hitler spricht am 23. März 1933 vor den Reichstagsabgeordneten zum Ermächtigungsgesetz. Bundesarchiv, Bild 102-14439/CC BY-SA 3.0

Hitler wirkt nervös, er schüttelt den Kopf, macht sich Notizen. Der Mann am Rednerpult könnte ihn Stimmen kosten, entscheidende Stimmen. Otto Wels, Vorsitzender der SPD, spricht zu den Abgeordneten des Reichstags über das Ermächtigungsgesetz, das zur Abstimmung steht.

Er warnt vor dem Gesetz, das einzig und allein bezwecke, die Demokratie zu beseitigen. „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.“

Wels hält an jenem 23. März 1933 die vorerst letzte freie Rede in einem deutschen Parlament. Von seinen Parteigenossen erhält er mehrfach Beifall, von den Nationalsozialisten Gelächter.

Das so harmlos lautende „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ umfasst nur fünf Punkte. Aber die ebnen den Weg in die Diktatur. Das Gesetz gibt der Reichsregierung unter Hitler das Recht, ohne Mitwirkung des Parlaments und des Reichspräsidenten Gesetze zu beschließen. Es setzt die Gewaltenteilung, Grundlage jedes Rechtsstaats, und die Grundrechte faktisch außer Kraft.

Hitler ist sich bewusst, dass er sich des ganzen Staatsapparates nur auf legalem Wege bemächtigen kann. Zwar ist seine Partei aus den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 mit knapp 44 Prozent als stärkste Kraft hervorgegangen, aber für die Annahme von verfassungsändernden Gesetzen ist eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit erforderlich. Die NSDAP ist daher auf Stimmen des bürgerlichen Lagers angewiesen, auf die Zentrumspartei, die Bayerische Volkspartei und die Deutschen Staatspartei.

Hitlers Rede in der Krolloper

Das Parlament tagt am 23. März 1933 in der Krolloper, weil das Reichstagsgebäude nach dem Brand Ende Februar nicht benutzbar ist. Die Nationalsozialisten setzen auf Einschüchterung: SS hat das Gebäude abgesperrt, SA hat sich im Plenarsaal postiert, und hinter dem Podium mit dem Rednerpult hängt eine gewaltige Hakenkreuzfahne.

Mögen Sie, meine Herren Abgeordneten, nunmehr selbst die Entscheidung treffen über Frieden oder Krieg.

Adolf Hitler in seiner Rede zum Ermächtigungsgesetz

Hitler tritt im Braunhemd ans Pult, er spricht über Gleichschaltung von Staat und Gesellschaft, Bekämpfung des Kommunismus, Schaffung von „Lebensraum“. Damit die Regierung die bevorstehenden Aufgaben erfüllen kann, habe sie das Ermächtigungsgesetz einbringen lassen.

„Es würde dem Sinn der nationalen Erhebung widersprechen und dem beabsichtigten Zweck nicht genügen, wollte die Regierung sich für ihre Maßnahmen von Fall zu Fall die Genehmigung des Reichstags erhandeln und erbitten.“ Am Ende droht er, die Regierung sei auch bereit, Ablehnung und Widerstand entgegenzutreten. Er schließt mit den Worten: „Mögen Sie, meine Herren Abgeordneten, nunmehr selbst die Entscheidung treffen über Frieden oder Krieg.“

Seine Anhänger brechen in Beifallsstürme aus und stimmen das „Deutschlandlied“ an.

Die Annahme des Gesetzes setzte zweierlei voraus: Zwei Drittel der anwesenden Reichstagsabgeordneten mussten ihm zustimmen, und zwei Drittel seiner gesetzlichen Mitglieder mussten anwesend sein – also 432 von 647. Da SPD und KPD 201 Abgeordnete stellten, mussten nur 15 weitere der Abstimmung fernbleiben, um das Gesetz zu verhindern. Die Reichsregierung beantragte daher eine Änderung der Geschäftsordnung.

Danach sollten auch diejenigen Abgeordneten, die ohne Entschuldigung einer Reichstagssitzung fernblieben, als anwesend gelten. Die „unentschuldigt“ Fehlenden waren auch in „Schutzhaft“ genommene, untergetauchte und geflüchtete Abgeordnete: 26 von der SPD, 81 von der KPD (die gesamte Fraktion) – die Mandate waren aufgrund der nach dem Reichstagsbrand erlassenen „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ am 8. März annulliert worden. Außer der SPD stimmten alle Parteien der Änderung der Geschäftsordnung zu.

Die NSDAP und sieben weitere Parteien nehmen das Gesetz an

Hitler sieht sich nach der Rede von Otto Wels genötigt, nochmals zu sprechen: Die Sozialdemokraten hätten nach der Novemberrevolution 1918 ihre Chance gehabt, „dem deutschen Volke das Gesetz des inneren Handelns vorzuschreiben. (…) Sie sind wehleidig, meine Herren, und nicht für die heutige Zeit bestimmt.“

Reichstagspräsident Hermann Göring verkündet um 19.52 Uhr das Abstimmungsergebnis, das stürmischen Beifall und Heil-Rufe auslöst und etliche Abgeordnete dazu bewegt, zum Podium zu stürmen und das Horst-Wessel-Lied zu singen. Die NSDAP und insgesamt sieben weitere Parteien haben das Ermächtigungsgesetz mit 444 Stimmen angenommen, die SPD hat mit ihren 94 Abgeordneten als einzige Fraktion geschlossen gegen das Gesetz votiert, das am 24. März 1933 in Kraft tritt und der Willkür Tür und Tor öffnet.

Viele Reichstagsabgeordnete hatten vor der Abstimmung Drohungen erhalten. Dass die ernst zu nehmen waren, bewiesen die Verhaftungen sozialdemokratischer und insbesondere kommunistischer Politiker. Der Aufmarsch von SS und SA tat ein Übriges. Drei Jahre nach Ende des NS-Regimes schrieb der ehemalige SPD-Abgeordnete Fritz Baade: „Ich entsinne mich, daß Abgeordnete der Zentrumsfraktion (…) nach der Abstimmung weinend zu mir kamen und sagten, sie seien überzeugt gewesen, dass sie ermordet worden wären, wenn sie nicht für das Ermächtigungsgesetz gestimmt hätten.“

Vier Monate nach Verabschiedung des Gesetzes gab es in Deutschland nur noch eine Partei, die NSDAP.

Otto Wels wurde im August 1933 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Erst emigrierte er nach Prag, 1938 nach Paris, wo er ein Jahr später starb.

24 SPD-Abgeordnete wurden für ihr Nein zum Ermächtigungsgesetz Opfer des NS-Regimes.